Kapitel 3-1

2098 Worte
3 Nora Ich wache mit hämmernden Kopfschmerzen und einem flauen Magen auf. Es ist dunkel, und ich kann nichts sehen. Einen Augenblick lang kann ich mich nicht an das erinnern, was passiert ist. Habe ich auf der Party zu viel getrunken? Dann bekomme ich einen klaren Kopf, und die Ereignisse der letzten Nacht brechen hervor. Ich erinnere mich an den Kuss und dann … Jake! Oh Gott, was ist mit Jake passiert? Was ist mit mir passiert? Ich habe solche Angst, dass ich einfach nur zitternd daliege. Ich liege auf etwas Bequemem. Ein Bett mit einer guten Matratze höchstwahrscheinlich. Ich liege unter einer Decke, aber ich kann keine Anziehsachen auf meinem Körper fühlen, nur die Weichheit der Baumwolllaken auf meiner Haut. Ich berühre mich und merke, dass ich recht habe: Ich bin völlig nackt. Mein Zittern verschlimmert sich. Mit einer Hand untersuche ich mich zwischen den Beinen. Zu meiner großen Erleichterung fühlt sich alles wie immer an. Keine Nässe, kein Wundsein, kein Zeichen dafür, dass ich vergewaltigt worden bin. Zumindest bis jetzt nicht. Tränen brennen in meinen Augen, aber ich lasse sie nicht heraus. Heulen würde in dieser Situation auch nicht helfen. Ich muss herausfinden, was vor sich geht. Wollen sie mich umbringen? Mich vergewaltigen? Mich vergewaltigen und danach umbringen? Wenn sie auf ein Lösegeld aus sind, dann bin ich so gut wie tot. Nachdem mein Vater während der Rezession entlassen wurde, können meine Eltern kaum ihre Hypothek zahlen. Ich kann unter Anstrengung verhindern, hysterisch zu werden. Ich will nicht anfangen zu schreien. Das würde ihre Aufmerksamkeit auf mich lenken. Stattdessen liege ich hier in der Dunkelheit, und mir kommen alle grauenhaften Geschichten in den Kopf, die ich jemals in den Nachrichten gesehen habe. Ich denke an Jake und sein warmes Lächeln. Ich denke an meine Eltern und daran, wie am Boden zerstört sie sein werden, wenn ihnen die Polizei mitteilt, dass ich verschwunden bin. Ich denke an meine ganzen Pläne und daran, wahrscheinlich nie wieder die Möglichkeit zu bekommen, eine richtige Universität zu besuchen. Und ich beginne, wütend zu werden. Warum tun sie das? Wer sind sie überhaupt? Ich nehme an, es handelt sich um »sie« anstatt um »ihn«, da ich mich daran erinnere, eine dunkle Gestalt über Jake gebeugt gesehen zu haben. Eine weitere Person muss mich von hinten gepackt haben. Die Wut hilft mir dabei, meine Panik zu kontrollieren. Ich bin in der Lage, wieder ein wenig zu denken. Ich kann in der Dunkelheit immer noch nichts sehen, aber ich kann fühlen. Ich bewege mich leise und beginne vorsichtig, meine Umgebung zu erkunden. Zuerst stelle ich fest, wirklich in einem Bett zu liegen. Ein großes Bett, wahrscheinlich Kingsize. Es gibt Kissen und eine Decke, und die Laken sind weich und fühlen sich angenehm an. Wahrscheinlich teuer. Das macht mir irgendwie noch mehr Angst. Das sind Kriminelle mit Geld. Ich krieche an das Ende des Bettes, setze mich hin und halte die Decke fest an mich gepresst. Meine nackten Füße berühren den Boden. Er fühlt sich glatt und kalt an, wie Hartholz. Ich wickele die Decke um mich und stehe auf, bereit, mich weiter umzuschauen. In diesem Moment höre ich, wie sich die Tür öffnet. Ein sanftes Licht geht an. Auch wenn es nicht grell ist, kann ich einen Augenblick lang nichts erkennen. Ich blinzele einige Male, damit sich meine Augen an die Helligkeit gewöhnen können. Und dann sehe ich ihn. Julian. Wie ein dunkler Engel steht er im Türrahmen. Sein Haar wellt sich leicht um sein Gesicht und lässt die harte Perfektion seiner Gesichtszüge weicher erscheinen. Seine Augen fixieren mein Gesicht, und seine Lippen sind zu einem leichten Lächeln verzogen. Er ist umwerfend. Und unglaublich angsteinflößend. Meine Instinkte hatten recht gehabt – dieser Mann ist zu allem fähig. »Hallo Nora«, sagt er leise und betritt den Raum. Ich blicke mich verzweifelt um. Ich sehe nichts, was mir als Waffe dienen könnte. Mein Mund ist so trocken wie die Wüste. Ich kann nicht mal genug Spucke zusammenbekommen, um zu reden. Also sehe ich ihm einfach dabei zu, wie er auf mich zukommt, so wie ein hungriger Tiger, der sich seiner Beute nähert. Ich werde kämpfen, wenn er mich berührt. Er kommt näher, und ich mache einen Schritt zurück. Dann noch einen und noch einen. Das Laken ist weiterhin um mich gewickelt. Er hebt seine Hand, und ich versteife mich, bereite mich darauf vor, mich zu verteidigen. Aber er hält nur eine Flasche Wasser hoch, die er mir anbietet. »Hier«, sagt er. »Ich nehme an, du hast Durst.« Ich blicke ihn an. Ich bin am Verdursten, aber ich möchte nicht noch einmal betäubt werden. Er scheint meine Zurückhaltung zu verstehen. »Keine Angst, mein Kätzchen. Das ist nur Wasser. Ich möchte dich wach und bei Bewusstsein.« Ich weiß nicht, wie ich darauf reagieren soll. Mein Herz hämmert, und mir ist ganz schlecht vor Angst. Er steht einfach nur da und schaut mich geduldig an. Ich halte die Decke mit einer Hand ganz fest, gebe meinem Durst nach und nehme das Wasser von ihm. Meine Hand zittert, und meine Finger berühren ihn, als ich nach der Flasche greife. Eine Hitzewelle überrollt mich, eine befremdliche Reaktion, die ich ignoriere. Jetzt muss ich den Deckel abschrauben. Er beobachtet mein Dilemma mit Interesse und einiger Belustigung. Zum Glück berührt er mich nicht. Er steht etwa einen halben Meter von mir entfernt und betrachtet mich einfach nur. Ich halte meine Arme fest gegen meinen Körper gepresst, um die Decke festzuhalten, und schraube den Verschluss auf. Danach halte ich die Decke wieder mit einer Hand fest und setze die Flasche an meine Lippen, um zu trinken. Die kühle Flüssigkeit fühlt sich auf meinen ausgedörrten Lippen und der trockenen Zunge fantastisch an. Ich trinke, bis die ganze Flasche leer ist. Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, an dem Wasser so gut geschmeckt hat. Der trockene Mund muss eine Nebenwirkung der Droge sein, die er benutzt hat, um mich hierherzubringen. Jetzt kann ich wieder reden, also frage ich ihn: »Warum?« Zu meiner großen Überraschung hört sich meine Stimme fast normal an. Er hebt seine Hand und berührt erneut mein Gesicht. Genauso wie in dem Club. Und wieder stehe ich hilflos da und lasse ihn machen. Seine Finger fahren behutsam über meine Haut, fast zärtlich. Das steht in einem so starken Gegensatz zu dieser ganzen Situation, dass ich einen Moment lang verwirrt bin. »Weil ich es nicht mochte, dich mit ihm zu sehen«, antwortet Julian, und ich kann die kaum unterdrückte Wut in seiner Stimme hören. »Weil er dich berührt hat, dich angefasst hat.« Ich kann kaum denken. »Wer?«, flüstere ich und versuche herauszubekommen, wovon er redet. Und dann verstehe ich. »Jake?« »Ja, Nora«, sagt er düster. »Jake.« »Ist er …« Ich weiß nicht einmal, ob ich es überhaupt laut aussprechen kann. »Ist er … am Leben?« »Momentan ja«, erwidert Julian, und seine Augen brennen sich in meine. »Er ist mit einer leichten Gehirnerschütterung im Krankenhaus.« Ich bin so erleichtert, dass ich gegen die Wand sacke. Und dann wird mir die ganze Bedeutung seiner Worte bewusst. »Was meinst du mit ›momentan‹?« Julian zuckt mit seinen Schultern. »Seine Gesundheit und sein Wohlbefinden hängen einzig und allein von dir ab.« Ich schlucke um meinen immer noch trockenen Hals zu befeuchten. »Von mir?« Seine Finger liebkosen wieder mein Gesicht und streichen mein Haar hinter mein Ohr. Mir ist so kalt, dass es sich anfühlt, als würde seine Berührung meine Haut verbrennen. »Ja, mein Kätzchen, von dir. Wenn du brav bist, wird es ihm gut gehen. Wenn nicht …« Ich kann kaum einatmen. »Wenn nicht?« Julian lächelt. »Wird er innerhalb einer Woche tot sein.« Sein Lächeln ist das Schönste und das Angsteinflößendste, was ich jemals gesehen habe. »Wer bist du?«, flüstere ich. »Was willst du von mir?« Er antwortet nicht. Stattdessen berührt er mein Haar, führt eine dicke braune Strähne zu seinem Gesicht. Er atmet ein, so als würde er daran riechen. Ich beobachte ihn wie versteinert. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Sollte ich jetzt gegen ihn kämpfen? Und wenn ja, was würde das bringen? Er hat mir bis jetzt nicht wehgetan, also möchte ich ihn nicht provozieren. Er ist viel größer als ich, viel stärker. Ich kann den Umfang seiner Muskeln unter seinem schwarzen T-Shirt sehen. Ohne meine Absatzschuhe reiche ich ihm kaum bis zu den Schultern. Während ich darüber nachdenke, ob es sich lohnt, gegen jemanden zu kämpfen, der bestimmt fünfzig Kilo schwerer ist als ich, trifft er die Entscheidung. Seine Hand verlässt meinen Kopf und zieht an der Decke, die ich so fest an mich gepresst halte. Ich lasse nicht los. Wenn überhaupt, greife ich sie fester. Und ich mache etwas Peinliches. Ich bettele. »Bitte«, sage ich verzweifelt, »bitte mach das nicht.« Er lächelt wieder. »Warum nicht?« Seine Hand zieht weiterhin an der Decke, langsam und unerbittlich. Ich weiß, er macht das nur deswegen, um die Qualen zu verlängern. Er könnte leicht mit einem starken Ruck die ganze Decke von mir wegreißen. »Ich möchte das nicht«, erkläre ich ihm. Ich kann wegen der Enge meines Brustkorbs kaum genug Luft einatmen, und meine Stimme klingt unerwartet gehaucht. Er sieht belustigt aus, aber da ist ein düsterer Schimmer in seinen Augen. »Nein? Denkst du, ich konnte deine Reaktion auf mich im Club nicht spüren?« Ich schüttele meinen Kopf. »Es gab keine Reaktion. Du täuschst dich …« Meine Stimme ist wegen der unvergossenen Tränen ganz belegt. »Ich möchte nur Jake …« Sofort legt sich seine Hand um meinen Hals. Er macht nichts weiter, er drückt nicht, aber die Drohung ist da. Ich kann die Gewalt in ihm fühlen, und ich bekomme Panik. Er beugt sich zu mir. »Du willst diesen Jungen nicht«, erwidert er scharf. »Er kann dir niemals das geben, was ich dir geben kann. Verstehst du mich?« Ich nicke, zu verängstigt, um etwas anderes zu tun. Er lässt meinen Hals los. »Gut«, fährt er danach mit einem weicheren Ton fort. »Jetzt lass die Decke los. Ich möchte dich wieder nackt sehen.« Wieder? Also muss er derjenige gewesen sein, der mich ausgezogen hat. Ich versuche, mich noch enger an die Wand zu drücken. Und lasse die Decke immer noch nicht los. Er seufzt. Zwei Sekunden später liegt sie auf dem Boden. Wie ich vermutet hatte, bin ich chancenlos, wenn er seine volle Kraft einsetzt. Ich widersetze mich auf die einzige Art und Weise, die ich kann. Anstatt dazustehen und ihn meinen nackten Körper betrachten zu lassen, lasse ich mich an der Wand hinuntergleiten, bis ich auf dem Boden sitze, und ziehe meine Knie an die Brust. Meine Arme umschlingen meine Beine, und so sitze ich da, am ganzen Körper zitternd. Mein langes, dickes Haar fällt über meinen Rücken und meine Arme, weshalb ich teilweise bedeckt bin. Ich verstecke mein Gesicht hinter meinen Knien. Ich habe Angst vor dem, was er jetzt mit mir machen wird, und die Tränen, die in meinen Augen brennen, entwischen mir schließlich, laufen mir über die Wangen. »Nora«, sagte er und hat dabei eine harte Note in seiner Stimme. »Steh auf. Steh sofort auf.« Ich schüttele den Kopf und schaue ihn weiterhin an. »Nora, das kann schön für dich sein, oder auch schmerzhaft. Das liegt wirklich an dir.« Schön? Ist er verrückt? Jetzt bebt durch mein Schluchzen schon mein ganzer Körper. »Nora«, versucht er es noch einmal, und ich kann die Ungeduld aus seiner Stimme heraushören. »Du hast genau fünf Sekunden Zeit, das zu tun, was ich dir sage.« Er wartet, und ich kann fast hören, wie er in seinem Kopf zählt. Ich zähle auch, und als ich bei vier bin, laufen immer noch Tränen über mein Gesicht. Ich schäme mich für meine Feigheit, aber ich habe solche Angst vor Schmerzen. Ich möchte nicht, dass er mir wehtut. Ich möchte eigentlich überhaupt nicht, dass er mich anfasst, aber das scheint keine Option zu sein. »Feines Mädchen«, sagt er sanft und berührt erneut mein Gesicht, streicht meine Haare hinter die Schultern. Ich zittere bei seiner Berührung. Ich kann ihn nicht ansehen, also halte ich meinen Blick gesenkt. Doch offensichtlich möchte er das nicht, denn er drückt mein Kinn nach oben, bis mir nichts anderes übrig bleibt, als seinen Blick zu erwidern. Seine Augen sehen in diesem Licht dunkelblau aus. Er ist so nahe bei mir, dass ich die Hitze spüren kann, die sein Körper ausstrahlt. Es fühlt sich gut an, da mir kalt ist. Ich bin nackt und ich friere. Plötzlich greift er nach mir, beugt sich nach unten. Bevor ich Angst bekommen kann, legt er einen Arm um meinen Rücken und den anderen unter meine Knie. Dann hebt er mich ohne Anstrengungen hoch und trägt mich zum Bett.
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