Ihre Gedanken wanderten zu dem Schützenden Herzkristall und den vielen Talisman-Splittern zu denen er geworden war. Wie immer kehrten ihre Tagträume und Albträume zurück zu den Beschützern, um die sie nie gebeten hatte, und zu den gefährlichen Dämonen, die sie mitgebracht hatten.
Sofort erschien das Bild von Hyakuhei, ihrem Feind, in ihrem Kopf. Sie konnte nicht verstehen, wie jemand, der so schön war, gleichzeitig so grausam und gefährlich sein konnte. Kyoko sah wieder einen Blitz am Himmel in der Ferne. Sie hob eine Augenbraue, erinnerte sich selbst daran, dass man Dinge nicht nach ihrem Aussehen beurteilen sollte.
Schön oder nicht… ebenso wie ein Blitz war Hyakuhei sehr gefährlich. Sie wusste, dass Hyakuhei immer stärker wurde, je mehr Stücke des zerbrochenen Talismans er sammelte… obwohl er schon von Beginn an sehr mächtig gewesen war. Er hatte schon die Fähigkeit, die schwächeren, niedrigeren Dämonen in sich aufzunehmen und sich von ihrer dunklen Macht zu nähren. Er konnte diese Macht auch mit verheerender Wirkung nutzen, wenn die Zeit reif war… zum Beispiel in einer Schlacht.
Doch wenn er ohnehin schon so mächtig war… wieso kümmerte er sich überhaupt um den Schützenden Herzkristall? Was könnte er gewinnen, wenn er den Talisman versammelt hatte? Meinte er wirklich, er würde alles haben können, was er sich nur wünschte, wenn der Kristall wieder vollständig und in seinem Besitz war? Wiederum führten diese Fragen nur zu weiteren Fragen und Geheimnissen, die nicht erzählt werden sollten.
Kyoko schaute in die steinernen Augen der Jungfer, fragte sich, welche Geheimnisse sie verbarg. Langsam hob sie ihre Hand und berührte die Wange der Statue, dann fragte sie: „Hyakuhei scheint auch ohne die Hilfe des Talismans unbesiegbar, also warum will er ihn finden?“ Stille antwortete ihr.
Als ihr klar wurde, dass sie wieder einmal mit einem Marmorblock sprach, presste Kyoko ihre Lippen aufeinander, damit ihre Gedanken in ihrem Kopf bleiben würden. „Oh Mann, ich brauche wirklich Freunde“, murmelte sie. Sie senkte ihre Hand und drehte sich wieder um zu dem Schrein, der sie zwischen den Welten hin und her transportierte.
Als sie ihren Gedanken von vorhin wieder aufnahm, biss sie sich auf die Unterlippe, als sie sich den Feind bildhaft vorstellte. Wenn Hyakuhei mehr der zerbrochenen Talismane bekam, würde er noch gefährlicher werden. Wenn er jemals alle Bruchstücke haben sollte, dann würde er die Barriere zwischen der Menschen- und der Dämonenwelt durchbrechen können. Das war die wahre Antwort auf ihre Frage.
Wenn das geschah, würde keine der Welten es schaffen, seine tödliche Besessenheit mit der Macht der Finsternis aufzuhalten. „Ich werde das nicht zulassen, das weißt du.“ Ihre Schultern sackten unter dem Gewicht dieses Versprechens ab.
In ihrem Kopf tauchte wieder der Traum auf, den sie vor weniger als einer Stunde gehabt hatte… derselbe Traum, der sie schweißgebadet hatte aufwachen lassen. Die Geräusche und Gefühle des Traums waren so echt gewesen, dass sie hätte schwören wollen, dass sie wirklich dort gewesen war. Es war, als würde sie alles gleichzeitig sehen und fühlen.
„Aber das ist unmöglich… nicht wahr?“ Sie schielte wieder zurück zu der Statue, als die Erinnerungen an den Traum sie wieder heimsuchten. Hyakuhei hatte sie in diesem Traum gefangen und obwohl sie gegen ihn gekämpft hatte… hatte sie denn eine reale Chance?
Kyoko blinzelte, hoffte, dass die Erinnerung an den Traum verschwinden würde. Sie wollte die Angst nicht fühlen müssen, die die Vision aus ihrem Albtraum begleitete. Als sie die Jungfer betrachtete, die sie anstarrte, wurde ihr klar: Egal, ob es in der Vergangenheit wirklich geschehen war, oder ob es nur die Erinnerung an einen Albtraum war… es war trotzdem eine echte Erinnerung.
Sie fühlte, wie die Bilder in ihr wieder zum Leben erwachten, sodass sie sich vorkam wie ein Reh, das von Scheinwerfern geblendet war. Ihre Augen schlossen sich, als würde das Schicksal von ihr verlangen, dass sie sich an alles erinnerte… auch an die Gedanken des Feindes. Diesmal waren die Visionen nicht dieselben wie letztes Mal.
In dem Traum war sie durch das Herz der Zeit gekommen. Doch statt der Beschützer, die dort auf sie hätten warten sollen, war ihr Feind dagewesen… Hyakuhei. Als sie sich umdrehte, um auf dem Weg zu fliehen, auf dem sie gekommen war, hatte er die Hand ausgestreckt und ihre Handgelenke mit eisernem Griff festgehalten, um ihre Flucht aufzuhalten. Wie sehr sie sich auch gegen ihn wehrte, es schien, als würde sie ihm immer näher kommen, je weiter sie von ihm weg wollte.
Er streckte seine andere Hand aus und packte ihr Kinn, hob ihren verängstigten Blick zu seinem Gesicht und in dem Moment, als sich ihre Blicke trafen, hörte sie auf, sich zu wehren. Statt der kalten, schwarzen Augen des Feindes blickte sie in warme, braune Augen.
„Willkommen zurück“, flüsterte Hyakuhei leise, als seine Lippen sich auf ihre senkten.
Kyoko kniff sich selbst so fest, dass ihr Tagtraum plötzlich abbrach, als hätte jemand den Stecker herausgezogen. Wollten die Tagträume und die Albträume sie vor einem bestimmten Schicksal warnen, oder war es schon geschehen und sie wurde an ihren Fehler erinnert? Wie dem auch sei, sie hoffte, dass das nächste Mal, wenn sie schlief… es ein traumloser Schlaf sein würde.
„Hyakuhei küssen…“ Sie stemmte ihre Hände in ihre Hüften, als wollte sie sich selbst eine Standpauke halten. „Was, um alles in der Welt, bildest du dir da nur ein, Mädchen?“ Sie fühlte sich schon wie eine Verräterin, nur weil sie die Worte laut ausgesprochen hatte. „Das… das wäre fast so schlimm, wie Kyou zu küssen, verdammt!“ Sie grinste über den Vergleich, obwohl er nicht lustig war.
„Schlafmangel kann solche Auswirkungen haben“, murmelte sie, immer noch erschrocken über sich selbst. „Er kann auch dazu führen, dass man ganze Unterhaltungen mit sich selbst führt.“ Schließlich seufzte sie ergeben: „Ich brauche Urlaub.“
Doch trotz ihrer lautstarken Beschwerden erschien plötzlich ein Bild davon, wie sie Kyou küsste, in ihrem Kopf und wollte nicht mehr weggehen. Hitze durchströmte sie von Kopf bis Fuß. Sie fragte sich, woher diese Gedanken nur kamen. Das Bild war aus dem Nichts gekommen und es kostete sie körperliche Anstrengung, es zurückzudrängen.
Mit einem sichtlichen Zittern wanderte Kyokos Geist zurück zu den fünf Brüdern, deren Schicksal es war, in dieser gefährlichen Welt ihre Beschützer zu sein… oder zumindest behaupteten sie das. Ihre Gedanken konzentrierten sich einen Moment lang auf Kyou, dem ältesten und mächtigsten der fünf Brüder. Kyou präsentierte sich selbst als ebenso gefährlich und nervenaufreibend wie sein böser Onkel, Hyakuhei.
Für jeden, auch für seine Brüder, war Kyou ein Rätsel. Unter der Schönheit eines Erzengels verbarg er die Macht, dabei zu helfen, diese dämonenverseuchte Welt zu zerstören oder zu heilen. Doch sie konnte aus seinem kalten Auftreten schließen, dass es Kyou egal war, was geschehen würde. Es war, als hätte er beschlossen, dass sein böser Onkel nicht sein Problem war.
Sie war eigentlich froh, dass Kyou nicht mit der Gruppe reiste, sondern alleine blieb. Kyoko hatte ihn nur ein paarmal gesehen, seit sie unabsichtlich zu deren Priesterin geworden war, und meistens hatte sie ihn nur aus der Ferne gesehen… diese Treffen waren schon beunruhigend genug gewesen.
Sie wusste immer noch nicht viel über Kyou, aber fragte sich manchmal, ob er dachte, dass er zu gut war, um sich in die Gesellschaft seiner Brüder zu begeben… oder war sie es, der er, koste es, was es wolle, entgehen wollte?
Kyoko hob eine Augenbraue und begann wieder laut zu denken: „Nun, es ist sowieso besser so, denn alles, was er und Toya machen, wenn sie in Sichtweite voneinander sind, ist streiten… und all seine anderen Brüder ignoriert Kyou einfach.“ Sie seufzte schwer. Er schien sauer auf sie zu sein, weil sie die Priesterin war, die er beschützen sollte.
„Es ist ja nicht so, als bräuchte ich seine Hilfe.“ Ihre Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Bei ihrem ersten Treffen hatte Kyou sie mit schmalen Augen angesehen und festgestellt, dass sie nichts als ein schwacher Mensch war, der seines Schutzes nicht würdig war. Direkt davor war er noch furchterregender gewesen.
Als sie zum ersten Mal unabsichtlich in ihre Welt gekommen war… hatten Kyou und Toya versucht, sie umzubringen, weil sie dachten, dass sie mithilfe ihres Onkels durch das Herz der Zeit gereist war. Es war der Schützende Herzkristall gewesen, der sie vor dem Angriff beschützt hatte, und so hatte das ganze Chaos eigentlich begonnen.
Irgendwie war der Schützende Herzkristall zerbrochen, während er sie vor den Brüdern beschützt hatte, und die Bruchteile hatten sich in alle Richtungen verstreut… wodurch die Dämonen in der Welt zu zerstörerischer Regsamkeit erwacht waren. Wenn die Dämonen, die in dieser Welt lebten, genug der Bruchstücke sammelten, dann konnten sie die Macht erlangen, in die Menschenwelt zu gehen und sie ins Chaos zu stürzen.
Sie und die Beschützer würden genug der Talismane finden müssen, ehe die Dämonen es taten, sonst wäre alles verloren.
Seither hatten die fünf Beschützerbrüder erkannt, dass sie die wahre Priesterin des Schützenden Herzkristalls war und daher… unter ihrem Schutz stand. Kyou war der einzige der Beschützer, der sich von ihr fernhielt. Die wenigen Male, wo sie einander getroffen hatten, hatte sie eher den Eindruck gehabt, dass er mehr ein Feind war, und kein Verbündeter. Seine goldenen Augen wirkten so kalt und hart, wenn sie sie ansahen… als würde er sie lieber zerstören wollen.
Toya hatte ihr einmal erzählt, dass er dachte, Menschen wären unter seinem Niveau. Und das war noch milde gesagt. Nach Toyas Worten war Kyou ein selbstsüchtiges, verlogenes Arschloch, das nicht einmal dann ein Herz entwickeln würde, wenn sein Leben davon abhängen würde. Kyoko erinnerte sich manchmal daran und musste darüber immer grinsen. Irgendwie passte das überhebliche Gehabe sehr gut zu Kyou.
„Es steht ihm definitiv gut“, sagte sie laut.
Die anderen vier Beschützerbrüder hatten sie gerne in Schutz genommen, während sie nach den Talismanen suchten, bevor die Dämonen in dieser Welt sie einsammeln und ihre Macht zum Angriff nutzen konnten.
Toya hatte sich selbst zu ihrem engsten Leibwächter ernannt. Er hatte diese Nähe damit begründet, dass sie doch erst dieses Chaos begonnen hatte, nachdem sie den Kristall in diese Welt gebracht hatte. Andererseits hätte sie natürlich auch argumentieren können, dass, wenn er und Kyou sie nicht angegriffen hätten, als sie sie zum ersten Mal gesehen hatten, er erst gar nicht zerbrochen wäre. Aber es wäre sinnlos gewesen, etwas zu sagen… Toyas Temperament bereitete ihr immer Kopfschmerzen und nervte unheimlich.
Er benahm sich immer noch so, als wäre sie nur eine Nervensäge, aber manchmal bekam sie auch das Gefühl, dass er sie ein wenig liebte. Er hatte nur beschlossen, seine Gefühle hinter diesem aufbrausenden Temperament zu verstecken, mit dem er ihr oft den letzten Nerv rauben konnte. Sie wünschte sich oft, dass er ein wenig mehr Geduld aufbringen könnte, vielleicht hätte er dann ein bisschen einen besseren Zugang zu der ganzen Sache.
Sie lächelte leise, als sie an ihn dachte. Für sie… war Toya langsam zu einem besten Freund geworden, vielleicht sogar ein wenig mehr. Kyoko konnte fühlen, wie sich ihre Wangen leicht röteten. Toya hatte ihr Leben mehrmals gerettet, seit dem Tag, an dem er versucht hatte, sie umzubringen.
Sie hatten eine starke Verbindung entwickelt und obwohl sie und Toya immer noch oft stritten, glich diese Verbindung einer tiefgehenden Liebe. Es war, als wüsste der Kristall von den Gefühlen, die sie füreinander empfanden, denn irgendwie hatte er entschieden, dass Toya der einzige sein sollte, der ihr zurück in ihre eigene Welt folgen konnte, während die anderen Beschützer nicht durch das Herz der Zeit reisen konnten. Das hatte zu einigen recht lustigen Diskussionen zwischen den Geschwistern geführt. Kyoko war sicher, dass sie das absichtlich machten, um sie zum Lachen zu bringen.
Die anderen drei Brüder, Shinbe, Kamui und Kotaro trug sie auch sicher in ihrem Herzen. Kyokos Lippen hoben sich zu einem glücklichen Lächeln, dann kam sie zurück in die Realität. Hier stand sie ganz alleine mitten in der Nacht in einem Land, wo Dämonen frei herumliefen. Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht dringend zu einem Irrenarzt gehen sollte.