Kapitel 1 „Federn der Nacht”-3

1172 Worte
‚Vielleicht sollte ich irgendwo in einer Gummizelle eingesperrt werden‘, dachte sie sarkastisch. Nachdem sie die Beschützer noch nicht stören wollte, packte Kyoko eine Handvoll Efeu und kletterte daran empor, um auf einem der weißen Felsblöcke zu sitzen. Nur weil sie nicht schlafen konnte, bedeutete das noch nicht, dass sie sie aufwecken musste. Es war zu spät und doch noch viel zu früh. Sie saß einfach nur da, schaute hoch in den Nachthimmel und genoss den Anblick der Blitze, die nicht näherzukommen schienen. Kyokos Finger krochen zu dem kleinen Beutel, den sie um ihren Hals trug, wo einige der Talismane, die sie bisher gesammelt hatten, sicher aufbewahrt wurden. Sie bemerkte nicht, dass, als sie das weiche Leder berührte, ein schwaches, fluoreszierend blaues Licht davon ausstrahlte und die Richtung der kühlen Brise sich schnell änderte. ***** In der Nähe legte Kyou seinen Kopf zur Seite, als ein schmutziger Geruch mit der Brise des nahenden Gewitters an seine Nase kam. Hyakuhei war nicht weit. Seine goldenen Augen wurden schmal, als der Wind drehte und nun vom Herzen der Zeit wehte. Der Geruch… er knirschte mit den Zähnen… der Geruch von der Priesterin und der Macht des Schützenden Herzkristalls. Seine Fäuste ballten sich an seinen Seiten, als Wut sich in seinem Gesicht zeigte und ein leises Knurren die Stille des umgebenden Waldes durchbrach. Sie war alleine und schutzlos. Wie konnte sie es wagen, zu dieser gefährlichen Stunde alleine beim Schrein zu sein! Wieso waren seine Brüder nicht bei ihr? Kyou atmete den Geruch des Menschenkindes, das mit seinen Brüdern reiste, tief ein. Vor seinem inneren Auge konnte er das Bild der Priesterin sehen, zu deren Beschützer er und seine Brüder geworden waren. Nussbraunes Haar… atemberaubende, smaragdgrüne Augen, es war, als wäre die Schönheit der Jungfernstatue zum Leben erwacht. Sie hätte nie mit dem Schützenden Herzkristall in diese Welt kommen sollen. Weder sie, noch der Kristall gehörten hierher. Wenn er gekonnt hätte, hätte er sie durch das Portal zurückgeschickt und dann die Statue zerstört, aber das zu machen hätte die Schändung der Barriere bedeutet, die sein Vater Tadamichi geschützt hatte. Trotz seines innerlichen Wunsches war diese Option wohl ausgeschlossen. Die gefährliche Macht, die sein Onkel immer noch dazugewann, war ihre Schuld. Hatte sie nicht gewusst, was geschehen würde? Wenn sie die wahre Priesterin war, dann hätte sie doch wissen sollen, dass sie sich von dieser Dämonenwelt fernhalten sollte. Sein Vater war gestorben, weil er das Zeitportal verschlossen hatte, und diese kleine Menschenfrau hatte alles zerstört, wofür er sein Leben geopfert hatte. Es war alles umsonst gewesen. Tadamichi wollte, dass er die Menschen beschützte… alle Menschen. Aber warum? Wieso sollte er jetzt genau den Menschen schützen, der dumm genug gewesen war, das Portal zwischen den Welten zu öffnen? Wieso hatte Tadamichi das als so wichtig empfunden, dass er sein Leben dafür aufgegeben hatte? Kyou hatte versucht, sie zu verängstigen, damit sie schreiend zurück in ihre Welt flüchtete. Aber zu seinem ungläubigen Staunen… schien sie die einzige Frau zu sein, die ihn nicht länger als ein paar kurze Sekunden fürchtete. Als er sie zum ersten Mal vor nicht allzu langer Zeit getroffen hatte, hatte sie dort gestanden, mit erhobenem Kopf und mit einem Gedankenpfeil auf ihn gezielt, als ob sie, ein einfacher Mensch, gegen ihn kämpfen… und gewinnen könnte. Er hatte geschworen, den Schützenden Herzkristall und das Zeitportal zu beschützen, aber niemals ein kleines Menschenmädchen. Seine Brüder hatten dem vielleicht zugestimmt, aber er nicht. Menschen waren schwache, leichtsinnige Kreaturen, die vor ihm Angst hatten. Wieso musste sie anders sein? Wieso fürchtete sie ihn nicht? Wieso stand sie immer wieder vor ihm, ein Symbol des trotzigen Widerstandes? Kyou sprang von dem Baum, in dem er gesessen hatte, und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. Er konnte sein Herz laut unter seiner Haut pochen fühlen… sein Beschützerblut forderte ihn auf, zu ihr zu gehen. Das geschah jedes Mal, wenn sie in der Nähe war, und das machte ihn nur noch wütender. Sein Instinkt war eine Kraft, die stärker war, als sein Wille. Dass sie keine Angst hatte, machte ihn nur noch neugieriger und in letzter Zeit hatte sie irgendwie seine Gedanken verdreht… und seine Träume. Das war der einzige Grund, weshalb er sich von der Gruppe ferngehalten hatte. Wie konnte es das Mädchen wagen, seine Gedanken so zu beherrschen? Er würde sie lehren, ihn nicht mit ihrer Unverschämtheit und Menschlichkeit zu verzaubern. Sie war für ihn nichts, außer die Priesterin des Kristalls… sie hatte in seiner Reichweite nichts verloren. Kyous Körper spannte sich an, als er fühlte, wie sich das Verhältnis zwischen Gut und Böse in der Nähe der ahnungslosen Priesterin verschob. Sein Gesichtsausdruck war ruhig… die Ruhe vor dem Sturm. Sein silbernes Haar wehte in der leichten Brise, als seine Sinne die Gefahr aufnahmen, in der sie schwebte. ***** Hyakuhei legte seinen Kopf zur Seite, ließ das Gewitter, das er erzeugt hatte, um sich toben. Der Wind wirbelte, riss an seiner Kleidung und peitschte sein nachtschwarzes Haar um sein schönes Gesicht. Seine rubinroten Augen öffneten sich, als der Wind einen Geruch zu seiner Nase wehte, der nicht vom Regen oder vom Himmel kam. Ein euphorischer Ausdruck erhellte seine Gesichtszüge und er drückte seine ebenholzschwarzen Flügel mit einem mächtigen Schlag nach unten, um an Höhe zu gewinnen. Sein Blick wanderte in die Richtung des Herzens der Zeit, während ein gemeines Lächeln sich langsam auf seinen Lippen ausbreitete. Sie war hier… die Priesterin, die ihn so quälte. „Ach, Priesterin, also bist du alleine und schutzlos“, flüsterte er. „Warte auf mich, meine Hübsche… ich komme zu dir.“ Dämonen ergossen sich aus Hyakuheis Körper, als er sie freiließ, um seinen Befehlen zu gehorchen. Ein besessenes Lächeln entkam seinen weichen Lippen und seine Augen waren groß, leuchteten mit einem Licht, das an Wahnsinn grenzte. Der Himmel wurde schwarz, als seine Sklaven sich auf die Jungfernstatue und das Objekt der Reinheit in ihrem Garten zubewegten. ***** Niedrige Dämonen wurden schon von ihr und dem Geruch der Macht, den sie ausstrahlte, angezogen. Sie waren nur Drohnen, die geschickt worden waren, um ihre Flucht zu verhindern, und Kyou konnte die Anwesenheit seines Onkels nicht weit hinter sich fühlen. Hyakuhei hatte die schutzlose Priesterin entdeckt und kam, um sie zu holen. Er würde nicht zulassen, dass Hyakuhei sie bekam. Kyou schielte nach oben, als ein Schatten durch das Mondlicht flog, deren Ankunft anzeigte. Alle Geräusche der Nacht waren verstummt, als durchsichtige Flügel hinter Kyou erschienen und goldene Federn durch die Lichtung flatterten, auf der er stand. Sein langes, silbernes Haar wehte im Wind, als er sich auf den Kampf vorbereitete, der kommen sollte. „So soll es sein.“ Die Worte verließen seine Lippen als Antwort auf seine eigenen quälenden Gedanken. Sie hatte sich wieder einmal in Gefahr begeben und er hatte keine Wahl mehr. Er beschloss, dass, wenn seine Brüder nicht genug auf sie achtgeben wollten, dann würde er ihnen die Priesterin wegnehmen. Wenn das ihre Vorstellung von Schutz war, dann verdienten sie es, dass sie ihnen weggenommen wurde. Aber zuerst… würde er das Böse zerstören, das sie verfolgte.
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