Episode one
Lea
Ich hätte den schwarzen SUV früher bemerken müssen.
Aber ich war zu sehr damit beschäftigt, auf mein Handy zu starren und zuzusehen, wie der Benachrichtigungszähler stieg.
Fünfzig Likes.
Siebzig.
Einhundert.
Die Kommentare strömten herein, schneller als ich sie lesen konnte, eine Mischung aus Glückwünschen und Chaos, die mir gleichzeitig ein warmes und beklemmendes Gefühl in der Brust gab.
Machst du das wirklich??
Königin!
Deine Familie wird ausflippen 😂
OMG, die Hoffmann-Erbin bei „Versuchung im Paradies“?? Das wird ein Chaos!
Die Oktoberluft kitzelte meine Wangen, als ich das RTL-Produktionsgebäude verließ, aber ich spürte es kaum. Meine Finger zitterten noch vor Adrenalin. Drei Stunden Kameras direkt vor meinem Gesicht, Produzenten, die Fragen stellten, die mich zum Ausrasten bringen sollten, andere Mädchen, die mich wie eine Konkurrentin musterten. Und irgendwie hatte ich einen Vertrag für „Versuchung im Paradies“ in der Tasche.
Deutschlands chaotischste und meistgesehene Datingshow.
Die Sendung, die Papa als „Müllfernsehen für Leute ohne Selbstachtung“ bezeichnet hatte.
Ich musste bei dem Gedanken lächeln. Sie würden wütend sein. Petra würde einen Wutanfall bekommen wegen des „Familienimages“. Anna würde so tun, als sei sie besorgt, während sie sich insgeheim freute, dass ich mich blamierte. Und Papa, Papa würde mir wieder drohen, den Kontakt abzubrechen, wie jedes Mal, wenn ich über die Stränge schlug.
Aber in drei Tagen würde ich sowieso mit Alexander Schmidt verheiratet sein. Gefangen in einer lieblosen Vereinbarung, um das Familienunternehmen zu retten. Was machte es schon, wenn ich vorher einen kleinen Skandal verursachte?
Mein Handy vibrierte. Ein Anruf ging ein, und Papas Name blinkte auf dem Display. Ich lehnte ab. Schon wieder. Das waren sieben verpasste Anrufe von ihm, drei von Petra und eine SMS von Anna, die nur lautete: Wo bist du?
Als ob es sie kümmern würde. Anna schrieb nur, wenn sie etwas wollte oder wenn Petra sie zur Schadensbegrenzung schickte.
Der U-Bahn-Eingang war gleich da, das gelbe Schild leuchtete gegen den dunkler werdenden Himmel. Ich musste etwas posten. Meine Follower hatten es verdient, es zuerst von mir zu erfahren, bevor die Klatschblogs es in die Finger bekamen. Promi-Flash und Gala hatten die Familie Hoffmann schon seit Monaten im Visier, immer auf der Suche nach einem Skandal. Das würde ihnen wochenlang Stoff liefern.
Ich blieb an der Ecke stehen, öffnete i********: und schaltete auf Video um. Die Straße hinter mir war ruhig, nur ein paar Leute eilten mit gesenkten Köpfen gegen den Wind von der Arbeit nach Hause. Ich drückte auf Aufnahme.
„Hallo zusammen. Ich habe Neuigkeiten. Große Neuigkeiten.“
Ein Motor brummte in der Nähe. Abgelenkt blickte ich auf und sah einen schwarzen SUV, der einen halben Block weiter im Leerlauf stand.
Ich schaute wieder auf mein Handy. „Ich habe gerade mein Vorsprechen für Versuchung im Paradies beendet. Und … ich habe die Rolle bekommen.“
Der Motor des SUV heulte kurz auf und verstummte dann.
„Ich weiß, das wird einige von euch schockieren. Glaubt mir, mich schockiert es auch.“ Ich zwang mir ein Lächeln ab und versuchte, selbstbewusst statt verängstigt auszusehen. „Aber ich bin bereit für eine Veränderung. Also – drückt mir die Daumen?“ Ich beendete die Aufnahme und postete sie, bevor ich zu viel nachdenken konnte. Kaum war sie online, vibrierte mein Handy vor lauter Kommentaren. Ich scrollte sie durch, und mein Lächeln wurde echt. „Endlich mal was für DICH tun!“ „Deine Familie wird sterben!“ „Moment mal, ist deine Hochzeit nicht in drei Tagen?! Mädel, was ist denn hier los?“ „Genau für Inhalte habe ich mich angemeldet!“ Ich las noch, als ich bemerkte, dass sich der SUV bewegt hatte. Er war jetzt näher, vielleicht zwanzig Meter entfernt, der Motor lief im Leerlauf. Mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. Ich ging zum U-Bahn-Eingang, meine Schritte wurden schneller. Das Klacken meiner Absätze hallte von den Gebäuden wider. Hinter mir hörte ich eine Autotür aufgehen. „Nicht rennen! Rennen lässt dich ängstlich aussehen. Rennen macht dich zur Zielscheibe.“ Aber mein Instinkt schrie. Ich blickte zurück. Ein Mann kam auf mich zu, unsere Blicke trafen sich für einen Sekundenbruchteil, und ich sah nichts. Ich rannte los. Ich schaffte vielleicht zehn Schritte, als mich jemand von hinten packte, einen Arm um meine Taille schlang, den anderen über meinen Mund presste. Ein zweiter Mann, ich hatte ihn gar nicht kommen sehen.
Ich biss ihm fest in die Handfläche. Er grunzte, ließ aber nicht los.
Sie zerrten mich zum SUV. Ich trat zurück, meine Ferse traf jemandes Schienbein. Ein Fluch drang in mein Ohr, aber sie ließen mich nicht los. Die Welt schwankte, als sie mich hochhoben.
Leute sahen zu. Ich konnte sie aus dem Augenwinkel sehen: eine Frau, die mitten im Schritt erstarrt war, einen Mann mit halb erhobenem Handy. Aber niemand rührte sich, um mir zu helfen.
Sie warfen mich in den SUV.
Mein Kopf knallte gegen die gegenüberliegende Tür, Sterne tanzten vor meinen Augen. Bevor ich aufstehen konnte, packte mich jemand am Arm, und ich spürte einen stechenden Schmerz.
Eine Nadel.
„Nein –“ Ich versuchte, mich loszureißen, aber die Droge überschwemmte bereits meinen Körper und ließ meine Glieder wie Wasser erscheinen.
„Pst.“ Jemand strich mir sanft die Haare aus dem Gesicht. „Schlaf jetzt.“
Das Letzte, was ich sah, bevor die Dunkelheit mich verschlang, war mein Handy auf dem Bürgersteig. Der Bildschirm war gesprungen, und mein i********:-Post war noch da.
Die Kommentare trudelten immer noch ein.
*** Kälte.
Das war das Erste, was ich spürte, eine so tiefe Kälte, dass es mir in den Knochen schmerzte.
Das Zweite war Schmerz. Meine Handgelenke brannten, meine Knöchel pochten, und mein Kopf fühlte sich an, als hätte mir jemand mit einem Hammer draufgeschlagen.
Ich zwang meine Augen auf.
Dunkelheit. Fast vollkommen, nur schmale Streifen grauen Lichts drangen durch die Ritzen der vernagelten Fenster hoch über mir. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, zeichneten sich Umrisse aus den Schatten ab.
Eine Lagerhalle.
Ich versuchte mich zu bewegen, aber es ging nicht. Meine Arme waren hinter meinem Rücken gefesselt, meine Handgelenke mit Kabelbindern an einen Metallstuhl gebunden, die sich in meine Haut schnitten. Meine Knöchel waren an den Stuhlbeinen festgebunden. Vorsichtig prüfte ich die Fesseln und kämpfte gegen die Panik an, die mich zu ersticken drohte.
Sie rührten sich nicht.
Wie lange war ich schon bewusstlos? Stunden? Das Licht, das durch die Fenster fiel, sah nach spätem Nachmittag aus, aber ich hatte keine Ahnung, ob es derselbe Tag war. Mittwoch. Mein Vorsprechen war am Mittwoch gewesen. Die Hochzeit war am Samstag.
Drei Tage.
Ich konzentrierte mich auf meine Umgebung und zwang mich, Details zu erfassen, anstatt in Panik zu verfallen. Durch die Ritzen in den Brettern konnte ich Dächer sehen. Industriegebäude, alle gleich hoch, erstreckten sich bis zum Horizont. Keine Wohnhäuser. Irgendwo am Stadtrand.
Ich reckte den Hals, um besser sehen zu können. Dort, in der Ferne, ein Wasserturm, halb von den anderen Gebäuden verdeckt. Verblasste Buchstaben an der Seite: BRAU – Eine Brauerei. Oder in der Nähe einer. Meine Gedanken überschlugen sich. Wenn ich mich nur an die Brauereien in München erinnern könnte, wenn ich nur herausfinden könnte, in welchem Bezirk … Ich hörte Schritte auf Beton, irgendwo hinter mir. Ich ließ den Kopf nach vorn sinken und schloss die Augen, zwang meinen Atem zu beruhigen. Sie sollten denken, ich sei noch bewusstlos. Die Schritte verstummten in der Nähe. Ich roch Zigarettenrauch, darunter teures Parfüm. Nicht die Männer, die mich gepackt hatten, die hatten nach Schweiß und billigem Bier gerochen. Jemand Neues.
„Du kannst aufhören, so zu tun“, sagte eine Stimme mit einem Anflug von Belustigung. „Deine Atmung hat sich verändert, sobald du mich kommen gehört hast.“ Ich hielt die Augen geschlossen. Stille breitete sich zwischen uns aus. Ich spürte seinen Blick auf mir, geduldig wie eine Katze mit einer in die Enge getriebenen Maus. Schließlich öffnete ich die Augen. Er stand knapp außerhalb des schwachen Lichts, seine Gesichtszüge im Schatten verborgen. Ich konnte seine Umrisse erkennen, aber nicht sein Gesicht.
„Hallo, Lea“, sagte er. „Ich denke, es ist an der Zeit, dass wir uns über deine Familie unterhalten.“