Episode four

1163 Worte
Lea Der Mann im Schatten zeigte nie sein Gesicht. Zwei Tage lang kam und ging er wie ein Geist. Ich hörte seine Schritte, roch seinen Zigarettenrauch, erhaschte Blicke auf seine Silhouette vor den vernagelten Fenstern. Aber er trat nie ins Licht. Er ließ mich nie sehen, wer er war. Die anderen Männer, die mich von der Straße gepackt hatten, waren nur Schläger. Sie brachten mir Wasser, altes Brot. „Dein Vater wird bezahlen“, sagte der Mann im Schatten in der ersten Nacht. „Männer wie Klaus Hoffmann bezahlen immer. Der Ruf der Familie ist ihnen mehr wert als Geld.“ Ich hatte ihm glauben wollen. Doch als die Stunden vergingen, mein Körper steif wurde und meine Handgelenke von den Kabelbindern bluteten, kroch der Zweifel wie kaltes Wasser in mir hoch. Papa hatte nicht zurückgerufen. Nicht ein einziges Mal. Jetzt war der dritte Tag, und die Lagerhalle war still, bis auf das tropfende Wasser und meinen eigenen Atem. Der Schattenmann war seit gestern Morgen nicht mehr gekommen. Die anderen auch nicht. Irgendetwas hatte sich verändert. Ich spürte es. Ich testete die Kabelbinder zum hundertsten Mal und ignorierte den brennenden Schmerz. Der rechte hatte sich ein wenig gelockert, gerade so weit, dass ich, wenn ich nur etwas Hebelwirkung erzielen könnte, wenn ich nur etwas Scharfes finden könnte – Die Lagertür wurde aufgerissen und flutete den Raum mit Licht. Drei Männer stürmten herein, aber es waren nicht die, die mich bewacht hatten. „Wo ist es?“, rief einer von ihnen mit einem Akzent, den ich nicht einordnen konnte. „Er sagte, es sei hier!“ „Ich sehe nichts. Nur das Mädchen.“ Sie sahen mich nicht an. Sie durchsuchten die Lagerhalle, warfen Paletten beiseite und traten Kisten um. „Der Boss bringt uns um, wenn wir es nicht finden –“ „Der Boss ist schon tot, du Idiot. Die Polizei hat ihn heute Morgen geschnappt.“ Mir stockte der Atem. Polizei? „Dann rennen wir. Vergessen wir das Mädchen, vergessen wir das Geld, wir –“ Ein Schuss zerriss die Lagerhalle. Ich schrie auf, der Laut entfuhr mir, bevor ich ihn unterdrücken konnte. Die Männer rannten panisch schreiend auseinander. Stille. Ich saß da, zitternd, die Ohren klingelten. Was zum Teufel war gerade passiert? Minuten vergingen. Vielleicht länger. Ich wusste es nicht mehr. Ich drehte mich auf dem Stuhl um und versuchte, mich umzusehen. Da, auf einem Metallregal, lag meine Handtasche. Sie hatten sie einfach dort liegen lassen. Ich sah die Kabelbinder an, dann das Regal. Der Stuhl war aus Metall, am Boden verschraubt. Aber das Regal, es war alt, rostig. Wenn ich nur – Ich verlagerte mein Gewicht zur Seite. Der Stuhl rührte sich nicht. Ich versuchte es erneut, fester, und ignorierte den Schmerz, der durch meine Schultern schoss. Wieder. Wieder. Beim vierten Versuch gab etwas nach. Nicht der Stuhl. Die Schraube, die ihn im Beton verankerte. Ich warf mich noch einmal zur Seite, und der Stuhl kippte. Ich schlug hart auf dem Boden auf, meine Schulter fing den Aufprall ab. Sterne tanzten vor meinen Augen, aber ich hielt nicht an. Ich konnte nicht anhalten. Der Stuhl war noch immer an mir befestigt, aber jetzt konnte ich mich bewegen. Ich schleppte mich Zentimeter für Zentimeter über den Beton, die Metallbeine schabten hinter mir her. Es dauerte zwanzig Minuten, bis ich das Regal erreichte. Die Tasche war außer Reichweite. Ich streckte mich, die Kabelbinder schnitten tiefer in meine Handgelenke. Meine Finger streiften den Lederriemen. So nah. Fast – Ich hakte einen Finger durch den Riemen und riss. Die Tasche fiel herunter, ihr Inhalt ergoss sich auf den Boden. Meine Hände waren immer noch hinter meinem Rücken gefesselt, nutzlos. Aber überall lagen Glassplitter vom Schusswechsel verstreut. Ich manövrierte mich zu dem größten Stück, packte es mit tauben Fingern und begann, den Kabelbinder an meinem rechten Handgelenk durchzusägen. Das Plastik war d**k. Das Glas rutschte immer wieder ab. Meine Finger waren blutverschmiert. Ich konnte nicht sagen, ob es von meinen Handgelenken oder von dem Glassplitter in meiner Handfläche kam. Aber langsam, ganz langsam, begann der Kabelbinder auszufransen. Zehn Minuten später war meine rechte Hand frei. Ich schluchzte erleichtert auf und legte den Arm um mich. Mein Handgelenk war ein einziges Durcheinander aus rohem Fleisch und getrocknetem Blut, aber das war mir egal. Ich griff wieder nach dem Glas und schnitt den linken Kabelbinder durch, dann kümmerte ich mich um meine Knöchel. Als ich endlich aufstand, gaben meine Beine fast nach. Ich hatte so lange gesessen, dass sie verlernt hatten, mich zu tragen. Ich stemmte mich gegen das Regal, atmete schwer und sah mich in der Lagerhalle um. Ich schnappte mir meine Tasche und rannte los. Als ich unsere Straße erreichte, bluteten meine Füße in den Schuhen. Mein ganzer Körper schrie nach Ruhe, aber ich hatte es fast geschafft. Ich drängte mich durch das Tor und stolperte den Weg zur Haustür hinauf. Sie war unverschlossen. Ich stieß die Tür auf und trat in den Flur. „Hallo?“ Meine Stimme klang heiser und gebrochen. „Papa? Irgendjemand?“ Stille. Das Haus wirkte leer. „Hallo?“, rief ich erneut, lauter. Schritte drangen von der Rückseite des Hauses herüber, dann erschien Margit, ihr Gesicht blass und eingefallen. Als sie mich sah, stieß sie einen Schrei aus und presste die Hand an den Mund. „Lea! Oh mein Gott, Lea!“ Sie stürzte auf mich zu, ihre wettergegerbten Hände streckten sich nach mir aus. „Du lebst. Du lebst. Oh, Gott sei Dank.“ „Margit.“ Ich packte ihre Arme, um mich zu fassen. „Wo sind alle? Wo ist Papa?“ Ihr Gesicht verzog sich, und frische Tränen rannen ihr über die Wangen. „Margit, wo ist meine Familie?“ Angst schnürte mir die Kehle zu. „Was ist passiert? Warum ist niemand hier?“ „Sie sind in der Kathedrale“, flüsterte sie. „In der Kathedrale?“ Ich verstand nicht. „Warum sollten sie –“ „Die Hochzeit, Liebling.“ Jetzt weinte sie hemmungslos. „Sie sind alle auf der Hochzeit.“ Die Welt schien sich zu neigen. „Welche Hochzeit?“ Margit sah mich nur an, Tränen strömten über ihr Gesicht. „Margit.“ Meine Stimme klang scharf und verzweifelt. „Welche Hochzeit? Ich bin doch hier. Meine Hochzeit ist – ich bin doch hier!“ „Ich weiß, Liebling. Ich weiß.“ Sie griff nach mir, aber ich wich zurück. „Nein. Nein, das würden sie nicht tun. Sag mir, dass sie nicht –“ Aber ihr Blick sagte alles. „Ich muss gehen.“ Ich drehte mich zur Tür. „Warte!“ Margit packte meinen Arm. „So kannst du nicht gehen. Du bist verletzt, du blutest. Lass mich dich versorgen, dir frische Kleidung geben –“ „Dafür ist keine Zeit.“ „Lass mich wenigstens –“ „Margit.“ Ich riss mich los, meine Stimme todernst. „Wo waren sie?“ „St. Michaels Kathedrale. Aber Lea, bitte –“ Ich rannte schon.
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