„Du hast mich schon verstanden", meint sie und verschränkt die Arme vor der Brust. Offenbar schert sie sich einen Dreck darum, welche Konsequenzen ihr Verhalten mit sich ziehen könnte und das steigert ihre Sympathie ins unermessliche.
Genau wie mein Vater – abgesehen von meinen Augen glücklicherweise die einzigen beiden Gemeinsamkeiten, die wir haben – liebe ich Menschen, die zu ihrer Meinung stehen. Die sich nicht unterkriegen lassen, weder von der Gesellschaft noch von ganz bestimmten Personen. Wenn sie für sich einstehen und für das kämpfen, was sie wollen. Leider stirbt diese seltene Spezies Stück für Stück aus und es bleiben nur noch diese armseligen Mitläufer und eingeschüchterten Weicheier zurück.
Plötzlich dreht sich Mr. Arschloch um und stiert Lydia mit zusammengekniffenen Augen an. „Was willst du damit sagen?"
Sie stößt sich von der Arbeitsplatte ab und kommt einen Schritt auf ihn zu. „Ich will damit sagen, dass du ihr verdammt nochmal nicht ins Gesicht lügen sollst. Du behauptest, dass man auf der Arbeit arbeiten soll, gut, dann mach das auch."
„Ach und das tue ich nicht? Was denkt du bitte mache ich den ganzen Tag über?" Das Messer in seiner rechten Hand gepaart mit den fest zusammengebissenen Zähnen und dem mörderischen Ausdruck in seinen blauen Augen würden normalerweise abschreckend wirken – oder etwas übertrieben, da es sich bloß um die Meinung irgendeiner Mitarbeiterin handelt. All das würde einem anderen, normalen Menschen vermutlich Angst einflößen, den Anschein machen, als könnte er sich jeden Moment auf einen stürzen und das nicht im sexuellen Sinne. Aber aus irgendeinem komischen Grund fürchte ich mich kein bisschen vor ihm. Eventuell, weil ich ihn mit links fertigmachen würde.
Hat er seine Fäuste jemals eingesetzt, um jemanden absichtlich zu verletzten? War er schon einmal in einen richtigen Kampf verwickelt? Weiß er, wie es sich anfühlt jemandem die Nase oder einen anderen Knochen zu brechen? Oder wirkt er nur von außen wie ein starker angsteinflößender Mann, könnte in Wahrheit aber keiner Fliege was zu Leide tun?
Lydia reißt mich wieder aus den Gedanken, indem sie verärgert mit ihrem Lockenkopf wackelt. „Nein, das tust du nicht. Du vergräbst dich in deinem Büro, ziehst dir wahrscheinlich irgendwelche billigen Pornos rein, masturbierst dabei bis Mr. Wood zur dir kommt und ihr dann euer tägliches Kaffeekränzchen abhaltet. Du kommst ja normalerweise noch nicht einmal in die Nähe der Küche!"
Sie spuckt diese Worte aus, als hätte er sie persönlich mit dieser Aktion gekränkt. Prompt frage ich mich, was zwischen den beiden wohl vorgefallen sein mag. Wieso sie sich gegenseitig so schnell und extrem auf die Palme bringen können. Und wie ich es nur schaffen kann die gleiche intensive Reaktion bei ihm hervorzurufen. Als er mir den Kommentar mit meinem Vater an den Kopf geworfen hat, konnte er mir ja noch nicht einmal in die Augen sehen!
Wahrscheinlich hat es ihn nicht interessiert, ob er mir damit wehtut oder mir das Herz aus der verdammten Brust reißt. Er wollte mich einfach nur treffen und das stört mich. Zwar klingt das unlogisch und dumm, doch ich will seine ganze Verärgerung. Ich will, dass er mich mit der exakt gleichen Wut anstarrt, mich grob an den Hüften packt und dann über den nächstbesten Tisch wirft. Er soll mir die Hose vom Leib reißen und dann ganz gründlich das Hirn aus dem Leib vögeln. Mich ohne jegliche Hemmungen nehmen, bis wir stöhnend, fast schon schreiend, zum Höhepunkt kommen.
Blümchensex mit all der Romantik und Zärtlichkeit kommt für mich absolut nicht infrage. Das habe ich als Teenager ausprobiert. Jetzt bin ich eine erwachsene Frau, imstande eigene Entscheidungen zu fällen und mit jedem x-beliebigen Kerl zu schlafen. Allerdings bin ich was das angeht, ziemlich wählerisch. Mein Partner – manchmal sogar zwei zur gleichen Zeit – muss mit voller Hingabe und Leidenschaft dabei sein. Sanfte Küsse auf die Nasenspitze, ineinander verschränkte Hände und gefühlvolles Hinein- und Hinausgleiten sind definitiv nichts für mich. Ich brauche Action, ansonsten schlafe ich noch ein.
Die Nasenflügel von dem Wichtigtuer blähen sich auf, als er seine großen Hände ballt. „Tägliches Kaffeekränzchen? Denkst du etwa, wir machen es uns in meinem Büro gemütlich und fangen an zu quatschen? Dass wir über irgendwelche Mitarbeiter lästern und uns dabei die Nägel lackieren? Dass wir über das Outfit von einem Kollegen herziehen? Denkst du das?"
„Nein, ich dachte eher ihr tauscht euch über den neusten Modetrend aus und flechtet euch dabei Zöpfe", kontert sie sarkastisch und entlockt mir fast ein Lachen. Ihm scheint das jedoch nicht so sehr zu gefallen, da er einen Schritt auf sie zukommt und jetzt direkt vor ihr steht. Auf Augenhöhe mit ihr steht – obwohl sie ihre meterhohen roten High-Heels trägt, wäre sie von ihrer Intelligenz her kilometerweit größer als er. Das glaube ich jedenfalls, denn bei seinem unmöglichen Verhalten kann ich mir nicht vorstellen, dass er überhaupt eine funktionstüchtige Zelle in seinem aufgeblasenem Hirn besitzt.
„Wenn du damit meinst, dass wir uns beraten, ob es sich lohnt einen neuen durch einen alten Geschäftspartner, Lieferanten oder gar Kunden einzutauschen. Ob und in welches innovative Projekt wir Millionen von Dollar investieren sollen oder wieso wir weiterhin in Amerika bleiben und nicht nach Europa expandieren sollen, dann ja. Dann hast du Recht, liebe Lydia. Aber wenn du meinst, dass wir unsere Zeit mit belanglosen Konversationen verschwenden, dass wir uns imaginäre Zöpfe flechten, dann muss ich dich leider enttäuschen. Wir haben eindeutig besseres zu tun, als uns mit solchem Quatsch auseinander zu setzen."
Sein Blick gleitet abfällig über ihr Outfit, dabei gibt es an ihrer schwarzen Bluse und ihrem blauen Bleistiftrock rein gar nichts auszusetzen. Wie jeden Tag sieht sie einfach nur Bombe aus, betont ihre weiblichen Kurven, stellt sie aber nicht wie eine billige Nutte zur Schau. Nein, sie hat immer noch eine gewisse Eleganz, die sie selbst jetzt noch versucht zu wahren.
„Würdest du ausnahmsweise mal arbeiten, statt die ganze Zeit an deinem Handy zu hocken und mit irgendwelchen Tinder-Dates zu chatten, dann wüsstest du auch was es heißt zu arbeiten."
„Ich weiß sehr wohl, was es heißt zu arbeiten, du Idiot."
„Das bezweifle ich", murmelt er und wendet sich tatsächlich zu seiner Arbeitsplatte. Während er seelenruhig am restlichen Inhalt seines Plastikbehälters schnippelt – gesundes Obst, wofür er wahrscheinlich mehrere zwanzig Dollar ausgegeben hat –, starren wir seinen Rücken an.
Obwohl ich momentan nicht in Lydias Gesicht blicken kann, merke ich an ihrer Haltung – vor Anspannung zitternde Oberarme, ihr durchgestreckter Rücken – und ihrer leicht brüchigen Stimme, dass er sie doch getroffen hat. Was vollkommen verständlich ist, schließlich hat sie mir erst letzte Woche von ihrem Berufsleben erzählt. Wie schwer sie es hatte, wie hart sie gearbeitet hat und wie stark ihr Privatleben darunter litt.
„Du denkst, du kennst mich. Du denkst, du hast das Recht über mich zu urteilen, aber da liegst du falsch. Denn du hast keine Ahnung, wer ich bin. Ich bin nämlich so viel mehr, als nur eine Assistentin."
„Schön, dann kannst du dich ja endlich wieder an die Arbeit machen. Zeit ist Geld und du wirfst es gerade sorgenlos aus dem Fenster. Dein wahres Ich kannst du dann nach Feierabend ausleben, wenn es dir so wichtig ist."
„Du bist echt ein Arschloch, Santiago, weißt du das eigentlich?"
Santiago? Was ist das denn für ein Name? Mr. Arschloch hat mir viel besser gefallen...
Statt sich angegriffen zu fühlen, zuckt er lediglich mit den Schultern. Scheinbar hört er diese Beleidigung nicht zum ersten Mal, was beweist, dass er sich nicht nur mir gegenüber so unausstehlich verhält.
Soll mich das jetzt in irgendeiner Art beruhigen?
Lydia verharrt mehrere Sekunden in dieser Position, bis sie nicht sehr damenhaft schnaubt und mit dem Absatz ihres Schuhs auf den gefliesten Fußboden stampft. Das Geräusch hallt in der geräumigen Küche wider, ist aber nicht annähernd so laut wie das Geräusch, als sie aus dem Raum stürmt und die Tür buchstäblich hinter sich zu kracht.
Ihr dramatischer Abgang hat mich perplex zurückgelassen. Sollte ich ihr vielleicht folgen oder sie lieber in Ruhe lassen? Erwartet sie von mir, dass ich sie verteidige oder will sie ihren Stolz wahren und das nächste Mal selbst für sich einstehen? Will sie den Kampf selbst austragen oder hat sie endgültig ihr Schwert abgelegt? Was soll ich bloß tun?
„Wollen Sie ihr nicht hinterherrennen? Das macht man doch so als gute Freundin, oder etwa nicht?"
„Was wissen Sie schon darüber, wie sich eine gute Freundin verhält?", fahre ich ihn an und verschränke die Arme vor der Brust. Schämt er sich denn nicht ein bisschen für das, was er Lydia an den Kopf geworfen hat? Ist das normal hier oder eher normal für ihn? Stößt er jeden von sich weg, um sich selbst zu schützen oder weil er einfach keinen Bock auf Menschen hat?
So oder so geht mir das gewaltig gegen den Strich, weil ich verdammt nochmal nicht sein emotionaler Boxsack bin! Ich bin nicht hier, um seine Launen zu ertragen und still und leise alles über mich ergehen zu lassen. Ich bin hier, um meine Zeit abzusitzen und mit meinem Studium fortzufahren – und um mich endlich von meinem Vater loszureißen.
Nach einem schnaubenden Atemzug stoße ich mich von der Arbeitsplatte ab. „Sie können doch eh nichts anderes, als Ihre dämliche Klappe aufzureißen und einen Bullshit nach dem anderen von sich geben. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, wieso Sie keine Freunde haben oder überhaupt irgendjemanden, der sie mag. Geschweige denn toleriert. Oder aber es liegt daran, dass Sie respektlos und unverschämt sind. Sie sind derart unhöflich, rechthaberisch und eingebildet, dass ich die Leute vollkommen verstehen kann. Mit so einem Kotzbrocken wie Ihnen würde ich auch nichts zu tun haben wollen!"
Erst als er das Messer geräuschvoll auf das rote Schneidebrett schlägt und zu mir herumwirbelt, kommt mir ein Gedanke in den Sinn: Hätte ich lieber die Klappe halten sollen?
Mit großen Schritten marschiert er auf mich zu, hält nicht an, bis er weniger als eine Armlänge von mir entfernt ist. Dabei brodeln seine Augen, nur leider nicht vor Wut, sondern vor Verärgerung und Abscheu. Und wenn ich mich nicht täusche mit einem Hauch von etwas anderem. Etwas, das düster und zugleich... verletzt ist. Ist das denn möglich? Kann es wirklich sein, dass Santiago alias Mr. Arschloch von meinem Kommentar gekränkt ist?
„Es geht Sie einen Scheißdreck an, ob und wie viele Freunde ich habe. Es ist immer noch mein Leben und ich entscheide, wie ich mich verhalte." Er tippt sich fast schon brutal mit den Zeigefinger gegen die Brust, streift mit seinem kühlen Anzug meine verschränkten Arme. Dieser flüchtige Körperkontakt scheint ihn gar nicht aus der Bahn zu bringen, im Gegenteil, es macht ihn nur noch rasender. Von Wort zu Wort verändert sich der Ausdruck in seinen himmelblauen Augen, weicht in etwas, das mir ganz und gar nicht gefällt. Etwas, das viel zu persönlich, viel zu intim ist.
„Ich bin ein erwachsener Mann und keiner hat mir zu sagen, was ich zu tun und zu lassen habe. Wenn ich ein Arschloch sein will, dann bin ich es. Wenn ich mich respektlos benehmen will, dann tue ich es. Und wenn ich Sie feuern will, dann tue ich das genauso. Also hören Sie auf mich so anzusehen und so mit mir zu sprechen. Sie sind nämlich die Letzte, die sich ein Urteil über mich fällen darf. Sie sind bloß eine billige Praktikantin, die keine Ahnung vom Leben hat. Ein Niemand!"
Sobald er den ersten Atemzug nimmt, wird ihm bewusst, was er gerade von sich gegeben hat. Seine Augen weiten sich, sein Körper erstarrt. Noch vor einer Minute meinte er, ich sei eine schlechte Freundin und jetzt bezeichnet er mich als billig und droht mir mit einer Kündigung? Ist das sein Ernst? Will er mich so etwa vergraulen? Oder will er mich einfach nur verletzen?
Wohl oder übel hat er genau das geschafft, was ich natürlich niemals offiziell gestehen werde. Diese Genugtuung gönne ich ihm sicherlich nicht. Lieber springe ich aus dem bodenhohen Fenster rechts von uns und fliege all die zwanzig Stockwerke hinunter. Das würde weniger demütigend sein.
Er öffnet den Mund, doch ich komme ihm zuvor, indem ich meine Hand hebe und mich vor einer weiteren Schimpftirade bewahre. Selbst wenn ich so tue, als hätte er mich nicht getroffen, ertrage ich höchstwahrscheinlich nicht mehr. Nicht von einem Fremden, dessen Nachnamen ich noch nicht einmal kenne. Nicht von einem Arschloch, das mich aus einem nicht erfindlichen Grund aus der Firma haben möchte. Nicht von einem Mann, der mir derart nah ist.
„Ich habe nicht den blassesten Schimmer, was Sie gegen mich haben. Was in Ihrem" viel zu hübschen „Schädel vor sich geht. Wieso sie mich so widerlich behandeln. Ich habe Ihnen nämlich rein gar nichts getan."
Ich schlucke trocken und versuche die Wärme, die sogar durch seinen maßgeschneiderten Anzug dringt, zu ignorieren. Eigentlich versuche ich alles attraktive an ihm – was ziemlich viel ist – auszublenden und nur seinen erbärmlichen Charakter vor mir zu sehen. Der Körper ist in diesem Fall irrelevant, was zählt ist was sich darin befindet und bei ihm ist es alles andere als schön.
„Aber wenn Sie mich wirklich derart hassen, dann lassen Sie mich verdammt nochmal in Ruhe. Gehen Sie mir aus dem Weg und kümmern sich um Ihr eigenes Leben. Machen Sie was immer Sie wollen, nur lassen Sie Ihre pubertären Stimmungsschwankungen nicht mehr an mir aus. Ich habe eindeutig besseres zu tun, als mich mit Ihnen auseinander zu setzen."
Wie zum Beispiel Datenblätter und Excel-Tabellen auszudrucken?
Er rührt sich nicht vom Fleck, starrt mich einfach nur ungläubig an. Was ist sein verfluchtes Problem? Versteht er mich nicht? Erwartet er etwa, dass ich mich wiederhole? Dass ich ihm exakt das Gleiche in seiner Amtssprache aufsage? Das könnte ich sowohl auf Französisch als auch auf Russisch. Idiotisch habe ich leider nicht in meinem Repertoire aufzuweisen.
„Und das meine ich ernst. Ich habe die Nase voll von Ihnen." Ich hebe aufgebracht die Arme und bin kurz davor hysterisch aufzulachen. „Sie können mich nicht leiden, okay. Sie wollen ein Arschloch sein, okay. Aber Sie werden mich definitiv nicht aus dieser Firma schmeißen. Ich werde bis Februar hier bleiben, ob es Ihnen passt oder nicht."
Erneut erwidert er nichts, betrachtet mich bloß. Das Tageslicht, welches durch die blitzblank polierten Fenster dringt, bietet ihm eine perfekte Sicht auf mein ungeschminktes Gesicht. Auf all die Verletzungen, die ich bis zu meinem Tod oder einer Schönheits-OP auf meiner Haut tragen werde. Jede einzelne Narbe – an meiner Stirn, meiner Oberlippe, meinem Kinn – wird sichtbar. Dass er mir theoretisch nur noch die Hose ausziehen müsste, um die restlichen Verunstaltungen betrachten zu können, beunruhigt mich. Es passt mir nämlich ganz und gar nicht, dass er auch nur den Hauch meiner Verletzlichkeit, meiner Menschlichkeit sehen kann. Sei es auch nur äußerlich.
Mein Blick landet auf seinen vollen Lippen, seinem markanten Kinn, seinen langen dunklen Wimpern und seiner männlichen Nase. Trotzdem finde ich nichts, das ihn optisch hässlich wirken lässt. Sein Gesicht ist unglaublich schön, irritierend schön schon fast und das sage ich üblicherweise nie. Jedenfalls nicht, wenn es um solche Menschen wie ihn geht, denn diese Leute sind für mich Abschaum. Ihr Charakter, verdorben und widerlich, macht sie unattraktiv. Aber nicht bei ihm. Leider nicht bei ihm...
Meine Zunge schnellt hervor, befeuchtet meine trockenen Lippen und lenkt seine Aufmerksamkeit auf sie. Er blickt auf meinen Mund hinab, als wäre er drauf und dran sich auf ihn zu stürzen. Obwohl dieser Ausdruck auch bedeuten könnte, dass er sich den nächsten verletzenden Kommentar ausdenkt.
„Sie werden mich nicht los", sage ich nach einer Weile, in der Hoffnung diese erdrückende Stille zu beenden und ihm zuvorzukommen. „Ich werde mein Praktikum bis zum Ende durchziehen."
„Da wäre ich mir nicht so sicher."
„Versuchen Sie es doch." Ich räuspere mich, hebe mein Kinn herausfordernd an und ignoriere die Tatsache, dass mich sein männlicher Duft in der Nase kitzelt. Oder mich sein Blick feurig macht. „Versuchen Sie doch mich rauszuwerfen."
„Ich werde es nicht nur versuchen, sondern auch schaffen."
„Das wage ich zu bezweifeln."
„Wieso sind Sie sich da so sicher?", hackt er nach und neigt den Kopf. Seine braunen Haare rufen förmlich danach, von mir angefasst zu werden, genau wie der Rest seines köstlichen Körpers. Was ich aber definitiv nicht zulassen werde. Nicht zulassen darf.
„Nennen Sie es Lebenserfahrung."
Ehe er etwas darauf erwidern kann, kommt jemand in die Küche spaziert. Merkwürdigerweise richtet Wyatt, der Teamleiter der Marketingabteilung, sein Augenmerk direkt auf uns, ganz so als hätte er uns belauscht. Ganz so als wüsste er haargenau über was wir geredet haben, da er lässig seine Hände in den Hosentaschen seines grauen Anzugs vergräbt und uns abwechselnd ansieht. Das ist mein Stichwort mich von Santiago – was für ein Name?? – zu trennen und hastig einen Schritt zur Seite zu weichen.
Obwohl mir wirklich nicht danach ist, setze ich ein freundliches Lächeln auf und wende mich ihm zu. Bloß weg von dem Arschloch neben mir, dessen Anspannung ich förmlich spüren kann. „Hi, Wyatt. Wie geht es Ihnen?"
„Guten Morgen, Sage. Mir geht's gut und Ihnen?"
„Auch gut."
„Sind Sie sich sicher?" Seine linke Braue huscht in die Höhe, will die Wahrheit aus mir herauskitzeln, was ich fast schon lächerlich finde. Er ist fast schon lächerlich.
Auch wenn ich vermutlich wie ein naives Mädchen wirke, bin ich in Wirklichkeit ziemlich intelligent. Ich durchschaue die meisten Personen auf Knopfdruck – wenn sie nicht diszipliniert genug sind, um ihr eigenes Gesicht unter Kontrolle zu halten – und dafür gebe ich mir noch nicht einmal Mühe.
Wyatt gehört auch zu diesen Personen. Er denkt, dem Kotzbrocken neben mir eine auswischen zu können, indem er sich so stellt, als kennen wir uns schon unglaublich gut. Als wären wir nicht bloß Arbeitskollegen, sondern Bekannte. Und normalerweise würde mich das dermaßen ankotzen – ich bin doch kein Mittel zum Zweck! –, aber in diesem Fall kommt er mir wie gerufen. Die Gründe für seine rachesüchtige Masche sind mir völlig egal, solange er das erreicht, was er will.
„Ja, wir haben uns nur ein bisschen über die Arbeit unterhalten."
„Mhm."
„N-Nein, wirklich", stottere ich und verstelle absichtlich meine Stimme. Die Kerle stehen auf diese dümmlichen Weiber, lassen ihren Beschützerinstinkt raushängen. Dieser Instinkt kommt uns beiden nur gelegen, weil ich mit jeder verstreichenden Sekunde spüre, wie sich Mr. Arschloch weiter versteift.
Das wird so ein Spaß!
„Dann glaube ich Ihnen mal."
„I-Ich würde Sie n-niemals anlügen", lüge ich ihm direkt ins Gesicht und klimpere ein paar Mal mit den Wimpern. Zeitnah muss ich mir ein Würgen unterdrücken. Wie naiv muss er bitte sein, um mir diese Scheiße abzukaufen?
„Das habe ich auch nicht behauptet." Für andere würde dieses schiefe Grinsen charmant oder freundlich vorkommen, doch nicht für mich. Für mich kommt er eher armselig, untervögelt und charakterlos vor – dabei müsste er Mitte dreißig sein.
„Sie haben gefragt wie es Miss Harrington geht und jetzt können Sie gehen", mischt sich der Idiot neben mir ein und bringt ich glatt schallend zum Lachen. Männer sind so leicht zu manipulieren, dass ich mich selbst jedes Mal überrasche.
„Was ist denn Ihr Problem? Ich habe mich doch nur über das Wohlbefinden unserer Mitarbeiterin erkundigt." Auch er stellt sich dumm, nur tut er das viel zu auffällig. Er klimpert mit den braunen Augen und merkt gar nicht, dass er genau die gleiche Masche abzieht, die ich gerade bei ihm abgezogen habe. Mit dem Unterschied, dass er mir jedes einzelne Wort abgekauft hat.
„Nein, Sie sind davon ausgegangen, dass ich sie bedrängt habe oder ihr anderweitig Unwohlsein beschert habe."
Wow, Sie können eins und eins zusammenzählen!
„Haben Sie das denn getan?", hackt er nach und neigt den Kopf. Am liebsten würde ich ihm einen High-Five geben. Der Kerl kann ihn offenbar mindestens genauso wenig leiden wie Lydia und ich, was vielleicht ein Indiz dafür sein könnte, dass es an ihm liegt. Aber natürlich kann ich ja auch falsch liegen, schließlich passiert es ja ganz oft, dass sich Leute von einem grundlose distanzieren.
Ironie lässt grüßen!
„Ich bin Ihnen sicherlich keine Rechenschaft schuldig."
„Nein, aber Ihrem Vorgesetzten."
„Drohen Sie mir gerade, mich an meinen Boss zu verpfeifen?", fragt er und hebt seine Augenbrauen an. Ha, das wird ja immer besser!
„Ich möchte nur, dass sich unsere Mitarbeiter vollkommen wohlfühlen."
„Dann sollten Sie bei Ihrer eigenen Assistentin anfangen und nicht bei einer Praktikantin, die sowieso nach wenigen Wochen schon verschwinden wird." Er spricht das ohne jegliche Gefühle aus, ohne jegliche Scham. „Sie würde sich sicher über eine Arbeitssenkung freuen oder wenigstens über weniger aufgezwungene Überstunden."
„Das geht Sie nichts an", presst Wyatt zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und scheint jede rachesüchtige Freude verloren zu haben. Schade, ich dachte wirklich, dass er länger durchhalten würde.
„Gut, dann geht es Sie nämlich auch nicht an, wie ich mit Miss Harrington umgehe." Mit einem kaum merklichen Zucken der Mundwinkel setzt er sich in Bewegung. Als wäre nichts passiert, fährt er fort mit dem Zubereiten seines gesunden Obstsalats. „Apropos Miss Harrington, Sie sollten schon vor einer Viertel Stunde in Ihrem Büro gewesen sein. Wenn Sie so fortfahren, werden Sie nicht mehr lange hierbleiben."
Arschloch. Skrupelloses, eingebildetes Arschloch.
Ich zwinge mir das falscheste Lächeln ins Gesicht und erdolche ihn mit imaginären Pfeilen. Wie gerne ich jetzt sein Gesicht in diese Glasschüssel schlagen würde...
„Dafür müssen Sie sich schon mehr einfallen lassen. Ich bleibe nämlich und das ist mein letztes Wort." Damit schnappe ich mir meine Kaffeetasse, die vermutlich schon ganz kalt geworden ist und marschiere an Wyatt vorbei.
An der Tür halte ich an, die Hand auf der Klinke und den Kopf über die Schulter geschwungen. „Beziehungsweise ist das mein letztes Wort: Um jemanden herumzukommandieren, muss man etwas im Leben oder im Beruf erreicht haben. Was ich von Ihnen nicht wirklich behaupten kann."
Bevor er noch etwas dazu erwidern kann, stolziere ich aus der Küche und lasse die Tür offenstehen. Hoffentlich macht ihn das rasend. Hoffentlich rammt er seine Faust gegen die nächstbeste Wand und schrottet seine Knöchel. Hoffentlich lässt er mich dann endlich in Ruhe.