Ich wachte Mittwoch mit einem Zittern in den Gliedern auf. Dieses Gefühl kannte ich schon und unterdrückte es, so gut es eben ging. Ich wusste, heute Nachmittag würde ich Erlösung finden. Im Laufe des Unitages wurde es schlimmer und ich schaffte den letzten Uniblock vor Ort nicht mehr. Das war aber nicht so wichtig, denn der bestand eh nur aus Eigenrecherche, die man in der Uni machen konnte oder zu Hause.
Also entschied ich mich für meine Wohnung. Vorher ging ich noch schnell einkaufen, so dass ich etwas für heute und die nächsten Tage da hatte.
Dann machte mir ein Schaumbad. Aber das Zittern in meinen Gliedern ließ nicht nach. Ich rasierte mich und wusch mich ausgiebig. Dann schaffte ich es nicht mehr und legte meine Finger an meine Mitte. Ich stellte mir Chris in seiner Badehose vor und fing an, mich zu streicheln. Mein Stöhnen hallte an den Badezimmerwänden wider. Und als ich es bis zum Höhepunkt geschafft hatte und wieder entspannt in die Wanne sank, wusste ich, dass mir das nicht reichte. Ich brauchte mehr.
Mein letzter s*x war zwei Wochen her. Das war für mich schon sehr lange. Meine Freundin Sofia meinte vor ein paar Jahren zu mir, dass ich eine Nymphomanin wäre und mir Hilfe suchen sollte. Ich fand das etwas übertrieben. Nymphomanen brauchten täglich s*x wie Drogen, damit sie zurecht kamen. Mir reichte einmal in der Woche. Zwei Wochen waren schon schlimm. Nach drei Wochen war ich aber tatsächlich wie ein Suchti, der die nächste Line brauchte. Ich zitterte am ganzen Leib und war nur noch fahrig, gereizt und schlecht gelaunt.
Deswegen hatte ich mir in den letzten Jahren Strategien erdacht, damit es nicht soweit kam. Mein Lieblingsclub gehörte dazu. Wenn ich einen Fick brauchte, dann ging ich dort tanzen und meine Erfolgsquote war sehr gut. Meistens reichte mir dann ein One-Night-Stand, um die nächste Woche wieder gut zu überleben. Trotzdem war diese Strategie anstrengend und mitunter auch gefährlich. Nicht alle Männer waren mein Geschmack, und manchmal landeten richtige Idioten in meinem Bett. Natürlich lud ich niemanden zu mir nach Hause ein. Ich hatte dafür ein Motelzimmer in der Nähe des Clubs, das ich anmietete, immer in der Nacht, in der ich dort tanzen ging.
Der Einzige, der diese Regel brechen konnte, war Eduardo. Ihn hatte ich vor einem Jahr in eben diesem Club getroffen und wir waren natürlich im Bett gelandet. Er war ein Latino, wie er im Buche stand, und kam einmal die Woche vorbei für ein paar Stunden. Manchmal sahen wir uns einen Film zusammen an, manchmal kam er nur vorbei, damit wir uns auspowern konnten, dann ging er wieder.
Ansonsten redeten wir nicht viel. Sein Leben war ganz anders als meines und unsere Hobbies, Interessen und Sehnsüchte waren verschieden. Aber wir harmonierten beim s*x gut. Sein Schwanz passte gut in meine v****a. Auch das hatte ich bei meinen One-Night-Stands lernen müssen, dass dies nicht selbstverständlich war. Manche waren zu groß, manche zu krumm, manche zu schmal. Aber meistens lag es an den Bewegungen und der Ausführung. Bei Eduardo schaffte ich immer mindestens einen Orgasmus, und er konnte mehrere Runden hintereinander, so dass wir eine Stunde oder mehr beschäftigt waren.
So fieberte ich die nächste Stunde auf den Moment hin, dass es klingelte.
Eduardo stand in der Tür und ich ließ ihn hinein. Sein raspelkurzes schwarzes Haar war nicht viel länger geworden. Letzte Woche war er im Urlaub gewesen und so hatten wir uns nicht treffen können. Ich hatte geglaubt, dass ich das schon aushalten würde, aber mein Zittern verriet mich. Eduardo grinste, als er es bemerkte und wir übersprangen den Film und kamen gleich zur Sache.
Lustigerweise vögelten wir immer nur auf dem Sofa, nie in meinem Bett. Das war zu einer Art Ritual geworden. Auch diesmal ritt ich ihn, während er unter mir lag und den Rhythmus vorgab. So konnte ich mein Tempo selbst bestimmen und bekam den gewünschten Orgasmus sehr schnell. Danach zog er mich zu sich und setzte sich halb auf. Der Ernst in seinem Blick ließ eine schlimme Vorahnung in mir aufsteigen.
“Kleine Chica, ich muss dir was sagen.”
Er musste es nicht aussprechen, sein Blick sagte mir alles.
Eduardo kam jede Woche zu mir und er konnte und wollte immer s*x. Egal, ob er gut gelaunt war oder mies drauf. Ob er eine Verletzung hatte oder einen Schnupfen. Sein Schwanz war immer bereit und das schätzte ich an ihm. Es gab nur eine Ausnahme. Wenn er sich mal wieder verliebt hatte. Dann sagte er sich los von mir und wir trafen uns ein paar Wochen nicht. Leider war es meistens so, dass er seine neue Freundin so oft durchnahm, dass sie es nach zwei oder spätestens drei Wochen nicht mehr bei ihm aushielt. Dann klopfte er wieder Mittwochabend an meine Tür und unsere Sexabende gingen weiter wie gehabt. Jetzt war es mal wieder soweit. Ich konnte die Herzchen in seinen Augen förmlich sehen.
“Sag nichts, wie lange kennst du sie?”
“Ich habe sie im Urlaub kennengelernt und sie ist meine Muse. Du weißt, ich bin immer nur für ein Mädchen da.”
Das sagte er in einem bedauernden Ton, aber auch das schätzte ich an ihm. Denn so wusste ich, dass er nicht mit mehreren Frauen neben mir schlief und ich mir nicht irgendwelche Krankheiten einhandelte.
Trotzdem fluchte ich.
“Wo soll ich jetzt so schnell meinen Ersatzsex herbekommen? Ich muss für die Uni lernen und brauch auch bald einen Nebenjob. Ich hab jetzt keine Zeit und kein Geld für einen Clubbesuch.”
Er seufzte und strich mir durchs Haar.
“Aber vielleicht ist es diesmal die eine.“
Ich schnaubte.
Die eine. Der eine. Den gab es nicht.
Drei Beziehungen hatte ich schon versucht zu beginnen. Es hatte nie geklappt. Bei der Ersten hatte ich vor dem dritten Date in einem sauteuren Restaurant am anderen Ende der Stadt mein Handy zu Hause vergessen. Natürlich verlief ich mich auf dem Weg zur Location und irrte eine Stunde herum. Als ich dann beim Restaurant eintraf, war er schon weg. Ich ging nach Hause und rief ihn an und er glaubte mir natürlich nicht, dass ich mich so krass verlaufen hatte. Damit war die Beziehung hinüber, bevor sie richtig angefangen hatte.
Beim Nächsten ging es etwas weiter. Wir hatten schon über das Zusammenziehen gesprochen. Eines Abends gingen wir etwas trinken und mit Alkohol im Blut erzählte ich ihm etwas über meine sexuellen Neigungen. Wir kamen auf das Thema Dreier und er wirkte ganz begeistert, weil er dachte, ich wolle es mit einer zweiten Frau und ihm treiben. Als ich ihm offenbarte, dass ich eher an einen zweiten Mann dachte, schwieg er dazu. Am nächsten Tag machte er telefonisch Schluss mit mir.
Die dritte Beziehung tat mir zu sehr weh, dass ich jetzt daran denken wollte.
Eduardo wollte schon weitermachen mit der zweiten Runde, aber ich brach ab. Meine Laune war hinüber und meine Libido streikte. Ich stieg von Eduardo hinunter und ging in mein Badezimmer, um mich zu säubern. Das Bedauern in seinen Augen hielt nur kurz an. Dann schnappte er sich seine Hose und fing an, mir von seiner Neuen zu erzählen. Ich wollte das gar nicht wissen und hörte ihm nur mit einem halben Ohr zu.
Als ich aus dem Badezimmer kam, war er fertig angezogen und stand schon in der Tür. Ich sah das Mitleid in seinem Blick und hätte kotzen können. Ich brauchte sein Mitleid nicht.
“Ich hab dir doch von dem Swingerclub erzählt. Vielleicht versuchst du da mal dein Glück?”
Wieder verdrehte ich die Augen. Auch das Thema hatten wir schon ein paar Mal. Ich wusste nicht, wie ich in einen Swingerclub abgehen würde. Ehrlich gesagt hatte ich Angst, da ein wenig die Kontrolle zu verlieren, wenn ich mit jedem Mann, der da herumlief, s*x haben könnte. Dafür vertraute ich mir selbst nicht genug.
So hatte ich das zwar Eduardo nie erklärt, aber diese Seite von mir kannte er auch nicht. Ich war mir nicht mal sicher, ob ich diese Seite je wieder jemandem offenbaren wollte. Kurz flackerte das Gesicht von Chris vor meinem inneren Auge auf. Aber er war auch nur ein Hirngespinst. Alle paar Monate hatte ich einen Kerl, der meine Fantasien anfachte. Einmal war es ein Supermakt-Typ, einmal ein Typ an der Bushaltestelle, der morgens immer den gleichen Weg mit mir fuhr.
Eines Tages hatte der Bustyp seine Freundin dabei und knutschte sie im Bus ab. Aber anstatt mich von da an von ihm fernzuhalten, setzte ich mich hinter die beiden, um sie genau zu beobachten. Das bekam er mit und sah mich angeekelt an. Danach sah ich ihn nicht wieder. Er schien einen Bus früher oder später zu nehmen, damit wir uns nicht mehr begegneten. Das war bisher meine einzige Interaktion mit einem der Typen gewesen, die ich beobachtete und dann für meine Selbstbefriedigungsfantasien missbrauchte. Ich benutzte dazu immer eine echte Person in meinem Leben, die ich in alle möglichen Situationen steckte, und meine Fantasie spann eine Geschichte, die mir half, zu kommen.
Chris war der erste Typ, dessen richtigen Namen ich kannte und mit dem ich nun schon öfter ein paar Worte gewechselt hatte. Somit brach er aus jedem Schema, das ich mir aufgebaut hatte, und ich konnte ihn nirgends mehr einordnen.
Ich schüttelte den Gedanken ab und verabschiedete Eduardo. Um das Problem musste ich mich später kümmern. Ich textete kurz mit Sofia, dass ich den Kellnerjob machen würde. Sie jauchzte und schaffte es tatsächlich, mir für morgen Nachmittag ein Vorstellungsgespräch zu besorgen. Ich seufzte. So schnell hatte ich den Job zwar nicht gebraucht, aber was solls.
Ich ging ins Bett und dachte nochmal an Chris. Stolz und Fantasie rangen einen Moment miteinander. Ich fluchte, dass ich schon so viele Fantasien mit ihm erdacht hatte. Und jedes Mal, wenn ich mit ihm sprach, tauchten Schnipsel davon vor meinem inneren Auge auf, was mich nur noch gehemmter werden ließ. So konnte das nicht weitergehen. Er dachte noch, dass ich total verklemmt war. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich nicht mehr sexuell über ihn nachdachte, sondern ihn nur noch als das ansah, was er jetzt nun mal war: Mein Dozent. Keine Ahnung, ob mir das gelang. Schließlich hatte ich diesen verführerischen Ständer von ihm gesehen, der mir nicht mehr aus dem Kopf ging.
Der nächste Unitag war langweilig und so ging ich nachmittags mit schicker Bluse in die Bar. Das Gespräch verlief gut und ich sollte am nächsten Tag den ersten Probetag haben. Ich war wirklich gespannt, ob das Kellnern mir lag, immerhin war meine Tollpatschigkeit für den Beruf nicht so sehr hilfreich. Ich entdeckte neben der Bar einen süßen Plattenladen und nahm mir vor, diesem morgen vor meiner Schicht einen Besuch abzustatten.
Doch jetzt musste ich zu meinem Gesangsunterricht. Ich traf meine Gesangslehrerin Feli, die mir wieder wie der Sonnenschein entgegen lächelte. Aber diesmal hatte sie einen wirklich guten Grund. Sie hatte mir einen Gig besorgt. Ich feierte innerlich, weil mir das wieder Geld in meine schrumpfende Kasse spülen würde. In zwei Wochen war es schon so weit auf einem Festival im Westen der Stadt.
Wir kasperten die Liedliste ab und übten ein paar Songs davon. Nächste Woche war dann die Generalprobe vor dem Auftritt. Ich hatte schon ein paar kleinere Gigs gehabt und somit war meine Aufregung nicht mehr ganz so groß. Trotzdem freute ich mich, mal wieder vor Publikum singen zu können.
Mit diesen Neuigkeiten ging ich relativ geschafft nach Hause. Dort machte ich mir eine Streaming-Musikliste aller Lieder und hörte sie mir vor dem Schlafengehen nochmal genau an, um die Nuancen der Lieder herauszuhören und mir meine eigene Interpretation zu überlegen.
Am Freitag ging ich gleich nach der Uni in den Plattenladen und stöberte durchs Sortiment. Mein Unirucksack auf dem Rücken wurde immer schwerer, da ich heute auch meinen Laptop dabei hatte. Ich hoffte, dass ich ein abschließbares Fach in der Bar bekommen würde, denn den Laptop durfte ich auf keinen Fall verlieren. Nach zehn Minuten stellte ich ihn neben mir ab und fand eine alte Beatles-Platte, die mich anlachte. Seit der Vorlesung mit Chris hatte ich wieder Lust auf die Beatles bekommen, und auf Vinyl hörten sie sich einfach authentischer an als über Streaming.
Als ich mich umdrehte, stolperte hinter mir jemand über meinen Rucksack. Eine Platte flog in hohem Bogen an mir vorbei und ich sprang nach oben, um sie gerade so noch zu fassen zu bekommen. Ich kam wieder auf, ohne selbst zu straucheln oder hinzufallen, was fast einem Wunder glich, und jauchzte erleichtert:
“Hab sie!”
Als ich den Blick zu den Stolpernden senkte, um mich zu entschuldigen, dass mein Rucksack der Unfallverursacher war, stockte mir der Atem. Das konnte doch jetzt nicht wahr sein. Musste ich diesem Kerl jetzt überall in dieser Stadt begegnen?
Chris versuchte sich irgendwie aufzurappeln, scheiterte aber an der Enge des Ganges. Ich riss mich zusammen und legte beide Platten übereinander auf den Tisch neben mir und half ihm hoch. Aber auch das war noch ein schwieriges Unterfangen und er grummelte, weil ich es fast noch schlimmer machte. Als er dann endlich stand, schnauften wir beide, als wären wir gerade einen Sprint gelaufen und sahen uns in die Augen. Zum ersten Mal erkannte ich, dass er braune Augen mit grünen Sprenkeln drin hatte. Auch sein Duft strömte mir das erste Mal in die Nase. Er roch wie frisch gemähtes Gras, was mich völlig irritierte. Seine Nähe ließ mich nervös werden, auf eine komische Art, die ich von mir nicht kannte.
Er räusperte sich und ließ seinen Blick suchend durch den Raum gleiten. Ich ging erleichtert ein paar Schritte zurück und nahm die Schallplatten. Sein verwirrter Blick klärte sich, als ich unter meiner Beatles-Platte seine hervorholte, die sich als eine Abba-Platte entpuppte.
Ich hatte diese schon in meiner Sammlung, weil ich sie vor ein paar Jahren auf einem Flohmarkt günstig erstanden hatte. Aber sie gefiel mir, ich hatte sie mir schon oft angehört.
“Gute Wahl.”
Ich gab sie ihm und er sah sie wirklich glücklich an. Dieser Blick warf mich schon wieder aus der Bahn, weil ich ihn noch nie so gesehen hatte. Sonst lag immer ein strenger oder cooler Ausdruck auf seinen Zügen. Ihn jetzt so fast kindlich glücklich zu sehen, überforderte mich einen Moment.
Sein Blick fiel auf meine Platte und er grinste.
“Ebenfalls gute Wahl.”
Ich blickte verlegen zu Boden. Ich hoffte, dass er sich das nicht selbst zuschrieb, dass ich nun eine Beatles-Platte kaufen wollte, auch wenn es vielleicht stimmte. Trotzdem schaffte ich es nicht, sie wieder wegzulegen und einen anderen Tag zu kaufen. Ich wollte sie auf jeden Fall mitnehmen. Automatisch umarmte ich die Platte, als wäre sie mein Schatz, den ich gerade gefunden hatte, und überlegte, ihn einfach stehen zu lassen und zur Kasse zu gehen. Aber er öffnete schon den Mund und als ich nach oben sah, verlor ich mich schon wieder in seine Schokoladenaugen mit Pistaziensplittern.
“Wie ich sehe, bin ich hier nicht die einzige Person, die sich Musik gerne auf Vinyl anhört.”
Ich konnte diese Worte noch nicht einordnen und versuchte, mich neu zu sortieren. Diese Begegnung hatte irgendetwas in mir gelockert. Hier war keine Uni, kein Schwimmbad und kein Restaurant. Es fühlte sich so an, als hätte ich einen Freund in einem freundlichen Ort getroffen und eine neue Gemeinsamkeit entdeckt. Es war so vertraut und genau das verwirrte mich zutiefst.
“Was hat dich dazu bewogen, zu einer Platte der Beatles zu greifen?”
Er blickte mir wieder in die Augen, als ich ihn überrascht ansah. Ich wollte mich nicht schon wieder in diesen Augen verlieren und antwortete schnell.
“Ich mochte die Beatles eigentlich schon immer. Durch die letzte Vorlesung musste ich mich wieder intensiver mit ihnen beschäftigen. Ich schätze, das hat mein Interesse neu befeuert.”
Eigentlich wollte ich ihm gegenüber gar nicht so offen sein, aber diese ganze Atmosphäre ließ einfach die Worte aus meinem Mund purzeln. Und ich bereute sie auch nicht, als ich sie ausgesprochen hatte. Eine kleine Ecke meines inneren Widerstands Chris gegenüber, den ich eigentlich nie so aufbauen wollte, brach ab. Und ich fand das gut und ließ es zu.
Auch er schien seinen Gedanken nachzuhängen, bis er dann doch antwortete:
“Wie bist du auf den Plattenladen aufmerksam geworden?”
“Ich habe gestern in der Bar nebenan ein Vorstellungsgespräch gehabt und dabei den Plattenladen entdeckt.”
“Und gefällt dir der Laden?”
"Ja, sehr. Die Auswahl ist sehr gut dafür, dass der Laden nicht der Größte ist.”
“Da hast du Recht. Ich komme schon seit Jahren her und Jimi hat immer wieder gute Dinge im Angebot.”
Er hielt mir seine Platte entgegen, die ich geistesgegenwärtig aufgefangen hatte.
“Die Platte hier suche ich schon sehr lange. Eine versiegelte Version von “Honey Honey” fehlt noch in meiner Sammlung.”
Wollte er sie gar nicht hören? Wozu dann Schallplatten kaufen?
“Heißt das, du hast gar nicht vor, sie zu hören?”
Er lachte und das flashte mich einen Moment.
“Nein, diese spezielle Platte nicht. Ich habe sie schon einmal zu Hause. Das hier ist ein Sammlerobjekt.”
“Holst du dir von jeder Platte zwei Kopien?”
“Nein, ich habe auch Platten, die ich einfach nur höre.”
“Und wie viele Platten hast du zu Hause?”
Keine Ahnung, wieso ich ihn so mit Fragen bombardierte. Aber es machte mir Spaß, über dieses Hobby zu reden. Ich kannte nicht viele, die Schallplatten mochten und erst recht nicht sammelten. Aber die nächste Aussage ließ kurz meinen Mund vor Verblüffung offen stehen:
“Es sind 3.129 Schallplatten. Mit dieser hier werden es dann 3.130 sein.”
Ich klappte schnell den Mund wieder zu und hoffte, er hatte es nicht gesehen, aber meine Verwunderung konnte ich trotzdem nicht verbergen.
“3.129? Ich weiß nicht so genau wie viele ich habe, aber es sind nicht annähernd so viele.”
“Das ist ja auch kein Wettbewerb. Ich investiere schon sehr lange viel Zeit und Geld in Schallplatten. Die ersten Schallplatten der Sammlung stammen noch von meinen Eltern. Sie hatten keine Verwendung mehr dafür, nachdem die CD den Markt eroberte.”
Meine allererste Platte hatte ich damals von meiner Oma geschenkt bekommen. Dazu ihren alten Plattenspieler. Den besaß ich immer noch und er war der wertvollste Schatz, den ich von ihr behalten hatte, als sie starb.
“Für mich ist der Klang einer Schallplatte einfach am authentischsten. Ich sehe zwar auch die Vorteile in digitalen Formaten, aber nichts geht über den Klang einer Nadel, die über die Schallplatte gleitet.”
Genau! Niemand versteht diese Leidenschaft in meinem Freundeskreis. Wieder kam der Schwall aus meinem Mund, ohne dass ich näher darüber nachgedacht hatte.
“Genau das denke ich auch. Meine Freunde verstehen das nicht und fragen mich immer, warum ich mir Schallplatten kaufe. Manchmal komme ich mir wie eine Aussätzige deswegen vor. Ich freue mich, dass ich jetzt jemanden kenne, der das auch so sieht. Die Leute sollten viel mehr Schallplatten kaufen. Natürlich sehe ich auch die Vorteile von Streaming, aber wie du schon sagtest, geht nichts über den Klang einer Schallplatte.”
Seine Augen funkelten bei dem Thema und ich las das erste Mal Verständnis darin. Es war ein berauschendes Gefühl, jemanden gefunden zu haben, der meine Leidenschaft teilte.
“Ich möchte mir noch viel mehr Schallplatten holen, aber aktuell ist das Geld sehr knapp. Die Platten, die ich besitze, habe ich mir alle geholt, als ich noch nicht studiert habe.”
“Deswegen hast du auch das Vorstellungsgespräch gestern gehabt. Hast du den Job bekommen?”
Vorstellungsgespräch? Woher wusste er davon nochmal? Ich sah auf die Uhr und erschrak. So ein Mist, ich kam am ersten Tag zu spät!
“Oh nein! ich habe nur noch drei Minuten.”
Ich rannte mit meiner Platte zur Kasse, dann fluchte ich und flitzte zu meinem Rucksack zurück. Dafür musste ich mich wieder an Chris vorbeidrängen. Er sah mich so verwirrt an, dass ich zu einer Erklärung ansetzte:
“Ich habe einen Probearbeitstag. JETZT.”
Dann lief ich wieder zur Kasse, holte mein Portemonnaie aus dem Rucksack, zahlte die Platte und verließ den Laden. Ich beeilte mich, die letzten Meter zur Bar zurückzulegen und in den Laden zu eilen. Meine Uhr verriet, dass ich eine Minute zu spät war. Ich hoffte, nicht den strengsten Chef zu haben. Mein direkter Vorgesetzter war gestern nicht da gewesen.
Auch heute war er krank, wie ich erfuhr und meine Freundin Sofia wies mich in alles ein. Sie hatte extra noch die Schicht getauscht, als ich ihr gestern von meinem Probetag per Messenger geschrieben hatte.
Der Probearbeitstag ging nur vier Stunden, in denen ich viel lernte und von Sofia aufgefangen wurde, wenn ich ratlos war. Das Kassensystem war etwas komplizierter, aber nachdem ich es einmal verstanden hatte, ging es. Ich war auch gar nicht so tollpatschig und machte in diesen Stunden nichts kaputt. Die Bar war sehr authentisch und die Mitarbeiter alle nett. Der Barkeeper war eine gute Laune Bombe und die Inhaberin überraschte mich immer wieder mit ihrer flippigen Art. Ich lachte viel und fühlte mich gleich wohl im Team.
Nur das Kellnern lag mir – wie schon erwartet – nicht ganz so im Blut. Dafür war ich in Gläser ordentlich reinigen und abtrocknen sehr schnell, und auch das assistierende Getränke einschenken half dem Barkeeper sehr gut, vor allem, als die Bar voller wurde.
An einem Freitagabend waren hier viele Touristen unterwegs und füllten die Bar sehr gut. Mir wurde es ganz schön laut. Aber da ich unter der Woche Uni hatte, blieben mir ja nur die Abend- und Wochenendschichten.
Am Samstagabend gab es immer Musikspecials – also Bands, Sänger oder Solisten – die auftraten, manchmal auch Tanzgruppen. Dann hatten sie noch Themenabende, wie Karaoke, Quizzes oder Maid-Master-Abende. Und einmal im Monat gab es einen Challenge-Abend, von dem mir Sofia aber nichts mehr erzählen konnte. Ihre Pause war zu Ende und damit auch mein Probearbeitstag. Ich konnte mir noch nicht vorstellen, wirklich eine ganze Schicht hier zu übernehmen, aber wahrscheinlich musste ich mich erstmal an die Arbeit gewöhnen. Mein Rücken tat weh, aber meine Arme nicht. Sofia hatte nach ihrem ersten Arbeitstag Muskelkater in den Armen und Schultern gehabt. Das hatte ich überhaupt nicht, wahrscheinlich wegen meinem Schwimmtraining.
Ich ging noch schnell einkaufen und schmiss mich danach auf meine Couch. Ich war echt fertig vom Tag. Ich wollte schon ins Bett, als ich einen Anruf von Sofia bekam. Sie fragte mich ganz aufgeregt, ob ich am Montag spontan arbeiten könnte. Jemand sei krank geworden und sie brauchten definitiv mehr Personal. Da es wieder nicht um eine acht-Stunden-Schicht ging, sondern es nur von 20-24 Uhr war, willigte ich ein.
Ich erzählte ihr auch von meinem Gig in zwei Wochen und sie freute sich für mich. Sie wollte unbedingt mit dabei sein und ich schwärmte von der Location, weil ich da schon mal aufgetreten war. Nur die Setliste ließ ich sie noch nicht wissen. Es waren ein paar neue Lieder dabei und ich wollte sie damit überraschen. Sie stand meistens in der ersten Reihe und es kam nicht selten vor, dass ich ein Lied ihr widmete oder es mit Blickkontakt zu ihr sang.
Auch wenn der Gig Geld in meine leeren Taschen spülen würde, war ich froh, nun auch einen Nebenjob zu haben.
Das Geld konnte ich gut gebrauchen, und so musste ich mich eben am Wochenende gut auf die Vorlesungen vorbereiten. Wenn ich am Dienstagmorgen zu fertig war, konnte ich auch Notenlehre ausfallen lassen. Der Dozent konnte mir eh nichts mehr beibringen, jedenfalls nicht so langsam, wie er durch den Stoff schlich. Zu Popgeschichte wollte ich unbedingt fit sein.