Paiges Perspektive
Das weiche, goldene Morgenlicht ergießt sich über mein Schlafzimmer und ich drehe mich zum Fenster, um den Sonnenaufgang mit stiller Zufriedenheit und einem Gefühl von Neuanfang zu beobachten.
Ich fühle mich heute wie eine neue Frau. Keine Sorgen mehr wegen Greg oder seinen Launen. Kein überstürztes Zubereiten seines Frühstücks mehr, bevor er zur Arbeit eilt.
Doch ein bitterer Gedanke schleicht sich ein, weil ich mich frage, ob er mich überhaupt vermisst. Er hat wahrscheinlich keine Sekunde gezögert, Leanne anzurufen, nachdem ich das Haus verließ. Sie hat gestern wahrscheinlich in meinem Bett geschlafen und macht ihm jetzt gerade Frühstück.
Mit einem genervten Seufzen schlage ich die Decke zurück und schwinge meine Beine aus dem Bett. Ich werde keine Minute mehr damit verschwenden, an Greg zu denken, nicht heute. Dies ist der erste Tag vom Rest meines Lebens und ich werde nicht zulassen, dass er oder Leanne einen Schatten darüber werfen.
„Hallo, Mami“, sagt Jax, als er in die Küche schlurft, sich die Augen reibt und immer noch seinen Schlafanzug trägt.
„Guten Morgen, mein Schatz. Hast du gut geschlafen?“, frage ich, während ich Rührei auf unsere Teller gebe, um es mit dem butterbestrichenen Toast zu servieren.
„Ja. Mein Bett ist so schön weich. Es ist wie eine große flauschige Wolke“, antwortet er mit einem verschlafenen Lächeln.
„Schön. Komm, iss jetzt dein Frühstück! Danach können wir die Stadt erkunden, bevor wir unseren Termin in der Schule haben.“
Er klettert auf den Hocker am Küchentresen und ich stelle seinen Teller ab, bevor ich uns beiden ein Glas Orangensaft einschenke.
Nachdem wir gegessen haben, helfe ich Jaxon, sich anzuziehen, und danach machen wir uns auf den Weg zum Park. Da es ein Schultag ist, ist es dort ziemlich leer. Also können wir zwei die Ruhe genießen, was eine angenehme Abwechslung ist.
Ich schubse Jax auf der Schaukel an und sehe dann zu, wie er immer wieder die Rutsche hinuntersaust. Als er zu den Klettergerüsten rennt, folge ich ihm und stelle mich darunter, falls er abrutscht. Sie sind höher, als mir lieb ist, aber es sieht fest entschlossen aus. Es gibt keine Möglichkeit, ihn davon abzubringen, es zu versuchen.
Jaxon greift mit seiner kleinen Hand nach der ersten Stange.
„So ist es richtig! Jetzt schwing dich und greif nach der nächsten“, rufe ich ermutigend und bin bereit, ihn aufzufangen.
„Sehr gut! Weiter so!“, feuere ich ihn an, während er an den Metallstangen hängt.
Er schwingt seinen Körper, greift nach der nächsten Stange und erwischt sie mit einem Knurren. Aber als er versucht, zur dritten zu springen, verliert er an Schwung. Seine Finger streifen sie kaum, bevor er direkt in meine wartenden Arme fällt.
„Das war ein guter Versuch, Liebling. Du warst einfach nur ein bisschen zu schnell“, sage ich, während ich ihn sanft absetze.
Jaxon runzelt die Stirn und stampft schon zurück zur Leiter für einen weiteren Versuch. Dieses Mal schafft er es jedoch nicht einmal bis zur zweiten Stange, bevor er abrutscht.
„Ich hasse dieses blöde Ding!“, schreit er wütend und seine Stimme hallt durch den leeren Park.
„Jax, beruhige dich! Es ist okay, du schaffst das schon irgendwann“, sage ich, um ihn zu beruhigen.
„Nein!“, schreit er und lässt sich auf den Gummiboden fallen. Seine Fäuste trommeln auf den Boden und seine Beine strampeln vor Frustration.
„Beruhig dich, mein Schatz! Es ist okay! Ich weiß, es ist frustrierend, aber wütend zu werden hilft auch nicht.“
Ich knie mich neben ihn und ziehe ihn in meine Arme. Er hat selten solche Wutanfälle. Aber nach allem, was er in den letzten Tagen durchgemacht hat, bin ich nicht überrascht. Ich hatte bereits mit irgendeiner Reaktion auf den Stress gerechnet.
„Beruhig dich, Kleiner!“, ertönt eine tiefe Stimme hinter uns und sofort beruhigt sich Jaxon in meinen Armen. Er holt zitternd Luft und seine kleine Brust hebt und senkt sich, während er sich beruhigt.
Ich drehe mich um und mein Blick trifft auf ein Paar atemberaubender blauer Augen, die meine Träume seit Jahren heimsuchen.
Ryder!
Seine Augen weiten sich, als er mich sieht, und dann wandern sie zu Jaxon. Ich kann nicht sprechen. Ich bin erstarrt, hin- und hergerissen zwischen dem Drang, in seine Arme zu laufen oder eine Erklärung zu verlangen.
„Oh, Entschuldigung“, sagt er hastig und schüttelt den Kopf. „Ihr müsst neu in der Stadt sein. Ich bin Callen.“
„Callen?“, wiederhole ich, während ich die Stirn runzele.
Habe ich mich verhört? Das ist definitiv Ryder! Er hat sich verändert, ja, ist breiter und definierter. Aber diese Augen würde ich überall erkennen. Es sind die gleichen Augen, die auch mein Sohn hat.
„Ja, Callen Harris“, sagt er und streckt mir die Hand entgegen. „Und wie heißt du?“
Ich schaue auf seine ausgestreckte Hand und suche nach dem kleinen Muttermal, das Ryder hat. Aber es ist weg. Wie kann das sein? Wie kann jemand so sehr wie Ryder aussehen, aber doch nicht er sein?
„Ähm, ich bin Paige. Und das ist mein Sohn, Jaxon“, antworte ich.
Ich greife nach seiner Hand, aber Jaxon ist schneller. Er ergreift Callens Hand und springt auf die Füße, bevor er ihn spontan umarmt.
Callen kichert leise und wuschelt Jax durch die Haare. Es scheint, als würden sie sich schon ewig kennen. Ich stehe auf und bin einfach nur fassungslos. Jax fasst normalerweise nicht so schnell Vertrauen zu Fremden, besonders nicht zu Männern.
Spürt er etwas? Eine Art Verbindung? Denn es ist unmöglich, dass Callen und Ryder nicht verwandt sind.
Ryder kannte seine leiblichen Eltern nicht. Könnte Callen vielleicht ein Zwillingsbruder sein, von dem er nichts wusste? Aber wie wahrscheinlich ist es, dass ich sie beide treffe? Und wie soll ich das Thema überhaupt ansprechen? Wahrscheinlich wurde Callen auch adoptiert und weiß auch überhaupt nichts von Ryder. Ich werde vorsichtig vorgehen und erst einmal versuchen, mehr über die Sache herauszufinden, bevor ich etwas erwähne.
Ich ziehe Jaxon sanft von dem Fremden weg und mache mir eine mentale Notiz, später mit ihm über die Gefahr zu sprechen, die von Fremden ausgehen kann.
„Und woher kommt ihr beide?“, fragt Callen.
„Wir sind gerade aus dem Süden hergezogen“, antworte ich ihm. „Und du? Lebst du schon lange hier?“
„Ungefähr vier Jahre. Hast du Familie hier?“
„Nein, nicht in der Stadt. Aber meine Schwester geht in der Nachbarstadt auf die Uni. Wir sind hergezogen, um näher bei ihr zu sein.“
„Nicht schlecht. Und kennt dein Mann hier jemanden?“, fragt er und deutet auf meinen Ehering. Ich habe überhaupt nicht bemerkt, dass ich ihn noch trage. Mein Magen zieht sich sofort zusammen. Ich ziehe ihn ab und stecke ihn in meine Hosentasche.
„Nein, ähm, Jax und ich sind nur noch zu zweit.“
„Tut mir leid, das zu hören. Wenn du Hilfe beim Einleben brauchst, lass es mich wissen. Die Schule ist fantastisch und es gibt einige großartige Restaurants. Ich würde dir gerne eine kleine Stadtführung geben“, bietet er an und lächelt auf eine Weise, die mein Herz stolpern lässt. Er ist Ryder so ähnlich.
„Danke, aber wir haben jetzt gleich einen Termin in der Schule“, sage ich.
„Ich gehe auch in die Richtung. Lass mich dich begleiten!“, antwortet er.
„Gehen deine Kinder auch auf die Schule?“, frage ich, während wir schlendern.
„Nein, ich leite die Sportstunden für einige der, sagen wir mal, lebhafteren Kinder.“
„Kannst du mir Sport beibringen?“, fragt Jaxon aufgeregt.
„Na klar. Welche Sportarten magst du denn?“
„Ich weiß nicht. Meine Lehrer haben gesagt, ich sei zu stark, um mit den anderen zu spielen.“
„Nun, das wird hier kein Problem sein. Wir haben viele starke Kinder. Hat dein Vater dir schon etwas beigebracht?“
„Nein. Ich habe meinen Vater noch nie getroffen. Aber ich denke, er wird zurückkommen, wenn er kann“, sagt Jaxon mit herzzerreißender Hoffnung.
„Ich bin mir sicher, dass er das tun wird“, sagt Callen sanft und wirft mir einen entschuldigenden Blick zu.
Ich kann erkennen, dass er Fragen hat, aber zum Glück stellt er sie nicht.
In der Schule zeigt uns Callen dann die Rezeption und geht, um die Schulleiterin zu suchen. Kurze Zeit später begrüßt uns eine schlanke Frau mit kurzem blondem Haar und warmen braunen Augen.
Zu meiner Überraschung schlingt Jaxon sofort seine Arme um sie.
Was ist bloß mit ihm los? Fühlt er sich einfach verloren und unsicher ohne Greg? Oder geht hier etwas Tieferes vor?