Kapitel 6

1493 Worte
Paiges Perspektive Unser Termin in der Schule lief fantastisch und das gesamte Personal war sehr freundlich. Die Schulleiterin, die lieber Regina als Frau Green genannt werden möchte, schien überhaupt nicht beeindruckt, als ich ihr von Jaxons Vorgeschichte an seiner ehemaligen Schule erzählt habe. Als die Führung durch die Schule vorbei war, hatte Jax sich sogar schon mit ein paar Kindern angefreundet und wollte gar nicht mehr gehen. Regina hat direkt zugestimmt, dass er morgen bereits mit halbtägigem Unterricht beginnen kann, bevor er nächste Woche dann ganztags kommen darf. Der Spaziergang zurück durch die Stadt war auch schön. Wir haben in einem kleinen Eiscafé angehalten. Danach haben wir dann einige Malutensilien in einem Bastelladen gekauft, damit Jaxon im Garten sitzen und malen kann, während ich mich darum kümmern werde Gas, Wasser, Strom und was wir sonst noch so brauchen einrichten zu lassen. Ich bin immer noch in der Warteschleife des Internetanbieters, als es an der Tür klopft. Ich werfe einen Blick auf Jax, der immer noch im Garten hinter dem Haus malt, und gehe zur Tür, um sie zu öffnen. Poppy hatte nicht gesagt, dass sie heute zu Besuch kommt, und wir kennen hier noch niemanden außer ihr. Also bin ich versucht, es zu ignorieren. Aber meine Neugier gewinnt dann doch die Oberhand und ich öffne die Tür. Mein Herz stockt für einen Moment, als Ryders Gesicht mich mit einem Grinsen anblickt. Meine Augen wandern sofort zu seiner Hand, um nach dem Muttermal zu suchen. „Hey! Tut mir leid, dass ich einfach ohne Vorwarnung vorbeikomme, aber ich war in der Nähe und dachte, vielleicht möchte Jaxon ein bisschen Ball spielen“, sagt Callen mit einem Ball unter dem Arm. Er hat seine Kleidung gewechselt, seit ich ihn vor ein paar Stunden gesehen habe. Er hat sein schwarzes T-Shirt gegen ein hellblaues getauscht, das seine Augen noch blauer erscheinen lässt. „Ähm, er ist im Moment eigentlich beschäftigt“, sage ich, gerade als Jaxon hereinstürmt, sein Gemälde hochhält und stolz verkündet, dass er damit fertig ist. „Callen!“, ruft Jax aufgeregt, als er ihn an der Tür entdeckt. Er rennt auf ihn zu, stolpert über seine offenen Schnürsenkel und landet krachend auf dem Holzboden. „Mir geht's gut“, erklärt Jax, noch bevor ich ihn fragen kann. „Langsam, Kleiner! Es gibt keinen Grund zur Eile“, sagt Callen lächelnd. Ich helfe Jaxon auf die Beine und sehe nach, ob wirklich alles in Ordnung ist. Er scheint nicht verletzt zu sein, aber sein Gemälde ist völlig zerstört, ebenso wie die einst makellose Wand. Blaue, rote und gelbe Farbe ist nun an der Wand verschmiert. Es sieht aus wie ein grober Versuch eines Regenbogens auf der magnolienfarbenen Wand. „Scheiße!“, murmele ich verärgert und eile in die Küche, um ein Tuch zu holen. Das ist eigentlich nicht der erste Eindruck, den ich dem Vermieter geben möchte, wenn er morgen zu Besuch kommen wird, um uns persönlich kennenzulernen. „Es tut mir leid, Mama“, sagt Jaxon mit Tränen in den Augen, während er das Chaos an der Wand betrachtet. „Schon okay, Liebling. Das war halt ein Unfall“, beruhige ich ihn, während ich versuche, die Farbe von der Wand zu wischen. Meine Bemühungen machen es allerdings nur noch schlimmer, da ich die Farbe noch mehr verschmiere. „Lass mich dir helfen! Es tut mir leid, dass ich unangemeldet vorbeigekommen bin“, sagt Callen, tritt ins Haus und streckt die Hand nach dem Tuch aus. Ich will gerade protestieren, als das Handy, das ich unter meinem Ohr eingeklemmt habe, endlich eine Verbindung zu einem Agenten herstellt. Ich nicke und reiche Callen das Tuch, um den Anruf tätigen zu können. Wenn ich das Internet nicht dringend für die Arbeit brauchen würde, hätte ich einfach aufgelegt und morgen erneut angerufen. Aber ich brauche schnellstmöglich einen funktionierenden Internetanschluss, weil ich die Frist für mein Manuskript einhalten muss. Ich gebe alle meine Daten durch und handle ein gutes Angebot für ein TV- und Internetpaket aus, während ich Callen und Jaxon dabei zusehe, wie sie die Wand reinigen. Danach gehen sie in den Garten, um Fußball zu spielen, während ich ihnen durch das Fenster dabei zusehe. Nachdem ich den Anruf beendet habe, bleibe ich noch am Fenster stehen und beobachte Jaxon beim Spielen. Er sieht so glücklich aus und genießt es, mit Callen Fußball zu spielen. Greg hat sich nie Zeit genommen, so mit ihm zu spielen. Er war immer zu müde oder zu beschäftigt, und ich war nie gut im Sport. Mein Vater sagte immer, ich hätte zwei linke Füße. Während ich sie beobachte, kann ich nicht aufhören, mir ein anderes Leben vorzustellen. Wie wäre unser Leben verlaufen, wenn Ryder nicht verschwunden wäre und wir die letzten sechs Jahre als Familie zusammengelebt hätten? Würde unser Leben so aussehen? Jax und Ryder, die zusammen im Garten spielen, während ich das Abendessen vorbereite? Ich ertappe mich dabei, wie ich beim Gedanken daran lächle, aber dann seufze ich. Ich muss Callen definitiv fragen, ob er Geschwister hat. Ich denke, das ist der beste Weg, um herauszufinden, ob er von Ryder weiß. Denn niemand kann mich davon überzeugen, dass sie keine Zwillinge sind. Ich kann ihn das aber nicht vor Jaxon fragen. Wenn Callen offenbart, dass er tatsächlich Ryders Bruder ist, Ryder aber etwas Schlimmes passiert ist oder Ryder Jax nicht treffen will, dann würde ich meinem Sohn nur unnötigen Schmerz zufügen. Ich trete aus der Hintertür und Callen lächelt mich an. „Ich glaube, du hast hier einen zukünftigen Fußballstar.“ „Ich habe ein Tor geschossen!“, ruft Jax begeistert und wirft seine Hand in die Luft. „Ich weiß, ich habe es gesehen. Gut gemacht, Jax! Das war ein tolles Tor“, lächle ich. „Kann Callen zum Abendessen bleiben?“, fragt Jaxon und seine großen blauen Augen sind voller Hoffnung. „Ich bin mir sicher, dass Callen schon andere Pläne hat.“ „Hab ich nicht“, sagt Callen und zuckt mit den Schultern. „Super“, entgegne ich und bringe ein Lächeln zustande. Denn ich bin nicht gerade begeistert davon, dass er zum Abendessen bleibt. Wir haben ihn schließlich erst vor ein paar Stunden kennengelernt. „Wie wäre es, wenn ich etwas bestelle? Es gibt einen großartigen Italiener, der auch liefert. Deren Lasagne ist einfach himmlisch“, sagt Callen mit einem Stöhnen. „Ich mag Lasagne“, nickt Jaxon begeistert. „Dann drei Portionen Lasagne?“, fragt Callen und schaut mich an. „Gerne. Und danke nochmal, dass du mir mit der Wand und mit Jaxon geholfen hast.“ „Kein Problem.“ Obwohl ich nicht wollte, dass er bleibt, erkenne ich doch, wie sehr Jaxon es genießt, ihn hier zu haben. Es lenkt ihn von Gedanken an Greg ab. Außerdem bekomme ich so vielleicht die Gelegenheit, ihm ein paar Fragen zu stellen, wenn Jax außer Hörweite ist. Callen hatte recht, die Lasagne war fantastisch. Ich musste mich beherrschen, nicht vor Genuss zu stöhnen, während sie mir auf der Zunge zerging. Nach dem Abendessen schicke ich Jaxon dann nach oben, um sich zu waschen und in seinen Pyjama zu schlüpfen, während Callen und ich gemeinsam den Tisch abräumen. „Du kannst gut mit Kindern umgehen. Gibt es viele Kinder in deiner Familie?“, frage ich und bemühe mich, nicht wie bei einem Verhör zu klingen. „Nein, in meiner Familie nicht. Aber es gibt mehrere Kinder in meinem, ähm, Freundeskreis.“ Er machte eine Pause, was mich vermuten lässt, dass er lieber ein anderes Wort benutzt hätte. „Also, hast du viel Familie hier in der Stadt?“ „Nicht wirklich. Ich bin in Pflegefamilien aufgewachsen und habe erst kürzlich erfahren, dass ich einen Bruder habe“, erzählt er mir, während wir die leeren Teller zur Spüle tragen. Mein Herz pocht in meiner Brust und mein Atem stockt mir in der Kehle. Meine Hände zittern vor Aufregung und ich lasse die Teller fast ins Spülbecken fallen. „Ist es ein älterer Bruder oder ein jüngerer?“, frage ich und meine Stimme klingt höher, als ich es möchte. „Ich bin mir nicht ganz sicher. Wir sind Zwillinge und wir wissen nicht, wer von uns beiden zuerst geboren wurde. Aber ich denke irgendwie, dass ich der Ältere bin“, lacht er. „Und er lebt auch hier in der Stadt?“ „Ja, direkt am Stadtrand“, sagt er. Mir wird plötzlich schwindelig und ich greife nach der Arbeitsplatte, um mich zu stützen. Ich hatte recht. Er ist Ryders Zwillingsbruder. Und Ryder lebt hier in dieser Stadt, in die ich gerade gezogen bin. Ist das Schicksal oder ein kosmischer Zufall? Ich weiß wirklich nicht, was ich als Nächstes sagen soll. Soll ich ihm erzählen, dass sein Zwillingsbruder Jaxons Vater ist? Soll ich ihn auffordern, mich zu ihm zu bringen oder ihn anzurufen, damit er herkommt? Wie kann ich damit umgehen und gleichzeitig meinen Sohn schützen?
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