Kapitel 3-1

2041 Mots
3 Wie ich Phoe gesagt habe, bin ich nicht so glücklich wie die anderen in Oasis. Zufälligerweise begann meine Unruhe, als Phoe in mein Leben trat. Um genau zu sein, begann sie, als sie vor einigen Wochen zum ersten Mal mit mir gesprochen hat. Nein, in Wahrheit hat alles ein wenig später angefangen, als ich erfahren habe, dass einige richtig coole Dinge, wie großartige Filme, Bücher und Videospiele, häufig aus den Archiven in Oasis entfernt werden. Zumindest nehme ich an, dass es häufig passiert. Soweit ich es mitbekommen habe, ist es mit Pulp Fiction geschehen, einem Film, den Phoe ganz tief in den alten Archiven ausgegraben hatte. Dieser Film war genial, aber entweder weil ich ihn hatte oder durch einen schrecklichen Zufall geriet Pulp Fiction auf den Radar der Betagten oder der Erwachsenen und sie haben ihn gelöscht. An einem Tag war er auf meinem Bildschirm, am nächsten Tag konnte ich ihn nicht mehr aufrufen. Phoe hat mir gesagt, dass er sich auch nicht mehr in den Archiven befände. Das Schlimmste daran ist, dass das passiert ist, bevor ich mir den Film zusammen mit Liam und Mark anschauen konnte. Meine Freunde haben mir nicht einmal geglaubt, als ich ihnen erzählt habe, dass der Film wirklich existierte. Phoe war meine einzige Zeugin, und ich bin noch nicht so weit, Liam und Mark von ihr zu erzählen. Etwas zum ersten Mal in meinem Leben nicht mit meinen Freunden teilen zu können mochte ich nicht, aber schlimmer sind die Fragen, die mich jetzt quälen: Warum sollte man einen so guten Film löschen? War es wegen der ganzen verbotenen Worte? Oder war es die Gewalt? Wenn ich diese Fragen laut stellen würde, würde ich anstatt Antworten nur eine todlangweilige Stille bekommen – und das macht mich verrückt. Genau aus diesem Grund hätte ich, wenn mich jemand vor dem heutigen Tag gefragt hätte, gesagt, dass ich die einzige unglückliche Person in Oasis bin. Aber trotzdem würde ich meinen Gefühlszustand nicht als »deprimiert« beschreiben. »Ich hätte nicht gedacht, dass es körperlich möglich ist, Depressionen zu bekommen«, flüstert mir Phoe zu. »Die Nanozyten in deinem Kopf regulieren die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin, neben Millionen anderer Variablen, die synergetisch zusammenwirken, um dich freundlich und fröhlich zu stimmen. Außerdem beinhaltet euer Lehrplan eine große Menge an Meditation, Sport und anderer Fühl-dich-gut-Propaganda.« »Hast du mich nicht gehört?«, wiederholt Mark mit zittriger Stimme. »Ich habe Grace gesagt, dass ich sie liebe.« Er denkt, dass ich ihn dafür verurteile, und es ist schwer, das nicht zu tun. Sexuelles Interesse – oder romantische Liebe, wie es für gewöhnlich genannt wird – ist nicht Teil unserer Welt. Der einzige Grund, weshalb wir überhaupt etwas darüber wissen, sind die alten Medien, die überlaufen vor Beispielen von Menschen, die in unserem Alter »verliebt« sind – einem Zustand, der sich qualitativ anders anhört als die Liebe zum Essen oder die Liebe für einen Freund. Menschen haben damals sogar »geheiratet« und »Familien« gegründet – zwei soziale Konstrukte, die unglaublich eigenartig sind. Ehe kann ich halbwegs verstehen. Das war wahrscheinlich so, als hätte man eine Frau für den Großteil seines Lebens zum Freund. Das kann ich nachvollziehen, weil wir mit Grace befreundet waren. Familie ist allerdings einfach nur abwegig. Das wäre so, als ob man wegen willkürlicher Faktoren mit Menschen befreundet wäre. Einer dieser Faktoren wäre zum Beispiel eine gemeinsame DNA, weshalb die betreffenden Menschen außerdem verschiedenen Altersklassen angehören würden – einschließlich der Erwachsenen und Betagten. Da die Jugendlichen niemals die quasi legendären Betagten kennenlernen und die einzigen Erwachsenen, zu denen wir Kontakt haben, unsere Lehrer sind, kann ich mir eine Familie nur schwer vorstellen. Was die romantische Liebe betrifft, hätte ich nicht gedacht, dass jemand Interesse an dem Zeug haben könnte. Dieses eigenartige Gefühl war eine Form von Geisteskrankheit, die an die Fortpflanzung geknüpft war, und um die Fortpflanzung kümmern sich jetzt die Betagten – die Frage, wie genau sie das tun, wird übrigens mit einer Stunde Stille bestraft. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. »Ich denke, dass die Lust oder Liebe unserer Vorfahren durch die mentale Trennung von der Fortpflanzung nicht beeinträchtigt wurde«, wirft Phoe ein. »Sie hatten etwas, was Geburtenkontrolle hieß. Ich denke, dass der wahre Grund für das Verschwinden dieses Bedürfnisses auf die geschlechtsneutralisierende Wirkung der Nanozyten zurückzuführen ist.« Bevor ich sie etwas dazu fragen kann, fährt sie fort: »Da die gleichen Nanozyten auch für Freundlichkeit und Fröhlichkeit zuständig sind, gehe ich davon aus, dass Mark sich in dieser Situation befindet, weil seine Nanozyten mit einer Dysfunktion in seinem Gehirn nicht zurechtkommen. Wenn ich einen Tipp abgeben müsste, würde ich wegen seiner früheren manischen Phasen sagen, dass er bipolar ist.« »Theo«, sagt Mark mit zitterndem Kinn. »Ich habe Grace gesagt, –« »Ich habe dich gehört, Kumpel«, unterbreche ich ihn und blende Phoes ausschweifende Erklärungen aus, um mich auf meinen Freund konzentrieren zu können. »Mir fehlen einfach gerade die Worte. Ich hatte dir ja geraten, dich von Grace fernzuhalten.« »Du hast mir auch gesagt, dass ich gerade eine Phase durchlaufen würde und nicht wüsste, was ich fühle«, erwidert Mark. »Genauso wie dein Freund Liam.« Liam hat ein engeres Verhältnis zu Mark, als ich es jemals gehabt habe, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, so kleinlich zu sein. Als Mark sich uns anvertraut hat, habe ich nicht verstanden, wie ernst es ihm damit war. Ich dachte, dass er uns einfach beweisen wollte, der größte Außenseiter in unserer kleinen Gruppe von Außenseitern zu sein – und etwas so Schockierendes zu sagen wie »ich mag ein Mädchen« hat definitiv diese Wirkung gehabt; besonders deshalb, weil er sich als Objekt seiner Begierde die schlimmste aller Petzen ausgesucht hat. »Also hast du Grace gesagt, dass du sie liebst?« Ich schüttele frustriert meinen Kopf. »Verstehst du nicht? Sie wird dich melden, und du wirst riesige Probleme bekommen.« Mark schaut mich einfach nur an. »Das ist mir egal. Du verstehst das nicht, Theo. Ich habe daran gedacht, –« Er schluckt. »Ich habe daran gedacht, das alles zu beenden.« »Sag das nicht«, fauche ich ihn entsetzt an. »Nicht einmal in Schweine-Latein.« »Aber es stimmt.« Er setzt sich auf den Boden und starrt abwesend in die Ferne. »Manchmal denke ich, –« Sein Kehlkopf bewegt sich, als er schluckt. Er hebt seinen Kopf, um mich anzuschauen, und ich kann sehen, dass seine Augen rot und feucht sind. »– es wäre besser, wenn ich niemals geboren worden wäre.« Seine Worte sind zu viel für mich. Mein Gesicht muss aussehen wie eine dieser alten japanischen Masken, die Phoe mir mal gezeigt hat. Mark ist, so lange ich denken kann, ein enger Freund von mir gewesen, und trotzdem scheint es, als würde ich ihn überhaupt nicht kennen. Depression und eigenartige Gefühle für Grace sind schlimm genug, aber jetzt hat er die Unterhaltung auf noch düsterere Themen gelenkt. Tod und Selbstmord sind mehr als verboten. Sie sind eher wissenschaftliche Themen. Wir alle verstehen ihre Bedeutung – das Konzept des Todes war zu allgegenwärtig in der Vergangenheit, um nicht darüber zu stolpern – aber jetzt, da niemand mehr stirbt, scheint es sinnlos zu sein, über den Tod nachzudenken. Theoretisch könnte jemand bei einem tragischen Unfall ums Leben kommen, aber so etwas ist in der Geschichte Oasis’ niemals vorgekommen. Also ja, im Gegensatz zum Fluchen habe ich kein Problem damit, ganz selbstverständlich dieser Regel zu folgen und niemals darüber zu reden oder nachzudenken. »Hör auf damit, so sehr in deine Gedanken versunken zu sein«, schimpft Phoe in meinem Kopf. »Dein Freund leidet.« Ich schaue zu Mark, der zusammengekrümmt mit seinem Kopf in seinen Händen dasitzt. Ich atme tief durch, gehe zu ihm und frage ihn: »Was kann ich machen?« Diese Frage ist gleichermaßen an Mark und Phoe gerichtet. »Nichts«, sagt Mark. »Bringe ihn dazu, sich zu entspannen«, schlägt Phoe vor, »und versuche, die Sache mit dem Mädchen wieder geradezubiegen.« »Mark, hör zu. Ich bringe dich jetzt auf unser Zimmer«, sage ich und lege ihm wieder meine Hand auf die Schulter. »Schlaf ein wenig, anstatt zum Geschichtsunterricht zu gehen. Ich werde Lehrerin Filomena sagen, dass du heute krank bist und werde mit Grace reden und versuchen, das Ganze aus der Welt zu schaffen.« »Du verschwendest deine Zeit«, antwortet Mark trübsinnig. »Es ist mir egal, ob ich Ärger bekomme. Mir ist alles egal.« »Das ist cool«, sage ich und tue so, als würde ich mich darüber freuen. »Wenn du wieder aufwachst, werden wir darüber reden, in welche Schwierigkeiten wir uns schon gebracht haben. Ich bin dran, Owen einen Streich zu spielen, falls du noch möchtest. Du weißt, dass wir dem Arschloch noch etwas dafür schulden, unseren Raum dreckig gemacht zu haben. Oder wir könnten Lehrerin Filomena morgen sagen, sich ihre Geschichtsvorlesung in eine ihrer Körperöffnungen zu schieben.« Der zweite Vorschlag löst den Hauch eines Lächelns auf Marks Gesicht aus. Er hasst unsere Geschichtslehrerin. Erleichtert erwidere ich sein Lächeln. »Und vergiss nicht«, fahre ich fort und versuche, meinen Erfolg zu verstärken, »der Tag der Geburt ist in weniger als drei Tagen.« Mark liebt die Feste am Tag der Geburten genauso sehr wie wir alle. Und das liegt auch auf der Hand. Dieser Tag ist eine Kombination aller alten Feiertage: Geburtstag, Weihnachten, Hanukkah, Erntedankfest und vielen anderen, die jetzt alle an einem Tag gefeiert werden. Ganz zu schweigen davon, dass wir alle der Vierzig ein Jahr näher kommen werden, dem Alter, in dem die Jugendlichen zu Erwachsenen werden und man sie nicht länger wie Kinder behandelt. Die Erinnerung an den Tag der Geburt scheint Mark noch ein wenig mehr aufzuheitern. »Weißt du«, sagt er, »Es wäre nicht einmal gelogen, wenn ich heute wegen Krankheit fehlen würde. Ich fühle mich wirklich schlecht.« »Genau.« Ich zwinge mich zu einer möglichst fröhlichen Stimme. »Du hast die perfekte Ausrede.« Ich helfe ihm auf, und wir gehen zu den Schlafzimmern. Auf dem Weg dorthin lenke ich unsere Unterhaltung auf unverfänglichere Themen und gebe mein Bestes, ihn von der Stimmung abzulenken, in der er gerade ist. »Frage ihn nach seiner Bonsaisammlung«, schlägt Phoe vor. Du weißt, wie sehr er sie mag.« Ihr Vorschlag hört sich gut an, also tue ich so, als habe ich ein großes Interesse für Marks verkrüppelte kleine Bäume entwickelt, und er ist froh darüber, mir mehr über dieses Thema zu erzählen, als jemals jemand wissen wollen würde. Während ich vorgebe, ihm zuzuhören, plane ich meine Unterhaltung mit Grace. Vielleicht kann ich mir ihr Schweigen irgendwie erkaufen? Oder vielleicht kann ich sie davon überzeugen, dass es ein Scherz war? Wir können mit Bestrafungen für Streiche leben. »Deshalb muss man die Zweige abknipsen und nicht abschneiden, wenn man den Baum stutzt«, sagt Mark, als wir unser Zimmer betreten. Er bleibt stehen, seufzt, und ich sehe, wie sich sein Gesichtsausdruck verdunkelt, als er hinzufügt: »Das Formen dieser Bäume ist das Einzige, was mich normalerweise entspannt, aber selbst das hilft gerade nicht.« Ich zeige auf seine Ecke des Raumes und sage: »Leg dich hin, Mann.« Mark blickt einen Moment lang in die gleiche Richtung, bis sich dort ein Bett materialisiert. »Also um genau zu sein, wird es von den Nanos im Utility Fog jedes Mal neu erschaffen«, wirft Phoe ein. »Ich habe einfach nur einen privaten Gedanken gehabt«, sage ich lautlos, aber mit deutlichen Lippenbewegungen. »Das ist das Problem bei dem Reden via Gedankenübertragung.« Mark geht zu seinem Bett, legt sich hin und schließt seine Augen. Ich warte einen Augenblick, da ich nicht weiß, ob ich bleiben sollte, bis er eingeschlafen ist, auch wenn ich mir nicht sicher bin, woran ich das erkennen kann. »Er schläft schon«, meint Phoe. »Er muss in Gedanken Schlaf angefordert haben, so wie er es mit seinem Bett getan hat.« »Er war nie ein großer Freund von Gesten«, denke ich zu ihr und gehe aus dem Raum. »Weißt du wo ich, –« »Grace ist in der Nähe des Geschichtssaals«, sagt Phoe, und ihre Stimme hallt von den glänzenden gewölbten Wänden des Flurs wider. Offensichtlich hört sie meinen Gedanken, denn sie sagt: »Das Echo ist ein Streich deines Gehirns.« Diesmal befindet sich ihre Stimme in meinem Kopf. Ich beginne, schneller zu gehen, und als ich denke, dass niemand zu mir schaut, renne ich. Wenn sie mich dabei erwischen, dass ich renne, kann ich immer noch lügen und sagen, dass ich gerade Sport gemacht habe. Das ist ein Trick, den Liam, der Typ, der immer in Eile ist, sich einfallen lassen hat.
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