Sobald ich draußen bin, nehme ich den Laufweg. Auf diese Weise wird niemand mein »Training« in Frage stellen.
Ich sehe Graces rotes Haar im Gang vor dem Eingang zum Geschichtssaal, aber bevor ich sie erreiche, legt sich eine Hand auf meine Schulter.
»Mann«, sagt Liam mit seiner aufgeregten, kreischenden Stimme. »Wo hast du den ganzen Tag gesteckt?«
»Nicht jetzt, Liam.« Ich schüttele leicht meinen Kopf. »Ich muss etwas Dringendes erledigen.«
»Was denn?« Er stößt mich freundschaftlich an – eine Geste, mit der er sich eine genauso lange Stille einhandeln kann, wie wenn er mich wirklich schlagen würde.
»Keine Zeit für Erklärungen.« Meine Stimme ist fest und kompromisslos – etwas, was Liam in seltenen Fällen aus seiner Hyperaktivität reißt.
»Egal, was es ist,« – Liam zappelt, indem er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen verlagert – »ich komme mit.«
Ich seufze und beeile mich, zu Grace zu gelangen. Ich bin ja schon froh, dass er wenigstens aufgehört hat zu reden.
»Ah, wenn das nicht die Zwillings-Stooges sind«, meint Grace, während sie Liam kühl anblickt und mir ein schiefes Lächeln zuwirft.
»Sie heißen Three Stooges, du ignorante Fotze«, sagt Phoe, auch wenn Grace sie natürlich nicht hören kann.
»Ich glaube, dass sie uns Zwillinge nennt, weil sie glaubt, dass wir uns sehr ähnlich sind«, denke ich zu Phoe, um sie zum Schweigen zu bringen.
»Du bist groß und hast blaue Augen«, knurrt Phoe, »während Liam dir gerade mal bis zum Kinn reicht und braune Haare hat. Um es auf den Punkt zu bringen: du bist sehr gutaussehend und zappelst nicht so sehr wie dein stämmiger Freund, und das weiß sie auch.« Sie hört sich an, als würde sie mit zusammengebissenen Zähnen sprechen. »Ich kann es in den Augen der Schlampe sehen. Du und Liam, ihr könntet nicht einmal unterschiedlicher sein, wenn ihr es darauf anlegen würdet. Und Mark –«
»Mark ist der Grund dafür, weshalb ich hier bin, Phoe. Der Grund dafür, weshalb ich mit dieser ›Fotze‹ – was auch immer das Wort bedeutet – reden muss. Also bitte, sei ruhig.« Obwohl ich gerade von ihr genervt bin, kann ich mir ein innerliches Lächeln darüber, dass mich meine imaginäre Freundin gutaussehend genannt hat, nicht verkneifen. Das muss eine höhere Form von Narzissmus sein.
Ich konzentriere mich auf das, was ich tun muss, lächele Grace an und sage so freundlich ich kann:»Hallo Grace. Ich würde gerne mit dir reden.«
In diesem Moment klingelt es, um den Beginn der Geschichtsstunde anzukündigen.
»Ich denke, ich weiß, worum es geht«, meint Grace und klimpert mit ihren langen Wimpern. »Und es wird warten müssen. Ich habe nicht vor, zu spät zur Vorlesung zu kommen.«
Bevor ich etwas erwidern kann, geht sie zwischen Liam und mir hindurch in die Aula.
»Was war das denn?«, fragt Liam. »Lass uns Geschichte schwänzen, damit du es mir erklären kannst.«
Ich betrachte meinen Freund. Wenn er so aufgeregt ist, seine Haare wie immer völlig durcheinander sind und seine braunen Augen blitzen, erinnert er mich an Taz, den tasmanischen Teufel aus einem alten Cartoon.
»Es tut mir leid, ich kann sie nicht ausfallen lassen«, sage ich. »Ich darf keine Stille bekommen, bevor ich mit ihr gesprochen habe.«
Ohne Liam die Gelegenheit zum Protestieren zu geben, folge ich Grace in den Saal.
Alle sitzen schon. Anstatt mir mit einer Geste einen Stuhl zu rufen, benutze ich ein Gedankenkommando, bevor ich meinen Bildschirm gleichzeitig mit meinem Tisch erscheinen lasse.
Ich tue so, als würde ich mir den Stundenplan anschauen, während ich in Wirklichkeit Grace betrachte.
Wie alle anderen trägt sie eine weite, unförmige Bluse und eine locker sitzende Hose, so dass der Großteil ihres Körpers verdeckt ist. Trotzdem kann man ihre große, schlanke Figur erkennen, und ich muss zugeben, dass ihre körperliche Erscheinung trotz ihres falschen Charakters hübsch anzusehen ist.
Mit ihren symmetrischen Gesichtszügen erinnert mich Grace an eine Frau aus den alten Zeiten.
»Das liegt daran, dass alle Vorfahren, die du gesehen hast, Models und Schauspieler waren«, mischt sich Phoe ein. »Die körperliche Attraktivität der Vorfahren folgte einer normalen Verteilungskurve, aber du kennst nur die speziellen Fälle, die in den medialen Aufzeichnungen erhalten blieben – und diese auch nur, nachdem sie retuschiert worden waren …«
»Und damit beginnt die Geschichtsvorlesung, bevor Filomena überhaupt ihren Mund geöffnet hat«, forme ich mit meinen Lippen.
»Ich musste dich unterbrechen, bevor du dich entscheiden konntest, an welche Zeichentrickfigur dich Grace erinnert«, denkt Phoe.
»Die kleine Meerjungfrau«, antworte ich ihr, hauptsächlich, um sie zu ärgern.
»Du bist sehr großzügig.« Phoes Stimme ist eigenartig angespannt. »Ich denke, dass sie eher wie die kleine Krabbenfreundin Arielles aussieht.«
»Guten Abend Studenten«, sagt Lehrerin Filomena mit ihrer nasalen Stimme, als sie den Raum betritt. »Habt ihr euch auf die Wunder der Geschichte vorbereitet?«
Ich erschaudere. Lehrerin Filomena hat eine Schwäche für dramatische Auftritte und übertreibt oft, wenn es darum geht, wie interessant ihr Thema ist.
»Zu ihrer Verteidigung«, flüstert Phoe, »alle Erwachsenen sind besessen von den Themen, die sie sich als ihr Lebenswerk ausgesucht haben.«
Ich ignoriere Phoe und hoffe, dass die heutige Stunde mehr Einblicke in die alte Welt gibt und nicht nur die übliche Propaganda beinhaltet.
»Ich werde eure Hausaufgaben heute nicht einsammeln«, meint Lehrerin Filomena. Das ist Musik in meinen Ohren, da ich den Aufsatz gerade erst auf dem Stundenplan gesehen habe. »Ich beginne sofort mit der virtuellen Realität«, fährt sie fort, »also erschreckt euch nicht.«
Ich würde gerne einmal wissen, wer sich durch etwas erschreckt, was normaler Bestandteil seines Lebens ist.
»Na ja, manchmal bekommst du –«
»Private Gedanken, Phoe«, sage ich lautlos zu ihr. »Wenn du möchtest, dass diese Nachrichtenübertragung per Gedanken weitergeht, musst du lernen, zwischen denen zu unterscheiden, die für dich sind, und denjenigen, die Selbstgespräche sind – außer natürlich, es ist das Gleiche, mit dir zu reden, wie mit mir selbst zu kommunizieren. In dem Fall wäre das irrelevant.«
Phoe murmelt etwas vor sich hin, was ich aber nicht verstehe, da die virtuelle Realität dieser Stunde beginnt und das einer der wenigen Teile der Geschichtsvorlesungen ist, die ich wirklich gerne mag.
Ich befinde mich nicht länger auf meinem Sitz in der Aula.
Ich befinde mich nicht länger in Oasis.
Stattdessen stehe ich auf einem schlammigen, mit Unkraut bewachsenen Boden auf der Spitze eines majestätischen, grünen Hügels. Die Luft ist kalt und riecht nach Blumen, die ich nicht benennen kann. Auf meiner rechten Seite befindet sich eine riesige Mauer, die sich über den Hügel erstreckt, und so lange das Auge reicht die Landschaft durchzieht.
»Das ist die große chinesische Mauer«, forme ich mit den Lippen. »Stimmt’s?«
»Ja«, antwortet Phoe. »Ich kann gar nicht glauben, dass sie euch diese Weltwunder zeigt, ohne sie jemals beim Namen zu nennen.«
Ich antworte nicht, da ich, noch bevor ich alles aufgenommen habe, nicht mehr neben der Wand stehe, sondern neben einem riesigen, halb zerfallenen, ovalen Bauwerk, das ich gut kenne: dem Kolosseum.
»Ich wette, als Nächstes kommt der Taj Mahal«, meint Phoe.
»Ruhe«, erwidere ich. »Ich genieße gerade den einzigen Spaß, den man in Filomenas Vorlesungen haben kann.«
»Ich hab’s dir doch gesagt«, höre ich Phoes Stimme, als sich der nächste Ort um mich materialisiert – oder ist es korrekter zu sagen, dass ich mich am nächsten Ort materialisiere?
Ich stehe neben einem Gebäude aus weißem Marmor und versuche das Bild abzuspeichern, bevor sich die Landschaft wieder ändert.
Als Nächstes ist das Empire State Building an der Reihe, danach der Grand Canyon und die majestätischen Niagarafälle. Die darauffolgenden Bilder der alten Welt wechseln immer schneller, bis sie eine Geschwindigkeit erreichen, in der ich sie unmöglich zuordnen kann.
Dann sehe ich die alte Erde wie aus einem kleinen runden Fenster – einem Ausgangspunkt im All. Ich liebe diesen Teil, weil ich mich dann schwerelos fühle und weil die alte Erde so umwerfend aussieht – eine blaue Welt voller Leben.
Dann sind wir auch schon bei dem Teil angekommen, den ich nicht mag.
Es ist derselbe Ausgangspunkt, nur dass die Erde sich verändert hat.
Die blauen Ozeane voller Wasser, die gelben Wüsten voller Sand, die grünen Wälder und die roten Canyons – sie sind alle verschwunden, und an ihrer Stelle befindet sich jetzt die orange-braune Masse des Goos.
Das Bild wird herangezoomt, aber ich kann Oasis immer noch nicht sehen, nur die immer größer werdende eintönige Fläche des Goos. Der Zoom wird verstärkt, und irgendwann kann ich eine winzig kleine, grüne Insel unter einer Kuppel erkennen.
»Blah, blah«, sagt Phoe. »Die Kinder haben es verstanden. Oasis erstreckt sich über 0,00000171456 Prozent der Erdoberfläche, und der Rest ist gekotzte Scheiße. Ich denke, das ist auch schon nach den ersten tausend Malen klar geworden, an denen dieser Punkt angesprochen wurde.«
»Vieles ging verloren, als das technologische Armageddon eintrat«, höre ich die körperlose Stimme der Lehrerin. »Oasis hat Glück gehabt, nicht untergegangen zu sein. Es wurde dank seiner isolierten Lage und durch die Tatsache gerettet, dass seine Bewohner sich nicht dem Übel der Technik unterworfen haben, die letztendlich Amok gelaufen ist. Heute werden wir uns mit den Amischen beschäftigen – der Gruppe, die unsere Vorfahren inspiriert hat. Mutige Seelen, die zu ihren Lebzeiten die Technik genauso gemieden haben, wie wir das heutzutage tun.«
»Ist sie sich der Ironie des Ganzen wirklich nicht bewusst?«, fragt Phoe. »Sie hält diesen Wir-lehnen-Technologien-ab-Vortrag, während alle eure Gehirne von Nanozyten gesteuert werden, jede Aufnahme und Abgabe jedes einzelnen Nervs genau kontrolliert wird, um eine künstliche Realität perfekt zu erleben –«
»Phoe«, flüstere ich warnend, aber es ist sinnlos; wir haben den wunden Punkt meiner imaginären Freundin getroffen.
»Technologie in Form eines Kraftfelds schützt uns vor dem Goo, das uns umgibt.« Phoe spricht manisch eindringlich. »Technologie in Form von Nanomaschinen kleidet euch ein, gibt euch zu essen, erschafft die Luft, die ihr atmet, und kümmert sich um den Abfall, den ihr ausscheidet.«
Ich habe keinerlei Einwände gegen das, was Phoe sagt; ich bin einfach nur wütend, dass sie überhaupt gerade spricht, also bewege ich meinen Mund aus reiner Boshaftigkeit: »Die Nanoreplikatoren haben außerdem die Welt in das Goo verwandelt.«
Ich höre, wie Phoe tief einatmet, und bereite mich auf eine Lawine von Einwänden vor; aber stattdessen sagt sie: »Ich weiß, dass du mich einfach nur auf die Palme bringen willst.«
»Woran hast du das erkannt?« Ich versuche so viel Sarkasmus in diesen Gedanken zu legen wie ich nur kann.
Sie antwortet nicht.
»Zweimal Schweigen an einem Tag? Ich werde definitiv besser im Umgang mit meiner imaginären Freundin«, denke ich spitz.
Sie antwortet immer noch nicht, also wende ich meine Aufmerksamkeit der Geschichtsstunde zu.
Ich bin zurück in dem Raum, in dem Lehrerin Filomenas dröhnende Stimme uns über die Tugenden der Amischen aufklärt. Ich schalte ab, weil ich weiß, dass ich sonst wieder wütend werde. Unser Lehrplan, besonders Lehrerin Filomenas Geschichtsvorlesungen, sind eine gute Übung, sich bestimmte Sachen herauszupicken. Zum Beispiel betont sie die Gemeinsamkeiten zwischen uns und den Amischen, aber ignoriert wichtige Unterschiede – wie zum Beispiel Religion – komplett. Ich habe durch meine eigenen Recherchen herausgefunden, dass die Amischen über ihre religiöse Überzeugung definiert wurden und ihre Weltanschauung völlig anders war als unsere.
Ich erwarte, dass Phoe sich zu Wort meldet und etwas sagt wie »es gibt in diesem Fall noch weniger Gemeinsamkeiten als das eine Mal, als sie Oasis mit den Visionen des alten Philosophen Platons und seiner Republik verglichen hat«, aber Phoe ist immer noch beleidigt.
Um sie zum Reden zu bringen, sage ich lautlos: »Ich frage mich, ob das die nächste Stufe meiner Geisteskrankheit ist, dass ich mir Phoes Worte exakt denken kann …«
Phoe schluckt den Köder nicht.
Gelangweilt höre ich der Vorlesung zu. Als Filomena weiterhin ihre durcheinandergewürfelte Theorie erklärt und ich mich fühle, als würde ich gerade die langweiligsten fünfzehn Minuten meines Lebens absitzen, sage ich erneut lautlos: »Vielleicht hätte ich Phoe nicht ärgern sollen.«
Phoe lässt mich weitere zehn Minuten schmoren, bevor sie ein schnelles »Geschieht dir recht« murmelt und das Gesagte dadurch unterstreicht, dass sie eine weitere quälende halbe Stunde lang nicht mit mir redet – den ganzen Rest der Stunde.
»Das ist alles für heute«, sagt Filomena schließlich, und wir sind zurück in der Realität unseres Klassenzimmers. »Vergesst nicht«, fährt sie fort, »wie jener alte Poet gesagt hat, sind diejenigen, die nichts aus der Geschichte lernen, dazu verdammt, sie zu wiederholen.«
Ich kämpfe gegen die leichte Desorientierung an, die ich immer verspüre, wenn ich aus der virtuellen Realität zurückkehre. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass Grace aufsteht, und springe ebenfalls auf.
Grace verlässt den Saal, und ich folge ihr, ohne auf Liam zu achten, der versucht, meine Aufmerksamkeit zu erlangen.
»Bitte, Grace«, sage ich, als ich sie fast eingeholt habe.
Grace bleibt mitten auf dem Gang stehen und schaut sich um.
»Was willst du?«, fragt sie, während sie sich eine rote Locke um ihren Finger wickelt. »Mach es kurz.«
»Es geht um das, was Markwart dich glauben haben lassen könnte –«
»Spare dir deine Lügen«, unterbricht mich Grace. »Ich habe schon Bericht beim Dekan erstattet.«