Kapitel 4-1

2025 Mots
4 »Sch…« »Sag besser nichts, was der Petze noch mehr Munition geben würde«, sagt Phoe, deren Wut auf mich auf einmal verschwunden ist. »Bleibe ruhig.« Ich konzentriere mich darauf, nicht zu fluchen, und frage: »Du hast es gemeldet?« Ich spreche diese Worte in der eigenartigen Hoffnung aus, dass Grace mich nur aufziehen möchte, aber ihr Gesicht ist ernst, und ich beginne, etwas zu fühlen, was die älteren Jugendlichen in Oasis fast nie verspüren. Angst. Meine Besorgnis muss sich auf meinem Gesicht widerspiegeln, denn Grace runzelt ihre Stirn und sagt mit leiser Stimme: »Du verstehst das nicht, Theo. Markwart braucht Hilfe. Ich habe das für ihn getan – und um mich zu schützen.« Meine Hände tun etwas Unerwartetes: sie ballen sich zu Fäusten. »Theo, was zum Teufel …?«, fragt Phoe. »Hast du wirklich gerade daran gedacht, ein Mädchen zu schlagen?« »Nein«, forme ich mit den Lippen und atme tief ein. »Und was hat das Geschlecht damit zu tun?« Bevor Phoe antworten kann, füge ich hinzu: »Ich habe seit Jahren nicht daran gedacht, jemanden zu schlagen, außer Owen, aber er ist ein Arschloch, also zählt es nicht, dass ich ihm eine verpassen möchte.« »Gehe jetzt weg«, meint Phoe mit entschiedener Stimme. »Das hättest du nicht tun sollen«, sage ich zu Grace und ignoriere Phoe. »Warum bist du so? Wir waren mal Freunde –« »Hast du endlich genug Mut, um mir ins Gesicht zu sagen, dass ich eine Petze bin?« Graces Stimme, die normalerweise sehr melodiös ist, hört sich wie ein Fauchen an. »Denkst du, dass ich nicht weiß, wie du und deine kleine Gang mich nennt? Alles, was ich versuche, ist, Markwart zu helfen, bevor er sich oder jemand anderem wehtut. Werd endlich erwachsen.« Und bevor ich etwas erwidern kann, stürmt sie davon. »Das ist komisch. Ich glaube sie rennt – das ist ein Regelbruch«, sagt Phoe und hört sich genauso verwirrt an wie ich mich fühle. Liam hat mich endlich eingeholt und schaut Grace hinterher, die schon fast verschwunden ist. »Wie eißeschen ist die denn drauf?« »Mann, du kannst doch nicht einfach als einziges das Sch-Wort in Schweine-Latein sagen«, meine ich verschlüsselt zu ihm. »Man muss kein genialer Kryptologe sein, um aus dem Zusammenhang darauf zu schließen, was du meinst.« »Uden annstken ichmen almen«, erwidert Liam in Geheimsprache und fügt normal hinzu: »Wie sieht’s damit aus? Das sind vier Worte: ›du‹ und ›kannst‹ und ›mich‹ und ›mal‹, und alle vier sind ohne Einschränkungen erlaubt.« Er grinst, als ich nur mit dem Kopf schüttele, und sagt danach ernsthafter: »Irgendetwas geht hier gerade vor sich, und du musst mir sagen, was es ist.« »Okay«, meine ich. »Ich werde es dir auf dem Weg zu unserem Zimmer erklären.« Als wir das Vorlesungsgebäude verlassen, beginne ich mit meiner Geschichte, und zwar mit leiser Stimme und auf Schweinelatein. Auf dem Campus drängen sich die Jugendlichen, und während wir ihn überqueren, muss ich freundlich eine Einladung ablehnen, Hacky Sack zu spielen. Kurz danach lehnt Liam weniger freundlich das Angebot ab, eine Runde Badminton als Doppel zu spielen. Erst als wir schon fast die Hälfte des Weges zu den Zimmern hinter uns gebracht haben, bin ich fertig damit, ihm Marks Dilemma zu erklären. »Was hast du denn anderes von der Lampeschen erwartet?«, fragt Liam, als wir uns dem Fußballfeld nähern. »Du hättest nicht mit ihr sprechen sollen. Ich meine, was zum Teu…« Liam beendet seinen Satz nicht, da in diesem Moment ein Fußball in seinem Schritt landet. Mit einem Aufschrei krümmt sich mein Freund und umklammert sein schmerzendes Körperteil. Bevor der Ball wegrollen kann, hebe ich ihn auf und schaue mich um. Einige Jugendliche kommen auf uns zu. »Bist du okay?«, fragt Kevin, einer von ihnen, mit dem wir kaum etwas zu tun haben. Er sieht wirklich besorgt aus. »Ja«, ertönt auf einmal die allzu bekannte, hyänenartige Stimme von Owen. »Wirst du jetzt weinen, Li-Li-Put?«, will er wissen und benutzt dabei Liams verhassten Spitznamen aus der Kinderzeit. »Es tut mir unglaublich leid«, fügt er hinzu und zwinkert mich dabei an. Eine Mischung aus Knurren, Sprache und Schweine-Latein ertönt aus Liams Mund. Owen grinst höhnisch. »Normalerweise ist es lustiger, wenn man Idioten mit einem Ball in die Eier trifft.« Liam geht einen Schritt auf ihn zu. Ich trete mit dem Ball in meinen Händen vorsichtshalber zwischen sie. Ich habe diese Situation schon Millionen Male miterlebt. Owen und seine Gang aus drei weiteren Krawallbrüdern hassen unser Trio. Diese Fehde hat schon in Kindheitstagen begonnen, als Owen und seine Kumpel alle anderen Kinder belästigt haben, die sich nicht wehrten. Wir waren allerdings keine leichte Beute, hauptsächlich wegen Liam. Damals war unsere Gruppe noch größer – unter anderem gehörte auch Grace zu uns, was heutzutage kaum zu glauben ist. Wir haben es nicht zugelassen, dass sie uns mobben; wir haben uns gewehrt. Damals waren die Dinge noch einfacher und wilder. Die Erwachsenen verschlossen ihre Augen gegenüber kleineren Ausschreitungen, da sie es als eine unvermeidbare Nebenwirkung des Gehirnwachstums betrachteten. Wer geschubst wurde, schubste zurück, wer geschlagen wurde, schlug zurück. Natürlich änderte sich das alles, als wir sieben Jahre alt wurden und sie die Stille einführten. Die Konsequenzen für Mobbing waren jetzt hart, und weder konnte Owen es weiterhin offensichtlich tun noch wir uns rächen, ohne uns den Zorn der Lehrer zuzuziehen. Außerdem nahm unser Wunsch nach Gewalt ab, außer wenn sich solche Situationen wie diese ergaben. Anstatt uns offen zu belästigen, nervt Owen uns jetzt mit Streichen, Lästereien und bösen Überraschungen – und wir stellen sicher, es ihm heimzuzahlen. »Das ist keine Stille wert«, sage ich so ruhig ich kann zu Liam. »Nicht wegen eines so unglücklichen Vorfalls.« »Genau, Li-Li-Put.« Owen schaut auf meine rechte Hand, in der ich den Ball halte. »Hör auf Warumodore.« Als ich meinen eigenen verhassten Spitznamen höre, überlege ich einen Moment lang, ob ich Owen nicht den Ball ins Gesicht schleudern sollte. Der einzige Grund, aus dem ich mich dagegen entscheide, ist der, dass ich mir sicher bin, dass er ihn fangen wird und sich wahrscheinlich noch dafür bedankt, dass ich ihm den Ball zurückgegeben habe. Ich ziehe ebenfalls in Erwägung, Liam das tun zu lassen, was er möchte, aber das ist eine schlechte Idee, da er sich tage-, wenn nicht wochenlange Stille einhandeln würde, wenn er Owen gegenüber ernsthaft gewalttätig wird. Wahrscheinlich ist das exakt Owens Plan, da er Liam ansonsten nicht anstacheln würde, um ihn in Schwierigkeiten zu bringen. Er will eine Antwort provozieren, da er weiß, dass von allen Jugendlichen in Oasis einzig und allein Liam ab und an Gewaltschübe bekommt. Wir, ich mit meiner Neugier, Mark mit seiner Launenhaftigkeit und Liam mit seinen besagten Schüben, sind wahrscheinlich die eigenartigste Gruppe von Jugendlichen in Oasis – abgesehen von unseren Todfeinden, die uns gerade gegenüberstehen und die untypische Arschlöcher sind. »Frieden ist eine gute Wahl«, flüstert Phoe. »Du bist der Einzige hier, der sich seinem Alter angemessen verhält.« »Pst«, sage ich lautlos. »Ich habe eine Idee.« »Und dahin ist deine Reife.« Phoe lacht humorlos auf. »Weißt du eigentlich, dass deine Vorfahren mit dreiundzwanzig Jahren schon als erwachsen galten? Nur weil diese Erwachsenen hier dich so behandeln, als seist du erst fünf, heißt das nicht, dass du dich auch so benehmen solltest.« Ich ignoriere sie und täusche an, den Ball auf Owens Bauch zu werfen. Er hebt seine Hände sofort mit einer geübten Torhüter-Bewegung an, aber ich lasse den Ball nicht los. Stattdessen gebe ich Liam mit meiner linken, freien Hand ein Zeichen, das nur er sehen kann. Ich strecke meinen kleinen und den Zeigefinger aus – unser geheimes Signal vom Basketball. Liam gibt einen kurzen Laut von sich, damit ich weiß, dass er mich verstanden hat, und ich trete nach rechts. Aus meiner neuen Position heraus täusche ich an, den Ball auf Owens Kopf zu werfen. Instinktiv hebt er seine Hände. Ich ändere meine Richtung und werfe den Ball so schnell zu Liam, dass ich einen Moment lang befürchte, dass er ihn nicht fangen wird. Aber genau das tut er. In Lichtgeschwindigkeit schleudert Liam den Ball sofort auf Owens Lendenbereich und sagt: »Nichts für ungut, Mann. Hier hast du den Ball zurück.« Mit einem Stöhnen umfasst Owen sein bestes Stück und geht zu Boden. »Oh, nein«, meint Liam in einer perfekten Imitation von Owens Stimme. »Sollen wir die Krankenschwester rufen?« Owen erwidert etwas mit einer Fistelstimme. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich dabei um verbotene Worte handelt, aber er sagt sie nicht deutlich genug, um sich Schwierigkeiten einzuhandeln. Nicht, dass Liam oder ich ihn gemeldet hätten, aber vielleicht die anderen. »Das war alles aus Versehen, nicht wahr?« Ich stelle Augenkontakt zu den anderen Jugendlichen auf dem Spielfeld her. Alle nicken zustimmend, auch wenn einige von ihnen uns anschauen, als seien wir eine Gruppe von tollwütigen Gorillas. Ich kann ihnen daraus keinen Vorwurf machen. Meditation, Yoga, Sport, unser Unterricht und andere Beispiele dafür, wie man sich »anständig« verhält, definieren die meisten Jugendlichen. Ich beneide sie für ihre schlichte Weltanschauung. Mit hoch erhobenem Kopf, aber einem etwas eigenartigen Gang, verlässt Liam das Spielfeld, und ich folge ihm in grüblerischem Schweigen. Als hätten wir durch diese Sache mit Mark nicht schon genügend Probleme. Nach diesem Zwischenfall bin ich besonders glücklich darüber, dass Liam, Mark und ich uns ein Zimmer teilen. Einige der Jugendlichen leben lieber in den kleineren Einzelzimmern, wenn sie älter werden, aber sie haben auch nicht solche fantastischen Freunde. Sie müssen sich auch keine Sorgen darüber machen, dass ihnen irgendwelche Idioten nachts Streiche spielen. Den Rest des Wegs sprechen wir weiterhin über Mark. Als wir unser Zimmer betreten, scheint sich Liam vollständig von Owens Wurf erholt zu haben, also nehme ich an, dass kein dauerhafter Schaden entstanden ist. Mark schläft immer noch, und Liam geht zu seinem Bett, um ihn wachzurütteln. Als Mark nicht antwortet, dreht sich Liam zu mir um und meint: »Dieser blöde Regimegegner schläft immer noch wie ein Baby.« »Reib es ihm morgen nicht noch unter die Nase«, warne ich Liam. »Er hat schon genügend Probleme.« »Aber ich hatte ihn gewarnt und ihm geraten, sich von ihr fernzuhalten«, widerspricht Liam. »Ich habe es ihm gesagt und du hast es ihm gesagt.« Seufzend bereue ich, Liam die ganze Geschichte erzählt zu haben. »Ich bin mir sicher, dass er für seine Dummheit bezahlen wird.« »Was denkst du, werden sie mit ihm tun?«, fragt Liam und sieht zur Abwechslung besorgt aus. »Ich habe ein schlechtes Gefühl bei der Sache«, erwidert Phoe, so als ob Liam sie hören könnte. »Ich habe keine Ahnung«, antworte ich und ignoriere sie. »Ich nehme an, dass wir nichts weiter tun können, als abzuwarten.« »Diese Idee, ›auf krank zu machen‹, war super«, sagt Liam. »Vielleicht sollte er das noch ausnutzen, bis er seine Bestrafung erhält. Wenn sie glauben, dass er krank ist und zu viel Schule verpasst hat, verkürzen sie vielleicht seine Stille.« »Vielleicht«, sage ich und versuche eine Hoffnung zu versprühen, die ich nicht spüre. Was ich spüre, ist die Angst von vorhin, nur stärker. Außerdem bin ich erschöpft. »Das ist die Folge des Adrenalinrauschs«, sagt Phoe. »Du bist nicht daran gewöhnt, unausgeglichen zu sein. Schlaf sollte helfen.« Als sie schlafen erwähnt, gähne ich laut. »Oh nein, das wirst du nicht«, sagt Liam und wirft mir einen frustrierten Blick zu. »Es ist noch früh. Wir könnten –« »Ich werde schlafen gehen«, sage ich entschlossen und unterstreiche mein Vorhaben dadurch, dass ich die Zwei-Handflächen-nach-oben-und-nach-unten-Geste durchführe, um mein Bett erscheinen zu lassen. »Erschaffen zu lassen«, korrigiert mich Phoe. »Die Nanos –« »Sind pedantisch«, sage ich lautlos. »Okay«, sagt Liam und ruft sich einen Stuhl. Ich ziehe meine Schuhe aus und gehe in mein Bett, sobald es erscheint – erschaffen worden ist, verbessere ich mich, um Phoe glücklich zu machen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass sich Liam in seinen Stuhl plumpsen lässt. So, wie er dasitzt, nehme ich an, dass er seinen privaten Bildschirm aufgerufen hat und gerade überlegt, was er tun soll. Da ich gerade ein netter Mensch bin, rufe ich meinen eigenen Bildschirm auf und schicke ihm einen Filmtipp: Der Zauberer von Oz. Danach gebe ich ein Zeichen, damit die Decke »erschaffen« wird und kuschele mich hinein. Meine Augen schließen sich, aber ich schlafe nicht so schnell ein wie normalerweise.
Lecture gratuite pour les nouveaux utilisateurs
Scanner pour télécharger l’application
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Écrivain
  • chap_listCatalogue
  • likeAJOUTER