1. Fahrt-1

2035 Parole
EINS FAHRT Shoshoni, Wyoming Sonntag, 19. Dezember 1976, 10:00 Uhr Patrick Der 1960 International Harvester Travelall beschleunigte aus dem Wind River Canyon und in einen wütenden Wirbel stählerner Wolken. Patrick dachte, die Fahrt durch den Canyon wäre haarig gewesen – Windungen, Kurven, Senken und steile Abhänge –, seit Wedding of the Waters, »der Vereinigung der Wasser«, dort wo der Wind River vom Boysen Reservoir nach Norden und bergaufwärts floss und zum Bighorn River in der Nähe von Thermopolis wurde. Wunderschön, wenn auch ernüchternd, sogar im Dezember, wenn Schnee an den Stirnseiten der emporragenden roter Sandstein-, Kalkstein- und Bighorn-Dolomit-Klippen haftete. Ein Fleck Schwarzeis, und es war alles vorbei, bis auf das Kreischen auf dem Weg nach unten. Diese unerwartete Wetterwand ließ ihn also seinen Bauch und seinen Griff um die Armlehne straffen. Sie hatten noch fünfundsiebzig Meilen auf ihrer Fahrt durch das karge Wind River Reservat zum Fort Washakie Gesundheitszentrum. »Das da ist ein Sturm, Doc.« Wes Braten grinste unter seinem kupferfarbenen Walrossschnauzbart, der nicht zu seinen blonden Haaren passte. Wes war Patricks bester Freund und sein manchmal-Lieblingskollege im Krankenhaus in Buffalo, Wyoming. Er hatte sich den Schnauzbart den ganzen Herbst wachsen lassen und er war sein ganzer Stolz. Patrick rieb sich über seine eigene Oberlippe. Susanne hatte ihm mit seinem Leben gedroht, wenn er überhaupt über einen nachdachte. Die graue Wand umfing sie in einem Windstoß, der die Fenster klappern ließ und sich seinen Weg ins Innere erzwang. Der Temperaturabfall kam unmittelbar. Patrick rieb sich über seine Arme. Die Sicht fiel auf ungefähr drei Meter, während Schneeflocken aus allen Richtungen zusammenzuströmen schienen, wie der Mittelpunkt einer Schneekugel. Wes stellte die Scheibenwischer an. Sie kratzten und kreischten über das trockene Glas, während sie den Schnee herunterwarfen, nur dass er vom Wind direkt wieder hinaufgeblasen wurde. Patrick griff auf der Rückbank nach seiner dicken karierten Jacke und rang sich hinein, fügte Schneehandschuhe und eine Wollmütze mit Ohrenschützern hinzu. Er schaute auf seine Füße. Wanderstiefel. Nicht gerade Schneeausrüstung, aber alles, was er mitgebracht hatte, abgesehen von seinen Laufschuhen, die noch schlechter wären. Er drehte die Heizung hoch. Sie spie einen verbrannten Geruch aus und er hörte ein schreckliches Klappergeräusch im Bauch des Biests. »Ist das okay?« »Oh, sicher. Aber stell sie für mich auf Auftauen. Auf hoch. Ansonsten wird unser Atem die Innenseite dieser Scheibe ziemlich rasch vereisen.« Patrick tat, worum Wes bat, kauerte sich dann über das Armaturenbrett. »Die Vorhersage hat unvernünftig warmes Wetter ausgerufen.« »Hast du hier nicht lange genug gelebt, um zu wissen, dass das eine Ladung Pferdeäpfel ist?« »Woher bekommst du deine Vorhersage?« »Man braucht keine, wenn man immer auf alles vorbereitet ist.« Nach fast zwei Jahren in Wyoming wusste Patrick das. Aber eine Lebenszeit in Texas hatte ihn winterweich gemacht. Das große Fahrzeug schlenkerte, fühlte sich dann an, als ob es an der Golfküste wellenritt, minus Sand, Sonne und Wasser, was ihm sagte, dass sie bereits in aufgehäuften Schnee gefahren waren. Patrick lehnte sich für einen besseren Blick zur Windschutzscheibe. Es mussten dreißig Zentimeter oder mehr auf der Straße sein. Sein Atem ließ das Glas beschlagen und, wie Wes vorhergesagt hat, er begann blitzschnell zu kristallisieren. Patrick kratzte mit dem Unterarm seines Mantels an dem Kondenswasser und Eis, wobei er es hauptsächlich einfach nur verschmierte. »Woher kam all dieser Schnee?« Wes zuckte mit den Schultern. »Höchstwahrscheinlich vom Himmel.« Patrick wäre nicht überrascht, wenn Wes eines Tages ein früher Tod ereilte, ein paar Sekunden nach einer seiner klugscheißerischen Bemerkungen gegenüber der falschen Person. Jetzt gerade konnte er allerdings sagen, was auch immer er mochte, solange er das Fahrzeug in der Spur hielt und sich weiterbewegen ließ. In einem Blizzard festzustecken stand nicht auf seinem Terminplan. Ein Schatten und zwei gelbe Punkte wie Scheinwerfer materialisierten sich auf der Straße. Wes stampfte in die Bremsen. Patrick umklammerte die Armlehne. »Was ist denn?« »Verdammter Präriehund.« Der Travelall hielt an und Wes hupte. »Präriehund?« Patrick hielt sich manchmal für so etwas wie einen Amateur-Wildbiologen, aber der Begriff war ihm nicht vertraut. »Kojote.« Patrick schaute mit zusammengekniffenen Augen in den Sturm. Tatsächlich starrte ihn ein Kojote an, bevor er davonsprang und in dem blendenden Weiß verschwand. Wes grummelte und drückte aufs Gaspedal, nahm langsam Fahrt auf. Die beiden Männer fuhren etwa fünfzehn Minuten lang in angespanntem Schweigen. Patricks Augen brannten vor Anstrengung. Schnee prasselte auf das Fahrwerk des Fahrzeugs. Es erinnerte ihn daran, wie er im Truck der Familie auf dem schlammigen Grund des Brazos River gefahren ist und ihn dann gewaschen hat, bis er im Mondlicht glänzte, damit sein Vater nicht herausfand, was er im Schilde geführt hatte. Der Schnee wurde tiefer. Wes wurde langsamer, und der Travelall mit hoher Bodenfreiheit fuhr unermüdlich, ohne zu schwanken, hindurch, wobei das Geräusch seiner Stollenreifen mit dem Pfeifen des Windes und der sich abmühenden Abtaustufe konkurrierte. Die Innenraumtemperatur sank weiter. Patrick berührte das Seitenfenster. Es war bitterkalt, kaum auszuhalten. »Was, schätzt du, ist die Temperatur da draußen?« »Ich schätze nicht. Ich weiß es, Doktor. Es sind minus 23, die Windkälte nicht mitgezählt.« Wes deutete auf seinen Seitenspiegel. »Ich habe ein Thermometer gebastelt. Klappt wunderbar.« »Das ist kühl.« Patrick versuchte, einen Blick auf das Thermometer zu werfen, fand aber nicht den richtigen Winkel. »Bei all dem Schnee werden wir zu spät kommen.« »Zu spät ist normalerweise kein Problem beim Reservat.« Wes tippte auf sein Instrumentenbrett. »Das sieht jetzt aber nicht richtig aus.« Er bremste ab und schnipste dann seinen rechten Blinker an. »Das verdammte Ding funktioniert nicht.« Er schaltete ihn wieder aus. »Was machen wir denn?« »Anhalten natürlich.« »Das kann ich sehen. Ich meinte, warum. Musst du mal schiffen?« »Nö. Nicht dass ich jemals die Gelegenheit verstreichen lassen würde. Aber wir überhitzen.« »Bei diesem Wetter?« »Jep.« Patrick verspürte einen Moment aufsteigender Panik. Seine Zeit in der Klinik war ohnehin, auch ohne Verzögerung, begrenzt. Schlimmer noch, seine Frau wäre krank vor Sorge, wenn er sie nicht einigermaßen planmäßig mit der Nachricht seiner sicheren Ankunft in Fort Washakie anrief. »Haben wir eine Panne?« Susanne war von dieser Reise gleich zu Anfang nicht begeistert gewesen. Weniger als eine Woche vor Weihnachten und nur Stunden vor der massenhaften Ankunft ihrer texanischen Familie bei deren ersten Besuch in Wyoming, alles bevor der Kalender auf 1977 umschlug. Er ging der Hausreinigung, dem Gerangel mit den Kindern und den Fahrten in letzter Minute als Haupthelfer des Weihnachtsmanns aus dem Weg. Außerdem steckten sie bei den Verhandlungen für ihr Traumhaus am bitteren Ende. Sie dachte, seine Abwesenheit könnte den Handel trüben, wenn er nicht verfügbar wäre, um bei der Lösung von Problemen der letzten Minute zu helfen. Aber war das nicht das, wofür Telefone da waren? Er glaubte jedoch an die Arbeit, die er und Wes in Fremont County leisteten. Die durch den Vertrag mit der US-Regierung versprochene indianische Gesundheitsversorgung war ständig unterfinanziert und unterversorgt, und die Gesundheitszentren für die Östlichen Shoshone und Nördlichen Arapaho im Wind River Reservat waren keine Ausnahme. Selbst wenn die Kliniken der indianischen Gesundheitsfürsorge über die Mittel verfügten, war es nahezu unmöglich, qualifiziertes medizinisches Personal für das Reservat zu rekrutieren. Angesichts von extremem Wetter, Isolation, Armut und einer fünfmal höheren Kriminalitätsrate als der nationale Durchschnitt lehnten die meisten die Gelegenheit ab oder gingen schnell wieder, wenn sie überhaupt kamen. Also hatte er im letzten Jahr einmal im Monat ehrenamtlich in Fort Washakie gearbeitet, und es gab keinen anderen Aspekt seiner medizinischen Praxis, den er lohnender fand. Das Volk brauchte ihn. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Indianers im Reservat betrug fünfzig Jahre, zwanzig weniger als im Rest des Staates. Wenn er dazu beitragen könnte, diese Zahlen zu verbessern, hätte er etwas Gutes getan, um den bequemen Lohn und Lebensstil zu rechtfertigen, die Arzt zu sein ihm einbrachten. Susanne sah die Dinge nicht derart. Während sie seinen Wunsch auszuhelfen unterstützte, war es der Zeitpunkt dieser Reise, der sie uneins machte. Und wenn es um seine Sicherheit ging – aufgepasst. Sie war eine Bärin. Aus gutem Grund. Er hatte ihr schon früher Sorgen bereitet, wenn er unerreichbar war. Es hatte ihre Intuition angestoßen und sie blindlings in die Berge rennen lassen, um ihn und die Kinder zu finden. Sie hatten in ernsthaften Schwierigkeiten gesteckt und brauchten auch ihre Hilfe. Sie würde ihm bei seiner Ankunft in der Klinik ein paar Stunden Zeit lassen, bevor sie dieses Mal Alarm schlagen würde, aber dann würde sie ihre Nachbarin Ronnie Harcourt, eine Deputy aus Johnson County, ans Telefon holen. Was seiner Meinung nach keine schlechte Sache war, da der Travelall anscheinend nicht mehr lange unterwegs sein würde. Wes bog vom Highway ab. »Gussie ist das beste Winterwetterfahrzeug im Staat, würde ich wetten, aber sie ist nicht mehr so jung wie früher.« Er schlich eine größtenteils weiße Straße entlang, seine Augen huschten zwischen Zaunpfählen auf beiden Seiten hin und her, dann trat er auf die Bremse. Gussie rutschte ein paar Zentimeter bergab und seitwärts. »Na, das wäre nicht gut gewesen.« Patrick spähte in die Finsternis. Ein Schild kündigte eine Bootsrampe in den Stausee an, in den sie fast hineingerutscht waren. »Scheiße.« »Ein ganzer Haufen.« Wes zog seine Winterkleidung an und sprang dann mit einer Taschenlampe in der Hand raus. Sein extra schlanker Körper hielt nicht viel Wetter ab, selbst mit den zwölf Zentimetern, die er auf Patricks eins vierundachtzig hatte. Er lehnte sich wieder hinein. Schnee wehte an ihm vorbei und platschte auf den Sitz. »Lass mich die Kühlerflüssigkeit überprüfen. Ich bin gleich wieder da.« Patrick schickte seinen Freund nicht allein in die Elemente. Er holte tief Luft und zog die Mützenklappen tiefer über seine Ohren. Dann war er draußen, mitten im Blizzard, wobei der Wind über den See heulte und ihn die Rampe hinauf wehte. Eisige Schneeflocken prasselten auf seine Wangen. Wes hatte die Motorhaube aufgeklappt und Patrick schlurfte auf ihn zu, benutzte Gussie, um sich beim Gehen zu stabilisieren. Die Motorhaube blockierte nicht den ganzen Wind, aber der warme Motor zog ihn an, als wäre er ein knisterndes Feuer. Schnee zischte, schmolz und dampfte davon wieder nach oben. Wes setzte den Deckel wieder auf den Kühler. »Er ist leer.« Das war schlecht. Meilenweit keine Autoteileläden oder Abschleppwagen und bei diesem Wetter niemand auf den Straßen. »Du machst Scherze.« »Mach dir keine Sorgen. Ich habe eine Ahnung, was los ist.« Patrick folgte ihm zu Gussies Heck, rutschte am Travelall entlang. Die Rampe war wie eine Skipiste. Wes öffnete die Hintertüren und wählte eine Schneeschaufel, seinen Werkzeugkasten und ein Stück Schlauch aus einem Sortiment sorgfältig zusammengestellter und gesicherter Notfallausrüstung aus. Er reichte Patrick die Schaufel. »Kannst du für mich runtergraben?« Patrick antwortete, indem er sich an die Arbeit machte und Schnee unter Gussies vorderem Ende raus- und wegschabte. Wes rutschte auf seinem Rücken mit dem Kopf voran unter das Fahrzeug. »Ich wusste es«, brüllte er. »Wusstest was?« »Eingefrorener Kühlerschlauch. So gefroren, dass er geplatzt ist. Das gesamte Wasser lief durch den geplatzten Schlauch aus, so dass nichts zum Motor gelangte, um ihn kühl zu halten. Ich kann das gleich in Ordnung bringen.« »Was ist mit dem Frostschutzmittel passiert?« »Ich benutze es nicht. Wasser ist billiger.« Bis man mitten im Nirgendwo in einem Blizzard eine Panne hat. Dann ist es eine wirklich teure Wahl. Patrick stellte sich die verschneiten, kalten Meilen vor ihnen vor. »Was ist, wenn er wieder einfriert?« Wes grunzte und seine Stimme war gedämpft. »Ich habe etwas Frostschutzmittel hinten drin. Ich werde dieses Mal ein wenig hinzufügen, und das sollte sich dann erledigt haben. Aber wenn alles andere fehlschlägt, habe ich mehr Schlauch.« »Okay.« »Im hinteren Ende ist ein Wassertank. Kannst du ihn mit etwas schönem kühlen Speicherwasser auffüllen?« »Na klar.« Patrick holte einen Zehn-Gallonen-Tank vom hinteren Ende. Sobald er gefüllt war, würde er – er rechnete schnell im Kopf – mehr als 35 Kilo wiegen. Eine ziemliche Last bei diesem Wetter und Gelände. Er schüttelte den Kopf und ging zur Seite der Rampe, bis er einen flacheren Zugang zum Stausee fand. Durch den Schnee stapfend setzte er seine Füße vorsichtig auf und fand dennoch irgendwie Steine und Löcher, die ihm bei jedem Schritt das Gleichgewicht raubten. Er schlitterte die letzten paar Zentimeter zum See, verzog das Gesicht und erwartete, dass eiskaltes Wasser durch seine Stiefel sickern würde, aber es kam nicht. Er senkte den Behälter auf dessen Seite. Er stieß auf Widerstand. Eis. Er schlug mit dem Behälter darauf und es zerbrach, wobei Wasser seinen Arm hinauf spritzte.
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