1. Fahrt-2

2058 Parole
Die Kälte packte seine volle Aufmerksamkeit. »Heilige Makrele.« Fluch-Euphemismen waren etwas, wozu Susanne ihn überredet hatte, sobald sie Kinder bekommen hatten. Er tauchte den Behälter in die offene Stelle. Wasser floss in die Öffnung, während Eis auf kleinen Wellen strömte und gegen das Plastik klopfte. Als es so aussah, als wäre der Kanister voll, kippte er ihn und schraubte den daran befestigten Deckel an. Er hob das Wasser hoch. Das Gewicht, der Wind, der Schnee, die Felsen – sie alle waren zu viel. Er stolperte bis zu den Knien in den Stausee. Der Behälter wurde zu einem tragbaren Schwimmgerät und hielt ihn aufrecht. Das eiskalte Wasser war wie tausend Kaktusnadeln, die seine Füße und Beine durchbohrten, etwas, mit dem er sehr vertraut war, nachdem sich sein Pferd Reno im Sommer zuvor vor einer Klapperschlange erschreckt und ihn in eine Stelle mit Kakteen auf seinen Podex geworfen hatte. »Gott segne Amerika.« Euphemismen waren jetzt jedoch nicht gut genug. Er brauchte mehr und rief: »Verdammte Scheiße!« Er drehte sich um, hatte vor, schnell hinausklettern, aber die glitschigen Felsen erschwerten das Gehen. Er stützte sich auf den Behälter, um eine Hebelwirkung zu erzielen, kämpfte sich heraus und drückte ihn dann an sein Abdomen, um seinen Schwerpunkt zu stabilisieren. Er verfluchte den Sturm und Gussie und das Wasser und den großen, Schwierigkeiten bereitenden Kanister. Er bewegte sich langsam auf seinem Weg, wackelnd und rutschend, und erreichte das schneebedeckte Ufer. Als er heraustrat, peitschte der Wind um seine Beine und Füße und ließ ihm noch kälter werden. Er versuchte, die Entfernung zum Fahrzeug abzuschätzen und konnte Gussies Lichter kaum sehen. Ein Luftstoß entwich seinen Lippen, wie das Lachen eines Pferdes. Er würde sich nicht zehn Meter von der Sicherheit entfernt sterben lassen, aber genau das würde passieren, wenn er zu lange draußen blieb. Zeit, das zu tun. Er watete bergauf durch Schnee, der in Eiskrusten an seiner nassen Jeans klebte. Was wie ein kurzer Spaziergang nach unten erschienen war, fühlte sich an wie eine Wanderung auf den Mount Everest, und was vorher glatt und wackelig war, war das jetzt in doppeltem Maße. Er fiel dreimal auf die Knie, bevor er Wes an Gussies Haube erreichte, wo seine Zähne so heftig klapperten, dass er befürchtete, er würde sich einen ausbrechen. Wes nahm ihm das Wasser ab, eine Augenbraue hochgezogen. »Sieht aus, als hättest du einen Eisbären-Sprung gemacht. Hast du Ersatzsocken und -handschuhe?« »S-s-s-Socken.« Patrick wusste, dass er aus dem Wind herauskommen musste, also nickte er Wes zu und eilte davon. Das Innere des Travelall war herrlich warm. Er riss seine Handschuhe runter. Nachdem er sie in der heißen Brise vom Auftauen zum Trocknen ausgelegt hatte, griff er nach hinten und zog seine Reisetasche in die Mitte des Sitzes. Er öffnete den Reißverschluss. Kleider fielen auf das Bodenbrett, als er nach Wollsocken, Turnschuhen und zwei Paar sauberer Unterwäsche grub. Er stapelte die Beute auf seinem Schoß, während er mit seinen Wanderschuhen herumfummelte. Seine kalten Finger wollten nicht mit den Schnürsenkeln kooperieren, aber mit viel Mühe bekam er sie locker genug, um sie auszuziehen, gefolgt von seinen durchnässten Socken. Er stopfte sie alle nach hinten, wobei er darauf achtete, die trockenen Kleidungsstücke zu umgehen. Dann stützte er seine eisigen Füße für einen Moment auf dem Armaturenbrett ab und stöhnte. Die warme Luft tat so schön weh. Er holte tief Luft und zwang sich, seine Füße von der Heizung wegzuziehen und seine Socken anzuziehen. Seine nasse Haut packte die trockene Wolle und er war außer Atem, als er seine Füße hineingezwängt hatte. Er schlug seine Jeans hoch und rollte sie bis über die Wade, um das nasse Material von seinen Beinen wegzubekommen, dann zog er die Socken den Rest des Weges nach oben. Als nächstes zog er seine Schuhe an. Seine Füße kribbelten und brannten jede Sekunde mehr, was ein gutes Zeichen war. Keine Erfrierungen. Schließlich wickelte er seine roten, steifen Finger in die trockene Unterhose. Was wie eine schmerzhafte Ewigkeit schien, verging. Er fragte sich, was Wes aufhielt. Ein paar Minuten später hörte er ihn hinten im Travelall, wie er seine Werkzeuge und sein Zubehör wegräumte. Dann schlossen sich die hinteren Türen und Momente später sprang Wes auf den Fahrersitz. Auch er zog seine Handschuhe aus und legte sie auf das Armaturenbrett, dann rieb er sich forsch die Hände. Er grinste Patrick an. »Und ich dachte, ich wäre nass.« »Warum ha-hast du so lange gebraucht?« »Ich habe noch einen Wasserbehälter geholt, falls wir ihn unterwegs brauchen.« Patrick war dankbar, dass Wes es ihm nicht unter die Nase gerieben hatte, dass er nicht auch ein Tauchbad genommen hatte. »Gute Idee.« »Lass uns verschwinden.« Wes schaltete in den Rückwärtsgang, ließ einen Fuß auf der Bremse und beschleunigte sanft mit dem anderen. Die Reifen drehten sich für eine herzzerreißende Sekunde, dann fanden sie Halt und der Travelall fuhr rückwärts die Steigung hoch. »Gedankt sei dem Herrn für den Allradantrieb.« Patrick dachte immer noch an sein Bad im eiskalten Wasser des Sees. Dumm. Er war nicht vorsichtig genug gewesen und hätte ertrinken oder an Hypothermie sterben können. »Worüber redest du da drüben mit dir selbst, Doc?« Patrick presste die Lippen zusammen. So sehr er es auch versuchte, er konnte sich nicht davon abhalten, seine Lippen zu bewegen, wenn er mit sich selbst sprach, was er laut seinen Freunden, seiner Familie und seinen Kollegen sehr häufig tat. »Ha ha.« Zurück auf dem Highway hatten sie Glück. Während sie Gussie verarzteten, hatte ein Schneepflug auf ihrer Straßenseite einen Durchgang geschaffen. Zumindest vorerst würde ihr neuer Kühlerschlauch nicht überschwemmt werden. Der Travelall schoss wie ein Kutter der Küstenwache über den flachen Schnee, und die Städte, die nicht mehr als Punkte auf der Landkarte waren, zogen langsam, aber stetig vorbei. Shoshoni. Rechts abbiegen, dann weiter nach Pavillion. Links nach Kinnear. Unterdessen fiel der Schnee weiter und die Sonne weigerte sich zu scheinen. Auf der 132, hinter Johnstown und auf halbem Weg nach Ethete, trat Wes auf die Bremse. Patrick setzte sich mit einem Ruck auf. Er war eingenickt. Vor sich sah er einen alten Dodge-Pickup mit Doppelkabine, der längsseitig auf der Straße stand, die Nase über einer Kante und mit blinkenden Warnleuchten. Ein Mann, von Kopf bis Fuß in bauschiger schwarzer Winterkleidung, schwenkte beide Arme über seinem Kopf. Wes hielt Gussie an, als sie sich dem Truck näherten. Wes und Patrick sahen einander an. »Wie wäre es, wenn du hinter dem Steuer bleibst«, sagte Patrick. »Ich werde nachsehen, was er will.« Er wollte Vertrauen zu seinen Mitmenschen haben. Er wollte auch nicht den Rest des Weges nach Fort Washakie laufen, wenn es sich um einen Raubüberfall handelte. »Bist du bewaffnet?« Patrick holte sein Halfter aus seiner Arzttasche und schnallte ihn sich um die Hüfte. Er überprüfte seine .357 Magnum und steckte sie dann wieder ins Halfter. »Geladen.« Er tätschelte seine Hüfte und spürte die beruhigende Härte seiner Ersatzwaffe. Wes hatte ihm zu seinem letzten Geburtstag das 15-Zentimeter-Taschenmesser geschenkt, das, auf dem im Griff KNOCHENSÄGER eingraviert war. Das, das er Chester in die Kehle gerammt hatte, dem Mann, der seine Tochter entführt hatte und ihr gegenüber sexuell übergriffig wurde. Er schauderte. Als Arzt war es seine Mission, Leben zu retten, nicht sie zu nehmen, und er hoffte, dass er nie wieder in eine Situation geraten würde, in der er sich dafür entscheiden müsste, ein Menschenleben zu beenden. Er öffnete die Tür, und der Nordwind sprengte ihm mit voller Wucht ins Gesicht. »Willst du nicht deine Hose runterkrempeln, Doc?« Patrick blickte auf seine Beine. Kniehohe grau-rote Wollsocken, Adidas Laufschuhe und Pedal Pusher Jeans. Es war die Art von Anblick, wofür einem Kerl in den Hintern getreten wurde. »Danke.« Er grinste und rollte sie herunter. »Wenn ich in fünf Minuten nicht zurück bin, schick die Kavallerie.« Er überdachte das noch einmal. »Das klingt schlecht, wenn man unseren Standort bedenkt.« »Mach dir keine Sorge. Ich stehe hinter dir.« Patrick knallte die Tür zu und duckte sich in den Wind. Auf dem Weg zum Truck knöpfte er seine Jacke zu. Wyoming ist nichts für Weicheier, dachte er. Eines der Dinge, die er daran am meisten liebte. Der Mann in Schwarz traf ihn an der Tür zum Rücksitz seines Trucks. Mit der Kapuze eng um sein Gesicht gezogen, sah Patrick glatte, dunkle Haut, erweiterte Pupillen in braunen Augen und weiße, aufgesprungene Lippen. »Meine Frau hat Wehen. Ich war dabei sie ins Krankenhaus nach Buffalo zu bringen.« Sein Gesichtsausdruck wurde beinahe entschuldigend. »Die medizinische Versorgung im Reservat ist nicht so gut. Aber der Schnee wurde zu tief. Ich habe versucht umzudrehen, und wir sind stecken geblieben. Jetzt sagt sie, das Baby kommt.« Wie aufs Stichwort ertönte vom Rücksitz ein langer, durchdringender Schrei aus dem Inneren. Der Mann zuckte und zog schwere Augenbrauen zusammen. »Ich weiß nicht, was ich tun soll, um ihr zu helfen. Meine Mutter hat alle Babys in unserer Familie zur Welt gebracht, aber sie ist vor drei Jahren verstorben.« Patrick klopfte ihm auf die Schulter. »Buffalo ist zu Ihnen gekommen. Ich bin dort Arzt. Ich war gerade auf dem Weg zum Gesundheitszentrum in Fort Washakie, um zur Hand zu gehen. Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich nach ihr schaue? Wenn sie reisen darf, könnten wir sie zumindest dort hinbringen, wo sie es wärmer und bequemer hätte. Vielleicht können Sie und mein Kumpel Ihren Truck freibekommen, während ich nach Ihrer Frau sehe.« Tränen schossen dem Mann in die Augen. »Ich danke Ihnen. Ja. Ja. Das wäre großartig.« Patrick griff nach der behandschuhten Hand des Mannes und schüttelte sie. »Ich bin Dr. Flint. Wie heißt Ihre Frau?« »Eleanor. Eleanor Manning. Und ich bin Junior.« »Ist das ihr erstes Kind?« Er nickte. »Okay, warum sagen Sie ihr dann nicht, wer ich bin, bevor ich zu ihr reinkrieche?« Patrick lächelte ihn an. Junior lachte, ein nervöses, sprödes Geräusch. »Okay.« Er öffnete die Tür, was einen süßen, würzigen Duft verströmte, der Patrick an Beeren erinnerte. Er kniete auf dem Bodenbrett und flüsterte einer schwarzhaarigen Frau, deren Körper von einem Haufen bunter Decken bedeckt war, etwas ins Ohr. Er küsste sie auf die Stirn, als sie wieder wehklagte, dann zog er sich zurück. Er nickte Patrick zu. Patrick bewegte sich an die Stelle, die Junior geräumt hatte, und betrachtete Eleanors gerötete Wangen und ihr angespanntes Gesicht. Langes, pechschwarzes Haar klebte an ihren Lippen und ihrem verschwitzten Hals. »Eleanor? Ich bin Dr. Flint. Wie geht es Ihnen?« Ihr Schrei war wie ein Schlag aufs Trommelfell. »Ich gehe um den Truck herum auf die andere Seite. Ich muss nach dem Baby sehen. Wird das okay sein?« Ihre Augen waren weit aufgerissen und mit langen Wimpern versehen. Sie biss auf aufgesprungenen Lippen und nickte in kurzen, schnellen Ruckbewegungen. »Okay. Geben Sie mir nur eine Sekunde.« Zu Junior sagte er: »Warum bleiben Sie nicht eine Minute hier und schauen, ob sie Sie ihre Hand halten lässt. Reden Sie mit ihr, lenken Sie sie weiter ab.« Junior tauchte wieder in den Truck, riss einen Handschuh ab und nahm Eleanors Hand. Patrick rannte auf die andere Seite. Er hasste es, den gemeinen Nordwind hereinzulassen, aber er hatte keine Wahl. Er zerrte die Tür auf und seine Handschuhe aus, stopfte die Handschuhe in seine Tasche und berührte dann Eleanors Knöchel. »Ich bin genau hier und werde die Decken anheben, damit ich sehen kann, was vor sich geht. Es wird kalt sein und das tut mir leid. Sie entspannen sich einfach so gut Sie können.« Hinter ihm sagte eine Stimme: »Ich habe deinen Beutel mit Quacksalberzeug mitgebracht.« Wes. Bezugnehmend auf Patricks Arzttasche. »Brauchst du Hilfe, Doc?« »Danke. Ich bin okay. Aber das hier ist Junior und er muss seinen Truck ausgraben und nach Fort Washakie ausrichten.« »Kein Problem. Junior, ich bin Wes.« Er hielt seine Schaufel hoch. »Das habe ich auch mitgebracht. Und ich habe eine Menge Übung im Graben.« Er grinste. »Danke, Wes.« Junior flüsterte seiner Frau noch einmal etwas zu und wich dann zurück, um mit Wes an die Arbeit zu gehen. Patrick stellte seine Tasche auf den Boden und wühlte darin herum. Bandagen. Antibiotika. Schmerzmittel. Valium. Phenobarbitol für Krampfanfälle. Muskelrelaxantien. Spritzen. Klebeband. Aktivkohle. Ein Stethoskop, das er sich um den Hals legte. Ein Paar medizinischer Handschuhe. Und eine Taschenlampe. Er schnappte sich die Handschuhe und die Taschenlampe, schrubbte sich die Hände im Schnee und faltete dann die Decken bis zu Eleanors Taille hoch. Er drückte ihre Knie behutsam nach oben und auseinander und schaltete die Taschenlampe ein. Er konnte den Kopf des Babys nicht sehen, was gut war.
Lettura gratuita per i nuovi utenti
Scansiona per scaricare l'app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Scrittore
  • chap_listIndice
  • likeAGGIUNGI