1. Fahrt-3

1662 Parole
Als er seinen Handschuh anzog, war er froh, dass er keinen Ring trug, damit er diesen jetzt nicht ausziehen und riskieren musste, ihn zu verlieren. Einmal, gleich nachdem er und Susanne geheiratet hatten, hatte er sich mit seinem Ehering an einem Nagel verfangen. Er war nahe daran gewesen, sich den Finger abzureißen, und seitdem hatte er den Ring nie wieder getragen. Zu Eleanor sagte er: »Ich greife hinein, um zu sehen, wie weit das Baby schon ist, Eleanor.« Im Hintergrund hörte er Wes und Junior grunzen und sich unterhalten. Alles, was er von diesem Blickwinkel aus vom Kopf der Frau sehen konnte, war ihr Haar, aber es schüttelte sich, als würde sie nicken. Patrick untersuchte den Geburtskanal. Seine Finger fanden den Kopf des Babys. Es war nicht in Steißlage. Die Frau war jedoch fast vollständig geweitet. Er entfernte seine Hand und dann die Handschuhe, führte Eleanors Knie wieder zusammen und zog die Decke wieder über ihre Füße. »Kann ich Ihr Handgelenk haben, um Ihren Puls zu messen?« Sie zog es unter der Decke hervor und hielt es ihm hin. Er zählte die Schläge mit den Augen auf seiner Armbanduhr. Als er fertig war, beugte er sich über sie. »Und jetzt werde ich Ihr Herz abhören. Schälen Sie diese Decken einfach ein paar Zentimeter nach unten, okay?« Sie sprach zum ersten Mal. Eine junge Stimme, fast kindlich vor Angst und Schmerz. »Okay.« Sie faltete die Decke nach unten. »Das wird ein bisschen kalt.« Er rieb das Stethoskop an seiner Hand hin und her, um es zu erwärmen. Dann ließ er es vorne an ihrer Bluse bis zu ihrem Herzen rutschen. Es schlug in einem beständigen wumm-wumm-wumm in seinem Ohr. Gesund und stark. »Gut. Nun, letzte Sache. Ich werde auf Ihren Bauch drücken. Es ist vielleicht unangenehm, aber ich möchte nur nach dem Baby sehen.« Sie nickte. »Okay.« Patrick glitt mit seinen Händen unter den Seitenrand der Decke. Er tastete ihren Bauch ab, bis er die Lage, Position und Bewegung des Babys feststellte. Dann suchte er mit seinem Stethoskop nach dessen Herzschlag, fand ihn und zählte erneut die Schläge gegen die Zeit auf seiner Uhr. Er konnte sich einen Seufzer der Erleichterung nicht verkneifen. Alles war so, wie es sein sollte, abgesehen von der Tatsache, dass sie mit einer bevorstehenden Geburt mitten auf der Straße in einem Blizzard feststeckten, weit weg von einem Krankenhaus. »Gute Arbeit, Eleanor. Alles sieht gut aus.« Sie schenkte ihm ein schwaches Lächeln. »Kann ich den Truck wenden?«, fragte Junior über den Kopf seiner Frau hinweg. »Ja, ich bin fertig. Eleanor, ich rede gleich weiter mit Ihnen.« Er behielt sein Stethoskop um den Hals, legte aber seine Arzttasche auf das Bodenbrett und schloss die Tür. Wieder schrubbte er seine Hände mit Schnee. Junior setzte sich auf den Fahrersitz, lenkte dann den Truck vorsichtig zurück auf die Straße und drehte ihn dabei. Wes stellte sich neben Patrick, stützte sich auf seine Schaufel und keuchte. »Also?« »Ihr Gebärmutterhals ist verstrichen und ihr Muttermund auf etwa acht Zentimeter geweitet. Aber das ist ihr erstes Baby, also denke ich, dass wir es bis zur Klinik schaffen, wenn wir uns beeilen. Ich sollte aber mit ihnen fahren.« »Klingt gut. Wir sehen uns dort.« Wes verschwand in den Sturm. Junior fuhr wieder herum und blieb stehen. Er stieg aus und ging wieder zu seiner Frau, um ihre Hand zu halten. Patrick schloss sich ihm an. »Sind Sie okay, Eleanor?« Sie nickte, und dieses Mal lächelte sie einen Moment lang, bevor ein weiteres Ächzen ihren Lippen entfloh und dann zu einem langen schrillen Schrei anstieg. Patrick blickte auf seine Uhr. Ihre Wehen lagen ungefähr fünf Minuten auseinander, vielleicht etwas weniger. Dieses Baby würde bald kommen. Als Eleanors Wehen vergangen waren, sagte Patrick: »Junior, Eleanor, alles sieht gut aus, und ich denke, wir können es ins Gesundheitszentrum schaffen. Wie wäre es, wenn ich mit Ihnen fahre?« Sie stimmten zu, und Junior sah deswegen außer sich vor Freude aus. Patrick ließ sich auf dem Vordersitz nieder. Junior fuhr schneller, als es Patrick lieb war, aber er sagte kein Wort. Er blickte hin und wieder hinter sie und war jedes Mal schockiert, wenn er bestätigt sah, dass Wes mithielt. Patrick sah nach Eleanor und beruhigte sie. Ein paar Mal versuchte er eine leichte Unterhaltung mit Junior zu führen, aber der werdende Vater schien zu nervös, um ein Gespräch zu haben. Fünfzehn Minuten später erreichte der Truck ein einstöckiges Stuckgebäude. Es war ein Relikt, die älteste existierende Klinik des Indian Health Service, IHS, die 1814 von der US-Armee als Kavalleriemarkentenderei gebaut wurde. Junior konnte sich die Plätze auf dem Parkplatz davor aussuchen. Gussie bretterte ebenfalls auf den Parkplatz und stob Schnee auf, als Wes den Travelall neben dem Dodge-Truck abstellte. »Wir sind da. Es dauert jetzt nur noch eine Minute, Eleanor«, sagte Patrick. Wes rannte voraus hinein und tauchte dann am anderen Ende einer Trage der großen, athletisch aussehenden Constance Teton wieder auf. Als Sanitäterin und ausgebildete Krankenschwester der Armee, jetzt in der Reserve, leitete sie die Klinik. Ihr Haar war aus ihrem Gesicht geflochten und hing über ihren Rücken, präsentierte eine prächtige Knochenstruktur ihrer Wangen, ihres Kinns und ihres Augenbrauenbogens. Aber es waren ihre Augen, die ihr bestes Merkmal waren. Wie die eines Kitz, braun, klar und mit dichten Wimpern. Patrick stieg aus. »Hi Constance. Danke.« Sie zwinkerte ihm zu. Die Frau war kontaktfreudig und selbstbewusst, zusätzlich zu schön, und in der informellen Umgebung der Klinik freundeten sie sich mit einer geteilten Mission an. Als er das letzte Mal in der Klinik war, hatte sie ihm beim Mittagessen im Belegschaftszimmer erzählt, dass sie als Teenager davon geträumt hatte, nach Hollywood abzuhauen, aber nicht das Geld für die Reise hatte. Ihr Ersatzplan war ein College-Basketball-Stipendium. Dann hatte sie sich das Knie zertrümmert, etwas, das das indianische Gesundheitswesen nicht abdeckte. Da diese Hoffnung zerschmettert war, unterschrieb sie einen Vertrag beim Militär. »Nächste Station, Vietnam«, hatte sie gesagt. »Zwei Touren. Eine Hochzeit, als ich auf Heimaturlaub zuhause war.« Constance öffnete die Hintertür des Trucks. Der muntere Ausdruck verschwand aus ihrem Gesicht. »Oh. Hallo Eleonore. Junior.« Ihre Stimme war kühl. Junior nickte ihr wortlos zu. Patrick runzelte die Stirn. Bevor er über den Grund für den unangenehmen Austausch nachdenken konnte, war es an der Zeit, Eleanor auf die Trage umzulagern. Wes nahm ihre Schultern. Patrick stützte ihre Bauchgegend. Constance brachte die Decken der Mannings und deckte die Frau damit zu. Innerhalb von Sekunden bedeckten Schneeflocken die Decke und Eleanors Haare. Die Frau war winzig, abgesehen von ihrem von den Wehen aufgeblähten Gesicht und Bauch. Neben ihnen parkte ein Schneemobil und eine Gestalt in ganz weißer Ausrüstung stieg ab, die sich bewegte und aussah wie der Yeti. Als er den Helm auf dem Sitz der Maschine ablegte, sah Patrick zornige rote Brandnarben auf seiner rechten Wange und seiner Kieferpartie. »Dr. Flint.« Riley Pearson hob eine Hand zur Begrüßung, ohne Patricks Augen zu begegnen, und öffnete dann seinen pelzbesetzten Jagdparka. Riley erledigte Hausmeister- und Grundstücksarbeiten im Zentrum. Introvertiert, aber nett und hilfsbereit. Ob die gesellschaftliche Unbeholfenheit eine Folge seiner Verletzungen oder aber seine Persönlichkeit war, war sich Patrick nicht sicher, genauso wie er sich nicht sicher war, ob Riley Indianer war oder nicht, mit hellbraunem Haar und grünen Augen, gepaart mit hohen Wangenknochen und einer Hakennase. Patrick sagte: »Hallo Riley. Sie haben es geschafft.« Riley fuhr normalerweise ein antikes Motorrad. Nicht das ideale Fahrzeug für die Bedingungen. Riley nickte. »Braucht ihr Hilfe?« Constance winkte ihn zu sich. »Nimm mein Ende. Ich bereite den Raum vor.« »Okay.« Riley verstaute seine Handschuhe in seinen Taschen und packte ein Ende der Trage. Er und Wes machten sich auf den Weg zur Klinik, Junior auf ihren Fersen. »Wir haben Eleanor unter Kontrolle, Dr. Flint, falls Sie sich fertig machen wollen.« Constance ging rückwärts zur Tür, während sie sprach. »Danke.« Sie drehte sich um und ging hinein. Patrick schnappte sich seine Arzttasche aus dem Dodge. Als er sich der Tür der Klinik näherte, bemerkte er einen verrosteten, verbeulten Truck, der auf der anderen Seite des Gebäudes geparkt war. Die Fahrertür war angelehnt, ein langes Bein in einem Stiefel hing heraus. »Hallo?«, rief er. Es gab keine Bewegung und keine Antwort. Vorsichtig, dass er in seinen Laufschuhen nicht ausrutschte und hinfiel, trottete Patrick zum Truck. Der Motor war abgestellt, aber er roch immer noch einen Hauch von Abgas, als wäre er vor nicht allzu langer Zeit in Betrieb gewesen. »Hallo?« Er spähte hinein. Ein Mann. »Sir?« Der große Mann saß über dem Lenkrad zusammengesunken da, die wettergegerbte braune Wange dagegen gepresst, der Mund offen und ein Haarschopf über einem glasigen Auge, während das andere ins Leere starrte. Sein grauer Cowboyhut aus Filz balancierte über der Lücke zwischen dem Bodenbrett und der leicht geöffneten Tür, eine Adlerfeder im Stirnriemen, die aufgerichtet, aber vom Wind hin- und hergeworfen war. Flauschige Würfel schwangen am Rückspiegel im Wind. Patrick legte zwei Finger auf seine Halsschlagader und tastete nach dem Puls. Keiner. Der Mann war tot. Mausetot. Einen Moment lang zog er in Betracht, eine HLW durchzuführen, aber es war klar, dass er schon eine Weile dort gewesen war. Es gab nichts Schlimmeres als jemanden, der in seiner Obhut starb, auch wenn dieser Mann noch nicht sein Patient war. Vielleicht hätte der Mann überlebt, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, ihn zu behandeln. Aber Patrick wusste, dass er es abschütteln, reingehen und ein Baby zur Welt bringen musste. Er hatte noch keine Zeit, ihn zu untersuchen und herauszufinden, was schief gelaufen war. Eine Person stirbt, eine andere wird geboren. Der Kreislauf des Lebens, wobei Patricks erste Pflicht gegenüber den Lebenden lag. Also hob er den Fuß des Mannes zurück in seinen Truck. Es war würdelos ihn so halb in, halb außerhalb seines Fahrzeugs zu lassen. Er ging nirgendwohin, und draußen war es absolut eiskalt. Das würde für ihn in Ordnung sein müssen, bis das Baby da war. Dann würde Patrick Hilfe holen, um ihn reinzubringen, und die Polizei rufen. »Entschuldigung, mein Freund.« Er schloss die Tür und hetzte entlang des Gebäudes bis zur Tür der Klinik.
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