2. Aufpeppen

1974 Parole
ZWEI AUFPEPPEN Buffalo, Wyoming Sonntag, 19. Dezember 1976, 13:00 Uhr Susanne Susanne Flint hielt das Telefon zwischen Ohr und Schulter, während sie sich aus der Schnur drehte. Sie hatte sich verheddert, und zwar ziemlich. Das hatte sie davon, zu putzen und sich gleichzeitig zu unterhalten. Aber sie konnte nicht anders. Sie war zu aufgeregt. »Ich verstehe, dass er Menschen hilft. Das tue ich wirklich. Aber hätte er nicht dieses eine Mal stattdessen mir helfen können?« In ihrem Ohr war Vangie Sibleys Tennessee-Akzent beruhigend. »Heißt das alte Sprichwort nicht ›Wohltätigkeit beginnt zuhause?‹« »Genau.« Susanne schob ihr Tuch wieder auf ihren Kopf und trug dann in kreisenden Bewegungen etwas Muskelschmalz und Möbelpolitur auf ihren Tisch mit dicker Holztischplatte auf. Sie hatte einen netten Zitronenduft. Sie hatte die letzte Stunde Red Hots-Dragee-Bonbons und Zimtstangen auf dem Herd gekocht, und die Zitrone fügte genau die richtige Würze hinzu. Wenn sie später anfing zu backen, würde es hier drin himmlisch riechen. Genau richtig für Weihnachtsgäste. Ferdinand, der alberne Irische Wolfshund, der die Flints in ihrer ersten Woche in Wyoming adoptiert hatte, stützte seinen Kopf auf den Tisch, genau dort, wo sie gerade poliert hatte. »Nein, Ferdie! Böser Hund!« Er wich zurück, Möbelpolitur verdunkelte seine langen Kinnhaare. Jetzt würde er sich hinlegen und es auf den Zottelteppich bringen. Nicht mit ihr. Sie öffnete die Hintertür. »Raus.« Er stahl sich mit seinem langen, gebogenen Schwanz zwischen seinen noch längeren Beinen hinaus. Zu Vangie sagte sie: »Meine Eltern, meine Schwester und ihr Mann und ihre Kinder. Sie alle. Ihr erster Besuch in Wyoming, und sie kommen heute Abend an. Sechs Personen, die eine Woche bleiben. Und Patrick ist wieder weg die Welt retten.« »Wann wird er zurück sein?« »Mittags am dreiundzwanzigsten. Oder spät am zweiundzwanzigsten. Er wird es mich wissen lassen. Wenn ich so darüber nachdenke, hätte er inzwischen anrufen sollen. Was bedeutet, dass er es erst heute Abend tun wird.« Sie machte ein grollendes Geräusch tief in ihrer Kehle. »Es ist gut, dass er so gut aussieht, sonst könnte ich ausgesprochen wütend auf ihn sein.« Und das war er. Sprich gutaussehend. Groß, mit fesselnden blauen Augen und etwas weniger hellbraunem Haar obendrauf als früher. Aber immer noch in Topform, ohne den Bierbauch, der bei so vielen Männern Anfang 30 begann. Vangies Stimme wurde nachdenklich. »Ich erinnere mich, dass meine Mutter mir die Bedeutung der Redensart erklärte.« Susanne hörte Bellen an der Haustür. Dieser Hund. »Welche Redensart?« »›Wohltätigkeit beginnt zuhause.‹ Sie sagte, es bedeutet, dass, da man Liebe zuhause teilt, die Menschen in deinem Zuhause besser dafür gerüstet sind, Liebe mit anderen außerhalb des Zuhauses zu teilen.« Die Haustür ging auf und zu. Sie hörte die Stimme von Perry, ihrem 12-jährigen Sohn. »Guter Junge, Ferdie. Guter Junge.« Susanne ignorierte Vangies unwillkommene Klarstellung. Das war ihr auch beigebracht worden, aber im Moment brauchte sie ihren Mann, der seine Liebe zuhause teilte. Er könnte sie später außerhalb von zuhause teilen. Sozusagen. »Jedenfalls habe ich einen halben Tag, und ich muss noch in den Laden rennen, Abendessen kochen, fertig putzen, Geschenke verpacken und mich um die Kinder kümmern.« Bah, die Kinder. »Wie geht’s der Teenager-Liebe dieser Tage?« Susanne rückte weiter zu dem geliebten Aufsatz, der zu ihrem Tisch passte. Als sie sich streckte, um die hohen Seiten zu erreichen, schnaufte und keuchte sie, was zu ihren Gefühlen zum Thema der 15-jährigen Trish und ihrem 17-jährigen Freund Brandon Lewis passte. »Na ja, du weißt, dass wir nicht versessen auf diese Beziehung sind.« »Brandons Familie hat Trish entführt und versucht, euch alle umzubringen.« Susanne versuchte, sich nicht länger mit der Tatsache zu beschäftigen, dass Brandons Verwandte mütterlicherseits Trish entführt hatten, um Patrick für den Tod ihrer Matriarchin Bethany Jones zu bestrafen, als sie sie zu spät eingeliefert hatten, als dass er sie hätte retten können. Sie hatten Trish in die Cloud Peak Wilderness geschleppt, und es hatte Patrick, Perry, Susanne und ihre Nachbarin Ronnie gebraucht, um sie zu retten. Nur Brandons Onkel, Billy Kemecke, hatte die Begegnung überlebt, und ihm drohte wegen mehrfachen Mordes ein Prozess zur Todesstrafe. Etwas, das Brandons Mutter den Flints zur Last legte und es ihnen übelnahm. Sehr. Susanne hoffte nur, dass Brandons Genetik stark zur väterlichen Seite der Familie tendierte. »Ist es zu viel verlangt, dass deine Kinder nicht mit jemandem ausgehen, dessen Familie dich tot sehen will?« »Scheint vernünftig, nur dass du über Teenager sprichst. Wo sind die Turteltauben jetzt?« »Angeblich oben bei der Kirche. Wo Perry heute Morgen aus der Sonntagsschule geschmissen wurde, weil er gekämpft hat, ob du es glaubst oder nicht.« Was passiert mit meinem süßen kleinen Jungen? Sie hoffte, dass er beim Footballspielen keine aggressive Ader entwickelt hatte. »Das ist der einzige Ort, zu dem wir sie von Brandon fahren lassen und zurück.« »Ich habe meiner Mutter auch immer gesagt, dass ich mit meinem Highschool-Freund zur Kirche gehe. Dann haben wir …« »Ich will das nicht hören.« Susanne zog das Kabel so weit es ging und beugte sich vor, um den Fernseher und den Couchtisch im Wohnzimmer abzustauben. Sie erinnerte sich, auch in diesem Alter gewesen zu sein, mit Patrick auszugehen und mit ihm durchzubrennen, als sie 18 waren. Alles, was Patrick in diesem Alter im Sinn hatte, war s*x. Ungefähr im gleichen Alter war Brandon jetzt. »Das Einzige, was zu unseren Gunsten läuft, ist, dass Trish so herrisch mit ihm ist, dass sie sich die Hälfte der Zeit streiten.« »Sich zu versöhnen ist schrecklich süß.« »Hör auf!« Sie würde weinen, wenn Vangie nicht so lustig wäre. Und Recht hatte. »Wir müssen sie nur getrennt halten, wenn sie miteinander auskommen. Aber apropos Liebe, ich habe gute Neuigkeiten wegen dem Haus.« Susanne und Patrick waren den ganzen Herbst über auf Haussuche gewesen. Sie hatte zugestimmt, weiterhin in Wyoming zu leben, wenn sie ein Haus am Clear Creek kaufen könnten. Er war auf ihr Angebot angesprungen. Sie hatte endlich eines gefunden, das sie wollte. Mehr als wollte. Es war wunderschön und perfekt und in ihrer Preisklasse. Vier Schlafzimmer, drei Bäder, mit einem Eingang auf der gleichen Ebene wie der Parkplatz – eine große Sache in einem unwegsamen Gelände, wo sich der Eingang oft auf der untersten Ebene und der Hauptwohnbereich eine Etage darüber befand. Und es erfüllte auch Patricks Anforderungen. 20 Morgen, eine Scheune, Pferdezäune und weniger als zehn Minuten vom Krankenhaus entfernt. »Dieses Traumhafte am Creek?« »Ja. Wir haben ein Angebot gemacht und die Verkäufer konterten. Dann wir, weil Patrick so unfassbar geizig ist.« »Dieser Mann könnte zwischen seinen Backen einen Cent in ein Zehncentstück quetschen.« Susanne lachte. »Könnte er. Jedenfalls sind sie heute nach unserem Gegenangebot zehntausend Dollar runtergegangen. Wenn ich Patrick dazu bringen kann, dem zuzustimmen und die Papiere zu unterschreiben, werden wir nächsten Monat umziehen.« »Juhu! Dir ist schon klar, dass du im kältesten Monat des Jahres umziehen wirst, oder?« »Es hat zwei riesige Kamine. Ich werde es den ganzen Winter lang kuschelig warm halten.« »Wenn du mit Winter meinst, bis es im Juni wärmer wird, dann klingt das wundervoll.« »Es hat auch brandneue Riegelschlösser an allen Türen.« »Nach der Tortur, die du mit Billy Kemecke durchgemacht hast, kann ich mir nur vorstellen, wie dich das anspricht. Hast du heute Morgen in der Zeitung gesehen, dass sein Prozess im Big Horn County auf März angesetzt ist?« Von unten hörte Susanne ein Krachen, ein Jaulen und dann große Füße, die die Treppe hinaufkraxelten. »Mom«, brüllte Perry. »Ferdie hat den Pflanzenständer umgeworfen.« »Ach Schande«, sagte Susanne. »Katastrophe. Ich muss in einer Sekunde gehen. Aber schnell, sag mir, wie du dich fühlst.« Nach mehreren Fehlgeburten im ersten Trimester war Vangie wieder schwanger und auf halbem Weg zum Geburtstermin. »Das mittlere Trimester ist immer noch ein Kinderspiel. Keine meiner Klamotten passen und ich liebe es. Wir haben uns entschieden, es Hank zu nennen, wenn es ein Junge ist, und Laura, wenn es ein Mädchen ist.« »Das sind perfekte Namen.« »Wir sind langsam aufgeregt.« Ferdinand sprang in gleichmäßigen Sätzen die Treppe hinauf ins Wohnzimmer, schüttelte Blumenerde von seiner langen, dünnen Nase. Susanne verspürte ein kleines Déjà-vu und sagte: »Böser Hund, Ferdie. Böse!« Vangie lachte. »Ruf mich später in dieser Woche an und lass mich wissen, dass du überlebt hast.« »Werde ich. Tschüss.« Susanne legte auf. Ferdinand zog seinen Kopf ein und ging auf Zehenspitzen auf sie zu. »Was hast du gemacht, du Trampeltier?« Sie wusste, dass sie es nicht sollte, aber sie kraulte seine Ohren, anstatt ihm einen Klaps zu geben. Der Hund war der Fluch ihrer Existenz. Es schien, als wäre das ihr Los im Leben, mit einem Haus voller Menschen und Tiere zu leben, die von ihr erwarteten, sich um alles für sie zu kümmern, und es ihr mit Schwierigkeiten und Unordnung heimzahlten. Die sie alle trotzdem wahnsinnig liebte. »Mo-om, hast du mich gehört? Ferdie hat ein übles Durcheinander angerichtet.« »Ich komme.« Susanne seufzte. Nachdem tagelangen Vorbereitungen für die Feiertage und ihre Familie, war sie am Ende und hatte noch so viel zu tun, bevor sie sich selbst fertig machen konnte. Wenigstens hatte sie den Staubsauger im Untergeschoss gelassen. Als sie die Treppe hinunterging, wobei Ferdinand in Schlangenlinien hinter ihr ging und versuchte, eine Überholspur zu finden, öffnete sich die Haustür zu Trishs Stimme. Sie kicherte, als sie das Haus betrat. Was bedeutete, dass Brandon ihr nach drinnen gefolgt war. Susanne kam um den Treppenabsatz herum und bekam einen Blick auf ihre blonde Tochter, die von ihrem schlaksigen Freund gegen die Wand gedrückt wurde, deren Lippen verschränkt. »Etwas Tageslicht, bitte.« Die beiden lösten sich so schnell voneinander, dass Brandon rückwärts gegen den Kleiderständer prallte und ihn umwarf. Er landete mit einem Krachen. Zwei der Arme brachen ab, aber nicht bevor einer von ihnen auf seinem Weg nach unten eine Furche in die Wand zog. Susanne blieb stehen, hielt die Luft an und zählte bis zehn. »Es tut mir, also, so leid, Mrs. F.« Brandon ging in die Hocke, um den Ständer aufzurichten, und sein lockiges, zu langes Haar flatterte über sein Gesicht. Er legte die heruntergefallenen Mäntel über einen Arm und hielt die zerbrochenen Stücke in der anderen Hand hoch. »Ähm, was soll ich damit machen?« Susanne blitzte ihre Tochter an. Trishs blaue Augen funkelten trotzig. Sie sah aus wie ein wütender, rebellischer Engel. Perry erschien und schwang einen eingegipsten Fuß vor sich, während er seine Krücken benutzte, um den Flur entlangzumanövrieren. Sein dunkelblondes Haar wuchs aus einem Bürstenschnitt heraus und war stachelig. Seine Haut war winterweiß, unterbrochen von einem Gesprenkel aus Sommersprossen auf seiner Nase. »Mo-om, Ferdie ist wieder im Dreck.« Susannes Geduld brach. »Perry, dein Knöchel ist vielleicht gebrochen, aber deine Arme nicht. Bring den Hund nach draußen. Trish und Brandon, geht raus zum Schuppen und sucht ein paar Klemmen und Holzleim. Klebt den Ständer wieder zusammen, nachdem ihr diese Mäntel in den Wandschrank gehängt habt. Heute Abend kommt Besuch, und von diesem Moment an helfen alle mit, sonst haben sie Hausarrest oder gehen nach Hause. Habt ihr mich verstanden?« Sie bekam drei erbärmliche »Ja Ma’ams« als Antwort. Als sich niemand bewegte, bellte sie: »Jetzt!« Und da ging die Tür wieder auf. Ihr Vater – seine ganzen gut einen Meter neunzig und knappen hundertdreißig Kilo – steckte seinen weißen Kopf durch die Tür und rief: »Huuhuu, wir sind hier!« Eine blonde Frau mit frischem Gesicht, fast so groß wie ihr Vater, spähte um ihn herum. »Sieht aus, als wäre ich auf eine Party gestolpert.« Susannes Vater grinste und ließ sie vorbei. Sie streckte ein Tablett mit Zimtschnecken, mit roten und grünen Klebeschleifen auf der Plastikfolie darüber, vor sich aus. »Wie wäre es, wenn ich die einfach in der Küche ablade?« »Ronny, danke. Du bist eine Lebensretterin.« Jetzt wusste Susanne, was sie als Frühstücksbrot servieren würde, da sie keine Zeit mehr zum Backen haben würde. Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf, während ihr bang ums Herz wurde. Sie hatte gewollt, dass für ihre Mutter und ihre Schwester alles perfekt ist. »Daddy … willkommen in Wyoming … sieben Stunden zu früh.«
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