4
Lucas
»Wie alt warst du, als es passiert ist?«, frage ich und lege meine Hand auf ihren Nacken, um die angespannten Muskeln zu massieren. Yulias Körper zittert, während sie auf meinem Schoß sitzt, und eine frische Wutwelle schnürt mich innerlich zusammen.
Jemand hat ihr wehgetan, sehr weh getan, und ich werde dafür sorgen, dass diese Person dafür bezahlen wird.
»Fünfzehn«, antwortet sie und ich höre die Anspannung in ihrer Stimme.
Fünfzehn. Ich zwinge mich dazu, ruhig zu bleiben und der vulkanischen Gewalt, die in mir brodelt, nicht nachzugeben. Ich hatte vermutet, dass es sich um so etwas handeln würde. Als sie geschrien hat, war ihre Stimme sehr hoch gewesen, fast kindlich, und die Worte sprudelten auf Russisch oder Ukrainisch aus ihr heraus.
»Wer war er?« Ich spreche mit ruhiger Stimme und fahre mit meiner Massage fort. Das scheint sie zu beruhigen, da ihr Zittern nachlässt. Ihr Gesicht ist genauso weiß wie die Laken und ihre blauen Augen sehen im schwachen Licht der Nachttischlampe dunkel aus. Sie ist zwar schon zweiundzwanzig, aber in diesem Moment sieht sie unglaublich jung aus.
Jung und unvorstellbar zerbrechlich.
»Sein Name –« Sie schluckt. »Sein Name war Kirill. Er war mein Ausbilder.«
Kirill. Ich behalte den Namen im Hinterkopf. Ich benötige auch noch seinen Nachnamen, um ihn suchen zu können, aber wenigstens habe ich einen Anhaltspunkt. Danach begreife ich den zweiten Teil dessen, was sie mir gesagt hat.
»Dein Ausbilder?«
Sie wendet ihren Blick ab. »Einer von ihnen. Sein Spezialgebiet war Nahkampf.«
Arschloch. Ein fünfzehnjähriges Mädchen – selbst ein erwachsener Mann – hätte niemals eine Chance gegen ihn gehabt.
»Und diejenigen, für die du arbeitest, haben das zugelassen?« Die Wut schleicht sich in meine Stimme und sie zuckt fast unmerklich zusammen. Da ich ihr keine Angst einjagen möchte, atme ich tief durch und versuche, meine Kontrolle wiederzuerlangen. Sie schaut immer noch weg, ihre Augen sind auf einen Punkt links von mir gerichtet. Ich lasse meine Hand in ihr Haar gleiten und umfasse sanft ihren Kopf, um ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich zu lenken.
»Yulia, bitte.« Mit Anstrengung kann ich meinen Ton ruhig halten. »Haben sie das gebilligt?«
»Nein.« Ihre Lippen verziehen sich zu einem bitteren, ironischen Lächeln. »Das war das Problem. Sie haben es nicht gebilligt.«
»Das verstehe ich nicht.«
Sie lacht, ein raues, schmerzerfülltes Geräusch. »Sie hätten es einfach hinnehmen sollen. Dann wäre er nicht so wütend gewesen.«
Mein Blut fühlt sich gleichzeitig heiß und eisig an. »Erzähle mir, was passiert ist.«
»Er begann zu mir zu kommen, als ich gerade fünfzehn wurde und sie mir die Zahnspange abnahmen.« Ihr Blick schweift wieder ab. »Als Kind war ich hässlich, musst du wissen – lang, dürr und staksig – aber als ich älter wurde, sah ich besser aus. Jungen begannen, mich zu mögen und auch die Männer bemerkten mich auf einmal. Die Veränderung passierte fast über Nacht. Er war einer dieser Männer.«
Sie nickt und wendet sich wieder mir zu. »Ja. Er war einer dieser Männer. Zuerst war es nicht so schlimm. Er hielt mich ein wenig länger auf der Matte, als nötig war, oder er ließ mich eine Bewegung häufiger wiederholen um mich anfassen zu können. Ich habe nicht einmal mitbekommen, dass er an mir interessiert war, bis er –« Sie hält abrupt inne und ein Schauer läuft über sie hinweg.
»Bis er was?«, wiederhole ich und versuche ruhig genug zu bleiben, um ihr zuhören zu können.
»Bis er mich in der Umkleidekabine in die Ecke gedrängt hat.« Sie schluckt erneut. »Er hat mich nach dem Duschen erwischt und mich angefasst. Überall.«
Dieses dumme Stück Scheiße. Jeder Zelle meines Körpers verlangt danach, diesen Mann zu töten.
»Was ist dann passiert?«, zwinge ich mich zu fragen. Das ist noch nicht das Ende der Geschichte, so viel habe ich schon verstanden.
»Ich habe ihn gemeldet.« Ein erneuter Schauer läuft durch Yulias schlanken Körper. »Ich bin zum Leiter des Programms gegangen und habe ihm von Kirill berichtet.«
»Und?«
»Und dann wurde Kirill gefeuert. Ihm wurde gesagt, dass er gehen und mich ein für alle Mal in Ruhe lassen soll.«
»Aber das hat er nicht.«
»Nein«, stimmt sie matt zu. »Das tat er nicht.«
Ich atme tief durch und bereite mich auf das vor, was jetzt kommen wird. »Was hat er mit dir gemacht?«
»Er kam in mein Zimmer im Wohnheim und hat mich vergewaltigt.« Ihre Stimme ist leise und ihr Blick wendet sich wieder von mir ab. »Er hat gesagt, dass er mich für das bestraft, was ich getan habe.«
Ihre Worte nehmen mir den Atem. Die Parallelen entgehen mir nicht. Ich hatte auch geplant, s*x als Strafe zu benutzen, meine Lust an ihrem Körper zu befriedigen und ihr gleichzeitig zu zeigen, wie wenig sie mir bedeutet.
Eigentlich habe ich genau das vorhin getan, als ich sie hart nahm und ihre Gegenwehr ignoriert habe.
»Yulia …« Zum ersten Mal seit Jahren fühle ich bitteren Selbsthass. Kein Wunder, dass sie in Panik geraten ist, als ich sie mit meinem Gewicht auf den Fußboden gedrückt habe. »Yulia, ich –«
»Die Ärzte haben gesagt, dass ich Glück hatte, dass die anderen Ausbilder mich nicht noch später gefunden haben«, fährt sie fort, so als hätte ich nichts gesagt. »Ansonsten wäre ich verblutet.«
»Verblutet?« Ein Wutanfall schnürt mir die Kehle zu. »Dieses Arschloch hat dich so stark verletzt?«
»Ich habe sehr viel Blut verloren«, erklärt sie mir und ihr Gesicht ist eigenartig ruhig als sie meinen Blick erwidert. »Es war mein erstes Mal und er war brutal. Sehr brutal.«
Dieses verfickte Arschloch wird langsam sterben. Sehr, sehr langsam. Ich stelle mir vor, wie ich einige von Peter Sokolovs Techniken an dem Ausbilder anwenden werde und diese Fantasie stabilisiert mich genug, um sie ruhig fragen zu können: »Wie lautet sein Nachname?«
Yulia blinzelt und ich sehe, wie ihre unnatürliche Ruhe wieder verschwindet. »Sein Name ist egal.«
»Mir ist er nicht egal.« Ich umfasse ihre Schultern und spüre ihre zarten Knochen. »Jetzt sag schon, Süße. Wie heißt er?«
Sie schüttelt ihren Kopf. »Das ist egal«, wiederholt sie. Ihr Blick wird härter, als sie hinzufügt: »Er ist egal. Er ist tot. Er ist seit sechs Jahren tot.«
Scheiße. So viel zu diesem Thema.
»Hast du ihn umgebracht?«, will ich wissen.
»Nein.« Ihre Augen funkeln wie Splitter eines zerbrochenen Glases. »Ich wünschte, ich hätte es getan. Ich wollte es tun, aber der Leiter unseres Programms hat stattdessen einen Killer auf ihn angesetzt.«
»Also haben sie dir deine Rache genommen.« Ich weiß, dass die meisten Menschen froh wären, wenn ein junges Mädchen nicht die Möglichkeit hätte, einen Mord zu begehen, aber ich habe niemals daran geglaubt, auch die zweite Wange hinzuhalten. Rache gibt eine gewisse Befriedigung, lässt einen eine Art Schlussstrich ziehen. Sie macht die Vergangenheit nicht rückgängig, aber sie kann dabei helfen, dass man sich besser fühlt.
Ich weiß dass, weil sie mir geholfen hat.
Yulia antwortet nicht und mir fällt auf, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Sie nimmt es ihr übel, dieser Organisation über die sie nicht sprechen will – diesem „Leiter des Programms“, der sie von Anfang an vor dem Ausbilder beschützt haben sollte.
Würde sie sie verraten, wenn ich sie jetzt nach ihnen fragen würde? Sie ist verwundet und verletzlich, nachdem sie ihre schmerzhafte Vergangenheit offengelegt hat. Ich wäre wirklich ein Arschloch, wenn ich das zu meinem Vorteil nutzen würde. Aber wenn ich es tue, bekomme ich vielleicht die Information, die ich brauche, und müsste ihr nicht wehtun.
Ich könnte sie beschützen und niemand würde ihr jemals wieder Schmerzen zufügen.
Gestern hätte ich diesen Gedanken noch verdrängt, ihn einfach als Schwäche abgetan. Ich habe mich diese ganzen Wochen selbst belogen und es ist Zeit, das zuzugeben. Ich werde ihr nicht wehtun können. Wenn ich mir vorstelle, mein Messer genauso auf ihrem Körper entlangfahren zu lassen, wie ich es bei dem Eindringling getan habe, dreht sich mir der Magen um. Schon vor ihrem Albtraum habe ich es nicht fertig gebracht, Yulia so zu behandeln, wie ich es mit einem normalen Gefangenen tun würde, und jetzt, da ich weiß wie viel sie schon durchstehen musste, macht mich der Gedanke daran, ihr weitere Schmerzen zuzufügen, körperlich krank.
Ich komme zu einem Entschluss und sage ruhig: »Erzähle mir von dem Programm.« Das ist meine beste Gelegenheit, die Informationen, die ich brauche, zu bekommen, und ich kann sie mir nicht entgehen lassen, auch wenn das bedeutet, Yulias Verletzlichkeit auszunutzen. Ich blicke ihr immer noch in die Augen, bewege meine Hand zu ihrem Nacken und streichele ihn sanft. »Wer hat dich rekrutiert?«
Sie versteinert auf meinem Schoß und ihre Gesichtszüge verzerren sich einen Augenblick lang schmerzerfüllt, bevor sie sich wieder in diese wunderschöne Maske verwandeln. »Das Programm?« Ihre Stimme hört sich kalt und distanziert an. »Darüber weiß ich nichts.«
Damit stößt sie mich weg, springt vom Bett auf und rennt aus dem Raum.