Kapitel Zwei
Valerian sitzt in einem schäbigen Zimmer, in dem die Farbe von den Wänden abblättert, auf dem Boden. Es gibt Klappstühle und ein starkes Aroma von abgestandenem Kaffee. Eines der Fenster ist schwarz, aber ich gehe noch nicht zu ihm. Dieser Traum ist eine Erinnerung, und ich bin neugierig, etwas über Valerians Vergangenheit zu erfahren.
Ich mache mich unsichtbar und lasse den Traum fortschreiten.
Alle Stühle außer einem sind von Jugendlichen besetzt, und niemand nimmt Valerian wahr, was bedeutet, dass er sich mit seinen illusionistischen Kräften unsichtbar macht. Der einzige Erwachsene im Raum ist eine Person, die ich getroffen habe – Prinzessin Peach, Felix und Ariels Mitbewohnerin.
Apropos Felix … Seine Freundin Maya ist auch hier und sitzt neben Prinzessin Peach.
Dann taucht eine andere vertraute Person auf, jemand, den ich nie wieder sehen wollte.
Hekima, der illusionistische Mörder, der mich fast mein Leben gekostet hätte, kommt herein.
Er bemerkt Valerian ebenfalls nicht, also kann ein Illusionist einen anderen Illusionisten täuschen. Gut zu wissen.
»Heute setzen wir das Thema Otherlands fort«, sagt Hekima zur Einführung. »Beginnen wir mit einem kurzen Rückblick auf die letzte Woche.«
Dann geht er darauf ein, was jeder bereits wissen sollte – dass es so etwas wie Otherlands gibt, und dass sie das sind, was die Erdenmenschen Universen nennen würden. Er erklärt, dass diese Welten verschiedene Sterne und Galaxien haben und dass sogar der Fluss der Zeit zwischen ihnen variieren kann. Es gibt eine unendliche Anzahl von ihnen, soweit man weiß, aber die Tore, die Cogniti benutzen, führen nur zu einer unbedeutenden Teilmenge.
Das muss die Einführung sein, eine Art Schule, in der Cogniti-Teenager auf der Erde Cogniti-Geheimnisse lernen. Auf Gomorrha nennen wir diese Schule einfach nur Schule, aber ich kann verstehen, warum sie mit dem Mandat und allem eine spezielle Klasse auf der Erde brauchen würden.
»Als wir uns das letzte Mal trafen, habe ich die Gefahren der Otherlands angesprochen«, sagt Hekima, als er mit den Grundlagen fertig ist. »Heute möchte ich diesen Punkt wirklich deutlich machen.«
Er hebt die Arme, und pulsierende rote Energie strömt aus seinen Fingern in jedermanns Kopf – auch in den von Valerian.
Der Raum verschwindet und wird ersetzt durch etwas, was aussieht wie eine radioaktive Einöde.
Alle außer mir fangen an, nach nicht vorhandener Luft zu schnappen. Hekima schnippt noch einmal mit den Fingern, wodurch sich die Welt in die eines üppigen Waldes verwandelt.
»Es gibt Otherlands, wo allein die Umwelt euch töten wird«, sagt er. »Aber selbst scheinbar freundliche Welten wie diese können Kreaturen haben, die so gefährlich sind, dass kein Cogniti es wagt, hier zu leben oder auch nur durch sie zu reisen.«
Eine niedliche, hirschähnliche Kreatur rennt aus dem Wald, gefolgt von einem der schlimmsten Monster, die es gibt.
»Das ist ein Drekavac«, flüstert Hekima, aber was er als Nächstes sagt, bekommt niemand mit, da der Drekavac den Hirsch einholt und ihn mit einem seiner eitrigen Glieder berührt.
Der Hirsch gibt ein panikerfülltes Geräusch von sich und stürzt zu Boden.
Der Drekavac schwebt über seinem Opfer, aber Hekima schnippt wieder mit den Fingern, und das Klassenzimmer kehrt zurück.
Warum zeigt er diesen Kindern so etwas Entsetzliches? Und warum ist Valerian hier?
»Von einem Drekavac getötet zu werden ist das schlimmste Schicksal, das jemand erleiden kann«, sagt Hekima. »Seine bloße Berührung verursacht so lähmende Schmerzen, dass schwächere Opfer daran sterben.« Er schaut über die entsetzten Gesichter. »Die Umwelt, die Flora und die Fauna sind nur einige der vielen Möglichkeiten, wie man in den Otherlands umkommen kann. Einige Tore sind nur Einbahnstraßen – also weiß niemand, was dort passiert –, und andere Tore führen in Welten, die wir, die Cogniti, in Todesfallen verwandelt haben.«
Er schnippt wieder mit den Fingern. Das Klassenzimmer verwandelt sich in eine verlassene Landschaft, in der zwei gruselig aussehende Männer jemanden jagen.
»Das ist der Rest der Welt, in der Tartaros zuletzt regiert hat«, sagt Hekima, gerade als die beiden Männer ihre Beute fangen.
Tartarus? Das ist wirklich jemand, den man anspricht, wenn man den Leuten Alpträume bereiten will.
»Die Menschen auf dieser Welt wissen über die Cogniti Bescheid und geben uns zu Recht die Schuld für die Verwüstung«, fährt Hekima fort und zeigt auf die endlosen Dünen. »Sie warten an den Toren, um einen von unserer Art zu erwischen, und wenn sie es schaffen, tun sie ihm schreckliche Dinge an.«
Wie auf Kommando fangen die beiden Männer an, ihren Fang zu zerfleischen.
Das ist einfach großartig. Die Alpträume sind jetzt garantiert. In der Schule haben wir auch gelernt, vorsichtig zu sein, wenn wir in die Otherlands reisen, aber das erforderte nicht solche Theatralik.
Hekima redet weiter über das Verhängnis und die Finsternis der Otherlands, während ich zu Valerian hinübergehe.
»Das, was ich damit sagen will, ist wirklich einfach«, sagt Hekima, als ich ihm wieder Aufmerksamkeit schenke. »Seid sehr vorsichtig auf Reisen in die Otherlands und betretet keine Tore, es sei denn, ihr seid euch absolut sicher, wohin sie führen.« Die schrecklichen Szenen wiederholen sich in schneller Folge. »Selbst wenn ihr denkt, dass das Tor sicher ist, rate ich euch eindringlich, es euch zweimal zu überlegen, bevor ihr es betretet, und definitiv zu warten, bis …«
Den Rest ignoriere ich.
Neben Valerian gibt es einen Ordner, der mir vorher nicht aufgefallen war.
Icelus-Verdächtige, steht auf dem Etikett.
Als Valerian die Mappe öffnet, ist ein Bild von Hekima oben auf den Papieren zu sehen. Zwischen dem Bild und dem echten Mann hin- und herschauend, schreibt Valerian auf das Papier unten: »Achtzig Prozent sicher.«
Wow. Hekima war ein Icelus? Es würde erklären, warum er diese Lektion so beängstigend gemacht hat – und es passt zu seiner mordenden Persönlichkeit.
»Wir haben fast keine Zeit mehr.« Hekima schaut auf seine Uhr. »Hat irgendjemand Fragen?«
Valerian springt auf.
Prinzessin Peach hebt ihre Hand und springt vor Aufregung fast von ihrem Stuhl. Hekima ruft sie auf.
Jemand flüstert etwas wie »Streber«, aber sie ignoriert es, während sie herausrasselt: »Wer hat die Tore gemacht? Wer hat die Otherlands entdeckt? Wann? Wie? Könnte …«
Als Antwort geht Hekima auf dieselbe Theorie ein, die wir auf Gomorrha gelernt haben – dass die Tore von legendären, mächtigen Teleportern gemacht wurden, die die Torbauer genannt werden. Dann schlägt er das Offensichtliche vor – dass es wahrscheinlich Welten ohne die Cogniti gibt, die als Heiligtümer übrig geblieben sind, oder Welten, in denen die Cogniti zwar existieren, die aber keine Tore haben, um sie zu verlassen.
Schließlich steht er auf und geht zur Tür, ohne auf weitere Fragen zu warten. Prinzessin Peach hebt ihre Hand, zieht sie aber wieder zurück, als Hekima mit Valerian auf den Fersen die Klasse verlässt.
Außerhalb des Klassenzimmers verfolgt Valerian Hekima zu seinem Ziel, einer kleinen Wohnung.
Hekima schaut noch einmal auf seine Uhr und lässt sich dann in sein Bett fallen.
Moment, was? Warum hatte er es so eilig, ein Nickerchen zu machen?
Valerian schüttelt den Kopf, nimmt seinen Ordner heraus und ändert die Wahrscheinlichkeit auf neunzig Prozent.
Ich enthülle beinahe meine Gegenwart, damit ich Valerian fragen kann, warum das Schlafen in einem engen Zeitplan es wahrscheinlicher macht, dass jemand ein Teil der Icelus ist, aber ich widerstehe dem Drang.
Und das ist auch gut so.
Der Traum von der Einführung hört auf, aber ein anderer beginnt, und es ist wieder eine Erinnerung.
Ein fast nackter Valerian sitzt auf einer Holzplatte in einem großen fensterlosen Raum, mit Schweißperlen auf seinem muskulösen Körper.
Lecker. Ich mag, wohin das führt. Nicht, dass ich viele Möglichkeiten hätte, außer weiter zu beobachten, was als Nächstes passiert – das schwarze Fenster fehlt. Dann wiederum könnte es in der Nähe sein, aber ich kann es nicht sehen. Es ist so heiß im Raum – im wahrsten Sinne des Wortes – dass man wegen des Dampfes kaum dreißig Zentimeter weit sehen kann. Dies ist ganz klar eine Sauna, eine alptraumhafte Erfindung für diejenigen von uns, die wirklich auf Hygiene achten.
»Illusionist«, sagt der Dampf durch den Raum mit einer melodiösen männlichen Stimme mit russischem Akzent.
»Seher«, antwortet Valerian und sieht sich um. »Vielleicht möchtest du dich zeigen.«
Mit einem Zischen sammelt sich der Dampf an einer einzigen Stelle ein paar Meter von Valerian entfernt.
Valerian wischt sich einen Schweißstrom von den Augen, und als er die Geste vollendet hat, ist der Dampf verschwunden und wurde ersetzt durch einen Mann, der nur von einem kleinen Handtuch bedeckt ist.
Mit seinen zerzausten blonden Haaren und dem wilden Bart ist dieser Mann fast so beeindruckend wie Valerian selbst. Wenn ich nicht gehört hätte, dass er als Seher bezeichnet wurde, würde ich ihn für einen Uber halten.
Moment einmal. Ein Seher. Es gibt ein paar verschiedene Arten von ihnen, aber alle gehören zu den seltensten Cogniti-Typen – ganz oben mit Drachen und Heilern.
Der Seher zieht an seinem Bart. »Du bist weise, meiner Aufforderung zu folgen. Ich muss den Gefallen, den ich dir schulde, heute zurückzahlen.«
Valerian wischt sich ein Rinnsal von Schweiß von der Stirn. »Tust du das?«
»Nach diesem Gespräch werden wir beide uns nie wiedersehen«, sagt der Seher feierlich.
»Richtig.« Valerian schüttelt den Kopf. »Und ich nehme an, du weißt schon, was ich fragen werde?«
»Ich weiß all die Dinge, die du zu fragen in Betracht gezogen hast.« Der Seher schnappt sich eine Kelle in der Nähe, taucht sie in einen Wassereimer und schüttet Wasser in einen herdähnlichen Apparat in der Nähe. Mit einem Zischen füllt mehr Dampf den Raum. »Du willst wissen, wie du Hekima, den neuesten Agenten von Icelus, den du gefunden hast, loswerden kannst«, fährt der Seher fort. »Und du willst es so machen, dass es niemals mit dir in Verbindung gebracht werden kann – was schwierig ist aufgrund deines offensichtlichen Ehrgeizes, Hekimas Platz im New Yorker Rat einzunehmen.«
»Ich kann verstehen, warum deine Art den Ruf hat, den sie hat.« Valerian streicht sich sein schweißnasses Haar zurück. »Du kennst meine Fragen. Hast du eine Antwort?«
»Schicke eine anonyme E-Mail an Kain, den neuen Leiter der New Yorker Vollstrecker«, sagt der Seher. »Sag ihm, dass du von der Morduntersuchung weißt, die Kain leitet, und dass du einen perfekten Kandidaten für ihn hast.«
Trotz der Hitze im Raum wird mir kalt.
Das kann nicht sein.
Das würde er nicht tun.
Das hat er nicht getan.
Valerian runzelt die Stirn. »Wen?«
»Die Traumwandlerin, die ein paar Aufträge für dich erledigt hat«, sagt der Seher. »Schlage sie vor, und du bekommst, was du willst.«
»Ihr wollt mich wohl verarschen«, murmele ich.
Valerian schaut mich direkt an.
Verdammter Mist. Ich wollte das nicht laut aussprechen.
Valerians Stirnrunzeln vertieft sich, und er muss die Wirklichkeit seines Traums so verändern wie einst Hekima, denn ich werde gegen meinen Willen sichtbar.
Er blinzelt mich an. »Bailey? Warum bist du hier?«
Mein Unglaube verwandelt sich in Wut. »Du hast mich vor den Bus geworfen, nicht wahr?« Ich gehe auf ihn zu. »Kain und seine Vampire haben mich entführt und gezwungen, für den Rat zu arbeiten, weil du es vorgeschlagen hast. Wie konntest du mir das antun?«
Er erbleicht. »Es tut mir leid.« Er steht auf, und der Schweiß tropft in alle Richtungen. »Ich kannte dich nicht, als ich mit Jaroslav sprach. Wir hatten uns nur gegenseitig gemailt.«
»Und du glaubst, du kennst mich jetzt? Denn ich kenne dich ganz sicher nicht.«
Und bevor ich etwas tue, was ich später bereuen werde, reiße ich mich aus seinem Traum heraus.