Kapitel 1
Das Rudelfest.
Maurices Sicht
„Vater, brauchst du wirklich noch mehr?“, fragte ich und hielt die Kristallkaraffe vorsichtig, während ich ihm den tiefroten Wein einschenkte.
Er lächelte mich an. Es war ein müdes, aber stolzes Lächeln, das mich wieder wie ein kleines Mädchen fühlen ließ.
„Es ist ein Fest. Maurice, ein Glas mehr würde mir nicht schaden.“
Ich reichte es ihm, meine Finger streiften ihn kurz. Seine Haut war jedes Jahr während des Festes warm. Ich beobachtete ihn dann mit stolzer, starker und gebieterischer Ausstrahlung.
Doch heute Abend war etwas anders. Da war eine Anspannung in seinen Schultern, eine Verkrampfung um seinen Kiefer, die mir vorher nie aufgefallen war.
„Langsam, ja?“, sagte ich leise.
„Wir müssen noch die Zeremonie beenden, Papa.“
„Mir geht es gut“, sagte er mit ruhiger Stimme.
„Du machst dir zu viele Sorgen“, fügte er hinzu.
Ich blickte hinüber in den Flur und sah Jasper. Er unterhielt sich mit den Rudelältesten, drei Männern, die älter waren als mein Vater. Sie trugen alle dunkle Anzüge.
Er gestikulierte, während er ruhig und gefasst sprach. Einer der Ältesten nickte und lächelte. Jasper erwiderte das Lächeln höflich, stand aufrecht und strahlte Selbstbewusstsein ohne Arroganz aus.
Mir stockte der Atem, und ich konnte den Blick nicht abwenden. Ich liebte ihn. Ich hatte ihn jahrelang geliebt, still und tief. Seine Haltung, sein Blick – manchmal ließ mein Herz so schnell rasen, dass ich es nicht kontrollieren konnte.
„Du starrst schon wieder“, sagte Vater und blickte in die Richtung, in die ich starrte.
„Nein, habe ich nicht …“, sagte ich schnell und wandte den Kopf ab.
Er hob eine Augenbraue. „Sicher nicht. Er ist ein guter Mann, Maurice. Ich verstehe, warum du so an ihm hängst.“
Ich senkte den Blick und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg. „Das ist er.“ Ich gab es leise zu.
„Ich… ich vertraue ihm blind.“
Vater lächelte. „Dann werdet ihr ein tolles Luna-Team abgeben. Du und Jasper werdet dieses Rudel führen.“
Ich zwang mir ein kleines Lächeln ab, doch meine Brust fühlte sich eng an. Der Abend sollte perfekt sein. Die Halle war erfüllt von Energie – Wölfe in eleganten Gewändern, der Duft von Braten und frischem Brot lag in der Luft, goldene Kronleuchter warfen Licht auf den polierten Boden.
Ich nahm jedes Detail wahr, jede Bewegung, jedes Gemurmel, doch all das verschwand, sobald ich Jasper ansah.
Plötzlich flogen die Flügeltüren am anderen Ende der Halle auf.
„Es tut mir so leid, dass wir zu spät sind!“
Selena stürmte herein, Evan, ihren dreijährigen Sohn, auf dem Arm. Ihre blonden Locken wippten, als sie auf uns zueilte. Sie war müde, aber voller Energie.
„Selena, du hast es geschafft!“, seufzte ich erleichtert.
„Ich habe es gerade noch geschafft“, sagte sie, während sie Evan absetzte.
„Er weigerte sich, seine Schuhe anzuziehen, und ich dachte schon, wir würden ihn nie aus dem Haus bekommen.“
Vater lächelte und beugte sich leicht hinunter, um Evan über den Kopf zu streicheln. „Du kommst gerade rechtzeitig, Evan. Komm und sag deinem Großvater Hallo.“
Der kleine Junge grinste und rannte los. „Hallo, Opa!“
Vater lachte leise und klopfte ihm auf die Schulter. „Du bist ja schon groß, bald bist du größer als ich.“
Selena lachte und strich ihr Kleid glatt. „Hoffentlich nicht so bald, er ist immer noch mein Baby.“
Ich lächelte die beiden an. Ihre Anwesenheit linderte die Anspannung in meiner Brust. Für einen Moment fühlte sich alles ruhig und normal an.
„Du siehst heute Abend wunderschön aus, Maurice“, sagte Selena leise.
„Jasper wird ausflippen“, sagte sie.
Ich verdrehte die Augen und versuchte, meine Aufregung zu verbergen. „Hör auf damit.“
„Unmöglich“, sagte sie grinsend.
„Ihr zwei passt perfekt zusammen.“
Ich sah wieder zu Jasper hinüber, und er kam auf uns zu. Seine dunklen Augen trafen meine. Mein Herz machte ein Kribbeln. Er lächelte leicht, und ich spürte, wie sich Wärme in mir ausbreitete.
„Alles ist bereit“, sagte er, als er Vater erreichte.
„Die Ältesten sitzen, und die Gäste warten auf Ihre Rede.“
Vater nickte. „Gut, dann fangen wir an.“
Jaspers Blick traf meinen; er lächelte sanft. „Du siehst umwerfend aus.“
„Danke“, flüsterte ich.
Er griff nach meiner Hand, es war nur eine leichte Berührung, und mein Herz schmerzte. Ich drückte sie kurz zurück. Ich liebte ihn so sehr, ich vertraute ihm in diesem Moment mein Leben an, vor den Augen aller Anwesenden. Ich wusste, er war mein Anker.
Das Orchester spielte eine leisere Melodie und kündigte damit den Beginn der Zeremonie an. Die Gäste strömten langsam zur Mitte des Saals, wo das Rednerpult stand.
Die Bediensteten bewegten sich leise, richteten die Dekorationen, zündeten Kerzen an und sorgten dafür, dass alles perfekt war.
Vater rückte seine Jacke zurecht und bestieg das Rednerpult. Er sah mich stolz an, und ich nickte ihm aufmunternd zu, bevor ich mich wieder der Menge zuwandte.
Meine Hände fühlten sich feucht an, aber ich straffte die Schultern. Diese Nacht war für so viele Menschen bedeutsam, für das Rudel, für Jasper, für Vater und für mich.
„Meine Rudelmitglieder“, begann Vater mit fester Stimme.
„Heute Abend feiern wir nicht nur unsere Einheit, sondern auch die Zukunft unseres Rudels.“
Applaus brandete auf und hallte durch den Saal. Ich zwang mich zu einem Lächeln, während mein Blick zu Jasper wanderte. Er stand aufrecht und ruhig da, doch ich sah die Anspannung in seinem Kiefer. Die Last der Nacht lag auf unseren beiden Schultern.
„Als Alpha“, fuhr Vater fort.
„Ich habe dieses Rudel mit Stolz geführt, doch heute Abend ist alles anders. Heute Abend wird meine Tochter Maurice ihren Platz als Luna an der Seite ihres auserwählten Gefährten Jasper Greyson einnehmen.“
Erneut erfüllte Applaus den Raum, und ich warf Jasper einen Blick zu. Er nickte kurz, lächelte gezwungen, und meine Brust schwoll an. Ich liebte ihn, ich liebte ihn von ganzem Herzen.
Ich wollte ihn erreichen, ihn berühren, ihm zeigen, dass ich ganz und gar ihm gehörte.
Vater hob die Hand, um Stille zu gebieten. „Gemeinsam werden sie diese Gruppe mit Ehre und Stärke anführen. Ich könnte nicht stolzer auf Maurice sein. Und ich vertraue Jasper –“
Er verstummte, und mein Herz setzte einen Schlag aus, als sich sein Gesichtsausdruck veränderte. Verwirrung lag auf seinem Gesicht, er legte die Hand auf seine Brust, drückte sie fest und schwankte.
„Vater?“, flüsterte ich mit zitternder Stimme.
Der Saal verstummte, alle Blicke richteten sich auf ihn. Seine Augen weiteten sich vor Panik, und er öffnete den Mund, doch kein Wort kam heraus. Nur ein feuchtes, ersticktes Geräusch, als Blut aus seinen Lippen floss.
„Papa!“, schrie ich.
Er taumelte vom Podium zurück und klammerte sich am Rand fest. Ich rannte zu ihm.
„Hilfe!“, rief ich mit zitternder Stimme.
Ein Raunen ging durch den Saal, die Gäste waren wie erstarrt, Schock und Panik machten sich in der Menge breit.