Der Juli hatte Rivertown fest im Griff. Die Sonne stand hoch am Himmel, erbarmungslos und gnadenlos, und selbst die schattigen Ecken der kleinen Stadt schienen keine Zuflucht mehr zu bieten. Es war einer dieser Tage, an denen die Hitze wie eine lebendige Kreatur erschien – schwer, erstickend, immer gegenwärtig. Lily Parker saß am Fenster ihres Zimmers und beobachtete, wie die Luft draußen flirrte. Ihr Blick war auf die leeren Straßen gerichtet, wo das Pflaster glühte, als würde es die Hitze selbst ausstrahlen. Die wenigen Menschen, die es wagten, draußen zu sein, huschten wie Geister an den Gebäuden entlang.
„Das ist doch nicht normal“, murmelte Lily und schob sich eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Die Klimaanlage war ausgefallen, wie bei fast jedem in der Stadt, und der Ventilator an der Decke bewegte die heiße Luft nur von einer Ecke des Zimmers in die andere. Ihre Mutter, Karen Parker, hatte den Fernseher in der Küche eingeschaltet. Aus dem Raum drang die monotone Stimme eines Nachrichtensprechers, der von der „ungewöhnlichen Hitzewelle im Mittleren Westen“ berichtete. Der Stromverbrauch sei auf einem Rekordhoch, und die Krankenhäuser seien überfüllt mit Menschen, die an Hitzschlägen litten.
„Mach was Produktives, Lily“, rief ihre Mutter aus der Küche. „Du kannst nicht den ganzen Sommer am Fenster hängen.“
Lily antwortete nicht. Sie hasste den Sommer – vor allem in Rivertown. Die Hitze schien hier etwas Dunkles mit sich zu bringen, etwas, das man nicht greifen konnte, aber doch spürte. Es lag in der Art, wie die Leute sich ansahen, wenn sie glaubten, niemand bemerke es. Es lag im Flüstern des Windes, das nachts durch die Felder zog. Draußen bog ein rostiger Pickup-Truck um die Ecke und hielt vor dem alten Diner. Ein Mann stieg aus, zog sich den Hut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Lily beobachtete ihn ausdruckslos.
„Verdammt heiß, nicht wahr?“ rief ein Junge, der an der Wand des Diners lehnte, eine Zigarette zwischen den Lippen. Der Mann nickte, zog eine Wasserflasche aus dem Truck und trank hastig. „Ich hab in fünfzig Jahren noch nie so einen Sommer erlebt“, sagte er.
„Kommt nicht von ungefähr“, meinte der Junge, und sein Tonfall ließ Lily aufhorchen. „Das passiert jedes Mal, wenn Miss Summer auftaucht.“ Lily schnaubte leise. Wieder diese blöde Geschichte. Miss Summer, die Frau aus den Märchen und Legenden, die angeblich Wünsche erfüllte, wenn man bereit war, den Preis zu zahlen. Die Alten in Rivertown erzählten sich diese Geschichten seit Generationen, besonders an Tagen wie diesem. Aber Lily glaubte nicht daran. Die Stimmen der beiden Männer wurden leiser, als sie ins Diner verschwanden, und Lily wandte sich vom Fenster ab. Ihre Stirn glänzte vor Schweiß, und ihre Haare klebten an ihrem Nacken. Sie griff nach ihrem Tagebuch, das auf dem Nachttisch lag, und blätterte durch die Seiten. Das Tagebuch ihrer Großmutter hatte sie in einer alten Kiste auf dem Dachboden gefunden. Es war verstaubt, die Seiten vergilbt, und die Schrift war krakelig und schwer zu entziffern. Doch es hatte sie fasziniert. Besonders die Passagen, die von einem „Sommer voller Wunder“ sprachen.
Ein Satz hatte sie besonders irritiert: „Sie erfüllt Wünsche, aber sie nimmt mehr, als sie gibt.“ Lily hatte die Worte mehrfach gelesen, doch sie ergaben keinen Sinn. Wer war „sie“? Und warum schrieb ihre Großmutter so, als hätte sie diese „sie“ tatsächlich getroffen? Ein Klopfen an ihrer Tür riss sie aus ihren Gedanken. „Lily, das Essen ist fertig!“ rief ihre Mutter.
„Komm gleich!“ rief sie zurück und legte das Tagebuch weg. Als sie die Treppe hinunterging, fiel ihr Blick aus dem Flurfenster. Am Horizont, direkt über dem alten Maisfeld, schien die Luft anders zu flirren – fast wie eine Bewegung, die nicht von der Hitze stammen konnte. Lily blinzelte, aber als sie wieder hinsah, war da nichts. Nur die Hitze. Die lebendige, schwer atmende Hitze, die jeden Atemzug zu einem Kampf machte.