1. Kapitel-2

2048 Words
»Und wo wirst du dich hinsetzen?«, fragte sie. Sie versuchte, ruhig und gelassen zu klingen, aber das wirkte nicht sehr überzeugend. Sie hoffte nur, dass er nicht hörte, wie nervös sie war. Doch er grinste nur breit und enthüllte dabei seine perfekten Zähne. »Gleich hier drüben«, antwortete er und ging zu der breiten Fensterbank, die nur ein paar Schritte entfernt war. Sie sah ihn an, und er hielt ihren Blick fest. Eigentlich wollte sie wegsehen, aber irgendwie gelang ihr das nicht. »Danke«, sagte sie und war sofort sauer auf sich selbst. Danke? Mehr nicht? Danke!? »Gut so, Barack!«, schrie eine Stimme. »Gib diesem netten weißen Mädchen deinen Sitzplatz!« Gelächter folgte, und der Lärmpegel im Raum stieg wieder an. Die anderen ignorierten sie wieder. Caitlin sah, wie er verlegen den Kopf senkte. »Barack?«, fragte sie. »Heißt du so?« »Nein«, antwortete er und wurde rot. »Sie nennen mich bloß so. Wie Barack Obama. Sie finden, ich sehe im ähnlich.« Sie betrachtete ihn genauer und stellte fest, dass da tatsächlich etwas dran war. »Es liegt daran, dass ich halb schwarz, teilweise weiß und teilweise puerto-ricanisch bin.« »Nun, ich finde, es ist ein Kompliment«, erwiderte sie. »Nicht so, wie sie es sagen«, widersprach er. Als sie ihn dabei beobachtete, wie er sich auf die Fensterbank setzte, merkte sie, dass sein Selbstvertrauen angekratzt war. Und sie erkannte, dass er sensibel war. Sogar verletzlich. Er passte nicht zu diesen Kids. Es war verrückt, aber auf einmal hatte sie das Bedürfnis, ihn zu beschützen. »Ich bin Caitlin«, stellte sie sich vor, streckte die Hand aus und sah ihm in die Augen. Überrascht blickte er auf, und sein Lächeln kehrte zurück. »Jonah«, entgegnete er. Mit festem Griff nahm er ihre Hand und schüttelte sie. Als sie seine glatte Haut spürte, begann ihr Arm zu prickeln. Sie hatte das Gefühl, dass sie miteinander verschmolzen. Er hielt ihre Hand eine Sekunde zu lange fest, und unwillkürlich erwiderte sie sein Lächeln. * * * Der Rest des Vormittags lag irgendwie im Nebel, und als Caitlin schließlich die Cafeteria erreichte, war sie hungrig. Sie öffnete die große Tür und wurde völlig erschlagen von dem riesigen Raum und dem unglaublichen Lärmpegel der gefühlt tausend Kids, die alle durcheinanderschrien. Es war, als würde man eine Sporthalle betreten – wenn man einmal davon absah, dass alle fünf Meter Sicherheitsleute in den Gängen standen und das Geschehen aufmerksam beobachteten. Wie üblich wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Suchend sah sie sich in dem großen Raum um und entdeckte schließlich einen Stapel Tabletts. Sie nahm sich eins davon und stellte sich an das Ende der Warteschlange – oder an das, was sie dafür hielt. »Nicht vordrängeln, du Schlampe!« Caitlin drehte sich um und sah sich einem übergewichtigen Mädchen gegenüber, das sie um fünfzehn Zentimeter überragte. Finster blickte es auf Caitlin herunter. »Es tut mir leid, ich wusste nicht ...« »Das Ende der Warteschlange ist da hinten!«, fauchte ein anderes Mädchen und deutete mit dem Daumen hinter sich. Caitlin sah, dass die Schlange noch mindestens hundert Schüler weit zurückreichte. Es sah aus, als müsse man bestimmt zwanzig Minuten warten. Gerade machte sie sich auf den Weg zum Ende der Reihe, als ein Schüler in der Schlange einen anderen so stark schubste, dass er vor ihr auf den Boden knallte. Dann sprang der erste Junge auf den am Boden Liegenden und boxte ihn ins Gesicht. Die ganze Cafeteria brach in begeistertes Grölen aus, und Dutzende von Kids umringten die Kämpfer. »KÄMPFEN! KÄMPFEN!« Caitlin trat einige Schritte zurück und beobachtete entsetzt die gewalttätige Szene zu ihren Füßen. Schließlich kamen vier Wachleute herüber und beendeten das Ganze. Sie trennten die beiden blutenden Jungs voneinander und brachten sie weg. Dabei schienen sie es jedoch nicht besonders eilig zu haben. Nachdem Caitlin endlich ihr Essen bekommen hatte, sah sie sich suchend um. Sie hoffte, irgendwo Jonah zu entdecken, aber er war nirgendwo zu sehen. Also ging sie die Gänge entlang, aber fast alle Tische waren komplett besetzt. Zwar gab es noch ein paar wenige freie Plätze, aber die wirkten nicht gerade einladend, weil man dort hätte neben großen Cliquen sitzen müssen. Zu guter Letzt fand sie einen freien Tisch ganz hinten. An seinem Ende saß nur ein kleiner, zierlicher Chinese mit Zahnspange, der ziemlich ärmlich gekleidet war. Doch er hielt den Kopf gesenkt und konzentrierte sich ausschließlich auf sein Essen. Sie fühlte sich einsam. Prüfend kontrollierte sie ihr Handy. Auf f******k hatte sie einige Mitteilungen von Freunden aus ihrem letzten Wohnort bekommen. Sie wollten wissen, wie es ihr in New York City gefiel. Aber ihr war nicht danach, ihnen zu antworten, sie waren so weit weg. Caitlin bekam kaum etwas hinunter, offensichtlich war die Übelkeit des ersten Tages noch nicht ganz verschwunden. Also versuchte sie, an etwas anderes zu denken. Sie schloss die Augen und dachte an ihre neue Wohnung im fünften Stock eines schmutzigen Gebäudes ohne Fahrstuhl in der 132. Straße. Sofort wurde ihr noch übler. Sie atmete tief durch und zwang sich, an etwas Schönes in ihrem Leben zu denken. An ihren kleinen Bruder. An Sam. Er war vierzehn und ging scharf auf die zwanzig zu. Sam schien immer zu vergessen, dass er der Jüngere war – er benahm sich, als wäre er ihr älterer Bruder. Inzwischen war er tough und abgebrüht, weil sie ständig umzogen, ihr Dad sie verlassen hatte und wegen der Art und Weise, wie ihre Mutter ihre beiden Kinder behandelte. Caitlin sah, wie sehr ihm das alles zu schaffen machte, und sie registrierte, dass er anfing, sich abzukapseln. Seine häufigen Streitereien in der Schule überraschten sie nicht. Vielmehr fürchtete sie, dass das alles noch schlimmer werden würde. Aber was Caitlin anging, so liebte Sam sie aus ganzem Herzen. Und sie ihn. Er war die einzige Konstante in ihrem Leben, der einzige Mensch, auf den sie sich verlassen konnte. Offensichtlich war sie das Einzige auf der Welt, wofür er noch eine Schwäche hatte. Deshalb war sie fest entschlossen, sich alle Mühe zu geben, um ihn zu beschützen. »Caitlin?« Sie zuckte zusammen. Neben ihr stand Jonah. Mit der einen Hand balancierte er ein Tablett, und in der anderen trug er einen Geigenkasten. »Darf ich mich zu dir setzen?« »Ja, ja natürlich«, stammelte sie verwirrt. Idiotin, dachte sie. Hör auf, nervös zu sein. In Jonahs Gesicht blitzte sein Lächeln auf, dann nahm er gegenüber Platz. Er saß sehr gerade, nahm eine perfekte Körperhaltung ein und legte seine Geige vorsichtig neben sich. Dann erst stellte er behutsam sein Tablett mit dem Essen ab. Er hatte etwas an sich, was sie nicht richtig einordnen konnte. Er war anders als alle Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte. Es war, als stammte er aus einer anderen Epoche. Und er gehörte definitiv nicht an diesen Ort. »Wie war dein erster Tag?«, fragte er. »Nicht so, wie ich es erwartet hatte.« »Ich weiß, was du meinst«, erwiderte er. »Ist das eine Geige?« Sie deutete mit dem Kinn auf sein Instrument. Er behielt es nahe bei sich und hatte eine Hand darauf gelegt, als hätte er Angst, es könnte gestohlen werden. »Genau genommen ist es eine Bratsche. Sie ist nur ein bisschen größer als eine Geige, hat aber einen ganz anderen Klang. Viel weicher.« Sie hatte noch nie eine Bratsche gesehen und hoffte, er würde sie auf den Tisch legen, um sie ihr zu zeigen. Aber er machte keine Anstalten, sie aus dem Kasten zu nehmen, und Caitlin wollte nicht zu neugierig wirken. Seine Hand ruhte immer noch auf dem Instrument, es sah aus, als würde er es beschützen, als wäre es etwas Persönliches, etwas Privates. »Übst du viel?« Jonah zuckte mit den Schultern. »Einige Stunden täglich«, antwortete er lapidar. »Einige Stunden!? Du musst großartig spielen!« Wieder zuckte er mit den Schultern. »Ich spiele vermutlich ganz passabel. Es gibt viele Musiker, die viel besser sind als ich. Aber ich hoffe, es ist meine Fahrkarte, um von dieser Schule wegzukommen.« »Ich wollte immer gerne Klavier spielen«, gestand Caitlin. »Warum tust du es dann nicht?« Sie wollte gerade sagen: Weil ich nie ein Klavier hatte, verkniff es sich dann aber. Stattdessen zuckte sie mit den Schultern und richtete den Blick auf ihren Teller. »Dazu musst du kein eigenes Klavier besitzen«, erklärte Jonah. Sie sah ihn an, verblüfft, dass er ihre Gedanken gelesen hatte. »Hier in der Schule haben sie einen Proberaum. Neben all den ganzen schlechten Dingen hier gibt es also auch etwas Gutes. Du kannst kostenlosen Unterricht bekommen, du musst dich nur anmelden.« Erstaunt riss Caitlin die Augen auf. »Wirklich?« »Vor dem Musikraum hängt eine Anmeldeliste. Frag nach Mrs. Lennox und sag ihr, dass du eine Freundin von mir bist.« Freundin. Das gefiel Caitlin. Sie spürte, wie sich langsam ein Glücksgefühl in ihr ausbreitete. Sie lächelte, und ihre Blicke trafen sich. Als sie in seine leuchtend grünen Augen starrte, brannte sie darauf, ihm eine Million Fragen zu stellen: Hast du eine Freundin? Warum bist du so nett zu mir? Magst du mich wirklich? Doch stattdessen biss sie sich lieber auf die Zunge und schwieg. Sie fürchtete, dass ihr gemeinsames Essen bald vorbei sein würde, und zerbrach sich den Kopf, wie sie ihre Unterhaltung verlängern könnte. Angestrengt suchte sie nach einer Frage, die ihr ein Wiedersehen mit ihm sichern würde. Aber sie wurde nur noch nervöser und erstarrte in Schweigen. Schließlich öffnete sie doch noch den Mund, um etwas zu sagen, aber genau in dem Augenblick klingelte es. Im Raum brachen Lärm und Unruhe aus. Jonah stand auf und griff nach seiner Bratsche. »Ich bin spät dran«, erklärte er und nahm sein Tablett. Dann warf er einen Blick auf ihr Tablett. »Soll ich deins auch mitnehmen?« Sie stellte fest, dass sie es völlig vergessen hatte, und schüttelte den Kopf. »Okay«, meinte er. Auf einmal wirkte er schüchtern. Anscheinend wusste er nicht, was er sagen sollte. »Naja ... dann bis bald.« »Bis bald«, echote sie lahm; doch ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern. Als ihr erster Schultag zu Ende war, trat Caitlin hinaus in den sonnigen Märznachmittag. Obwohl es sehr windig war, fror sie nun nicht mehr. Die Kids um sie herum schrien und kreischten, aber der Lärm machte ihr nichts mehr aus. Sie fühlte sich lebendig und frei. Den Rest des Tages hatte sie in einer Art Nebel verbracht, und sie konnte sich nicht einmal an den Namen eines einzigen neuen Lehrers erinnern. Die ganze Zeit kreisten ihre Gedanken um Jonah. Ständig fragte sie sich, ob sie sich in der Cafeteria nicht wie eine Idiotin benommen hatte. Schließlich war sie über ihre eigenen Worte gestolpert und hatte ihm kaum eine Frage gestellt. Ihr war tatsächlich nichts Besseres eingefallen, als sich nach dieser dämlichen Bratsche zu erkundigen. Stattdessen hätte sie lieber in Erfahrung bringen sollen, wo er wohnte, woher er kam und an welchem College er sich bewerben wollte. Am wichtigsten wäre die Frage gewesen, ob er eine Freundin hatte. Ein Typ wie er musste doch mit jemandem zusammen sein. Genau in dem Moment eilte eine hübsche, gut gekleidete Latina an Caitlin vorbei. Caitlin musterte sie von Kopf bis Fuß und fragte sich einen Moment lang, ob sie seine Freundin sein könnte. Caitlin bog in die 134. Straße ein und wusste für einen Moment wusste sie nicht mehr, wohin sie wollte. Es war das erste Mal, dass sie von der Schule nach Hause ging, und gerade wollte ihr einfach nicht einfallen, wo sich ihre neue Wohnung befand. Orientierungslos blieb sie an der Straßenecke stehen. Eine Wolke verdunkelte die Sonne, der Wind frischte auf, und plötzlich fror sie wieder. »Hey, amiga!« Caitlin wandte sich um und bemerkte, dass sie vor einer schmuddeligen Eckkneipe – oder eher Bodega – stand. Vier verwahrlost aussehende Männer saßen auf Plastikstühlen davor. Sie spürten die Kälte offensichtlich gar nicht und grinsten Caitlin an, als wäre sie ihre nächste Mahlzeit. »Komm rüber, Baby!«, rief ein anderer Mann. Jetzt fiel es ihr wieder ein. Die 132. Straße – das war die Adresse. Schnell drehte sie sich um und ging strammen Schritts eine andere Seitenstraße hinunter. Dabei warf sie einige Male einen Blick über die Schulter, um zu kontrollieren, ob diese Männer ihr folgten. Glücklicherweise taten sie es nicht. Der kalte Wind brannte auf ihren Wangen und sorgte dafür, dass sie hellwach war, während sie die harte Realität ihrer neuen Wohngegend auf sich wirken ließ. Sie betrachtete die stillgelegten Autos, die Schmierereien an den Hauswänden, den Stacheldraht, die Gitter vor den Fenstern … Plötzlich fühlte sie sich wieder schrecklich allein, und ihr war sehr beklommen zumute. Sie war nur noch drei Häuserblocks von ihrem Apartment entfernt, aber es kam ihr vor wie eine halbe Ewigkeit. Insgeheim wünschte sie sich, sie hätte einen Freund an ihrer Seite – am liebsten Jonah. Würde sie wirklich in der Lage sein, diesen Weg jeden Tag allein zu bewältigen? Sie war wütend auf ihre Mom. Wie konnte sie ihr nur zumuten, ständig umzuziehen? Wie konnte sie sie immer wieder an neue Orte verpflanzen, die sie hasste? Wann würde das je aufhören?
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