Chapter 2

2192 Words
KAPITEL ZWEI Diedre wischte sich den Schweiß von der Stirn, als sie in der Schmiede arbeitete. Sie setzte sich plötzlich auf, aufgeschreckt von einem donnernden Geräusch. Das Geräusch war anders, ein Geräusch, welches sie nervös machte und welches sogar noch lauter als all das Schlagen der Hämmer auf die Ambosse war. Auch alle Männer und Frauen um sie herum hielten inne, legten ihre unfertigen Waffen zur Seite und schauten verblüfft drein. Es ertönte wieder. Es hörte sich an wie Donner, der vom Wind getragen wurde, so als ob die Substanz der Erde auseinandergerissen wurde. Und dann wieder. Dann begann Diedre zu verstehen, was es war: Eisenglocken, die geläutet wurden. Das Geräusch ertönte wieder und wieder und hallte durch die Stadt. Ihr Herz zog sich vor Angst zusammen. Es waren Glocken der Warnung, der Gefahr. Glocken des Krieges. In der Schmiede von Ur sprang einer nach dem anderen vom Tisch auf und rannte hinaus. Sie alle waren begierig zu sehen, was passierte. Diedre war eine der Ersten unter ihnen, begleitet von ihren Mädchen, von Marco und seinen Freunden. Sie liefen nach draußen und in die Straßen, die voll von besorgten Bürgern waren, die sich alle auf den Weg zum Kanal machten, um einen besseren Blick erhaschen zu können. Diedre suchte alles ab und erwartete ihre Stadt bereits von Schiffen und Soldaten überrannt zu sehen. Aber das war nicht der Fall. Verwundert, rannte sie in Richtung des riesigen Wachturms, der am Rand des Meeres des Leidens stand, um so einen besseren Blick erhaschen zu können. „Diedre!” Sie drehte sich um und sah auch ihren Vater und seine Männer in Richtung des Wachturms laufen, auch sie waren begierig darauf einen Blick aufs offene Meer zu werfen. Alle vier Türme läuteten hektisch. Dies war noch nie passiert, es war so als ob der Tod selbst sich der Stadt annäherte. Diedre rannte neben ihrem Vater entlang, sie bogen in verschiedenen Straßen ab und liefen einige Steintreppen hoch, bis sie endlich oben auf der Stadtmauer am Rand des Meeres ankamen. Sie blieb dort neben ihm stehen, verblüfft von dem Ausblick, der sich vor ihr ausbreitete. Es war als ob der schlimmste Albtraum wahr geworden wäre. Es war ein Ausblick, von dem sie sich wünschte, sie hätte ihn in ihrem ganzen Leben nicht sehen müssen: Das ganze Meer bis zum Horizont war schwarz. Die schwarzen Schiffe Pandesias lagen so nah beieinander, dass sie das Wasser und – so schien es – die ganze Welt bedeckten. Am schlimmsten war, dass sie auf dem Weg in ihre Stadt waren. Diedre stand wie erstarrt da und schaute auf den kommenden Tod. Es gab keine Möglichkeit, sich gegen eine Flotte dieser Größe zu verteidigen, nicht mit ihren kläglichen Ketten und nicht mit ihren Schwertern. Wenn die ersten Schiffe den Kanal erreichten, könnten sie sie vielleicht in einen Engpass führen und verlangsamen. Sie könnten hunderte, vielleicht sogar tausende von Soldaten umbringen. Aber nicht die Millionen, die sie hier vor sich sah. Diedre fühlte wie ihr Herz entzwei gerissen wurde, als sie sich zu ihrem Vater und seinen Soldaten umdrehte. Sie sah die gleiche Panik in ihren Gesichtern. Ihr Vater setzte vor seinen Männern ein mutiges Gesicht auf, aber sie kannte ihn. Sie konnte den Fatalismus in seinen Augen, das Licht aus ihnen verschwinden, sehen. Alle von ihnen schauten auf ihren Tod und auf den ihrer alten und großen Stadt. Neben ihr blickten auch Marco und seine Freunde voller Schrecken drein. Allerdings war gleichzeitig auch Entschlossenheit auf ihren Gesichtern zu sehen, keiner von ihnen, das musste man ihnen zu Gute halten drehte sich um und rannte davon. Sie suchte das Meer nach einem Zeichen von Alec ab, aber sie war verwundert, dass sie ihn nirgendswo sah. Sie fragte sich, wohin er wohl gegangen war. Er wäre doch nicht geflohen? Diedre blieb stehen wo sie war und umfasste den Griff ihres Schwertes fester. Sie wusste, dass der Tod für alle in Ur kam – sie hatte ihn nur nicht so früh erwartet. Sie hatte jedoch genug davon wegzulaufen. Ihr Vater drehte sich zu ihr um und umfasste drängend ihre Schultern. „Du musst die Stadt verlassen“, forderte er. Diedre sah die väterliche Liebe in seinen Augen und es berührte sie. „Meine Männer werden dich begleiten“, fügte er hinzu. „Sie können dich weit weg von hier bringen. Geh nun! Und erinnere dich an mich.“ Diedre wischte sie eine Träne aus den Augen, als sie ihren Vater so voller Liebe auf sie hinabstarren sah. Sie schüttelte mit dem Kopf und wischte seine Hände von sich. „Nein, Vater“, sagte sie. „Das ist meine Stadt und ich werde an deiner–– “ Bevor sie den Satz beenden konnte, durchschnitt eine höllische Explosion die Luft. Zuerst war sie verwundert und dachte es wäre eine weitere Glocke, aber dann realisierte sie––Kanonenfeuer. Nicht nur das Feuer von einer Kanone, sondern von hunderten. Allein nur die Schockwellen ließen Diedre taumeln und stießen mit solcher Kraft durch die Substanz der Atmosphäre, dass es sich anfühlte, als ob ihre Ohren entzwei gerissen wurden. Dann ertönte das hohe Pfeifen der Kanonenkugeln. Während sie aufs Meer schaute, fühlte sie, wie sie eine Welle von Panik durchströmte, als sie hunderte von riesigen Kanonenkugeln, wie Eisenkessel am Himmel, in hohem Bogen in Richtung ihrer geliebten Stadt fliegen sah. Dann folgte ein weiteres Geräusch, noch schlimmer als das davor: Das Geräusch von Eisen, welches in Stein einschlug. Die ganze Luft polterte von einer Explosion nach der anderen. Diedre taumelte und fiel zu Boden. Um sie herum wurden die großartigen Gebäude Urs, architektonische Meisterstücke, Monumente, die seit tausenden von Jahren existierten zerstört. Diese Steingebäude, drei Meter d**k: Kirchen, Wachtürme, Befestigungsanlagen und Zinnen – all das, wurde zu ihrem Schrecken zerbombt. Sie zerbröckelten vor ihren Augen. Eine Lawine aus Schutt türmte sich auf, als ein Gebäude nach dem anderen zu Boden fiel. Es machte sie krank zuzusehen. Als Diedre auf den Boden fiel, sah sie einen dreißig Meter hohen Turm auf die Seite fallen. Sie konnte nichts anderes tun, als zu beobachten, wie hunderte Menschen nach oben schauten und vor Angst schrien, als die Steinwände über ihnen zusammenbrachen. Dann erfolgte eine weitere Explosion. Und noch eine. Und noch eine. Um sie herum explodierten immer mehr Gebäude und fielen zusammen. Tausende von Menschen wurden unter massiven Wolken aus Staub und Schutt begraben. Felsbrocken rollten wie Kieselsteine durch die Stadt während Gebäude ineinander und bröckelnd zu Boden fielen. Und es kamen immer noch mehr Kanonenkugeln nach, die ein schönes Gebäude nach dem anderen zerstörten und die einst so majestätische Stadt in einen Berg aus Schutt verwandelten. Diedre kam schließlich auf die Füße. Sie sah benommen nach oben, es klingelte in ihren Ohren und zwischen den Staubwolken konnte sie Straßen voller toter Körper und Ströme aus Blut erkennen. Es war, als ob die gesamte Stadt auf einmal ausgelöscht worden war. Sie sah zum Meer und bemerkte die weiteren tausend Schiffe, die darauf warteten anzugreifen und sie realisierte, dass ihre gesamte Planung ein Witz gewesen war. Ur war bereits zerstört und die Schiffe hatten noch nicht mal die Küste erreicht. Was sollten all diese Waffen, all diese Ketten und Spitzen jetzt bringen? Diedre hörte ein Stöhnen und sah einen von den mutigen Männern ihres Vaters, einen Mann, den sie einst sehr geliebt hatte, tot auf dem Boden, dreißig Zentimeter von ihr entfernt, liegen. Er war von einem Brocken, der sonst auf ihr gelandet wäre, wäre sie nicht gestolpert und gefallen, erschlagen worden. Sie ging zu ihm hinüber, um ihm zu helfen — als die Luft plötzlich von der nächsten Runde Kanonenkugeln erschüttert wurde. Und noch einer. Das Pfeifen ertönte, dann folgten weitere Explosionen und weitere Gebäude stürzten zusammen. Der Schutt wuchs höher und mehr Menschen starben. Sie wurde wieder von ihren Füßen gerissen und eine Steinwand brach neben ihr zusammen, die sie nur knapp verpasste. Dann gab es auf einmal eine Pause des Feuerns und Diedre richtete sich auf. Eine Wand aus Schutt blockierte nun ihre Sicht aufs Meer, dennoch hatte sie bereits gespürt, dass die Pandesier nah waren und an den Strand kamen. Deswegen hatte das Befeuern aufgehört. Riesige Staubwolken hingen in der Luft und in der seltsamen Stille hörte man nichts außer dem Stöhnen der Verletzten. Sie schaute nach hinten und hörte Marco neben ihr aufschreien. Mit Not versuchte er den Körper einer seiner Freunde aus dem Schutt zu ziehen. Diedre sah nach unten und bemerkte, dass der Junge bereits tot war, erschlagen von einer Wand, die einst zu einem Tempel gehörte. Sie drehte sich um, als sie sich an ihre Mädchen erinnerte und war am Boden zerstört, als sie auch einige von ihnen tot zerquetscht am Boden liegen sah. Aber drei waren noch am Leben, die ohne Erfolg versuchten die anderen zu retten. Es ertönte ein Ruf der Pandesier, die mit den Füßen bereits den Strand betraten und Ur angriffen. Diedre dachte über das Angebot ihres Vaters nach, dass seine Männer sie noch von hier fortbringen konnten. Sie wusste, wenn sie bliebe, bedeutete das ihren Tod— aber das wollte sie. Sie würde nicht davonlaufen. Neben ihr erschien ihr Vater aus dem Schutt. Er hatte eine Schnittwunde auf der Stirn. Er zog furchtlos sein Schwert und führte seine Männer Richtung des Schutthaufens zum Angriff. Er war, wie sie stolz feststellte auf dem Weg den Feind zu bekämpfen. Es würde nun ein Kampf zu Fuß sein. Hunderte von Männern rannten hinter ihm und stürzten Richtung Kampf und es erfüllte sie mit Stolz. Sie folgte ihnen, zog ihr Schwert und kletterte über die riesigen Felsbrocken vor sich. Sie war dazu bereit an seiner Seite zu kämpfen. Als sie auf dem Gipfel ankam, blieb sie verwundert beim Anblick vor ihr stehen: Tausende von pandesischen Soldaten, in ihrer gelben und blauen Rüstung, erfüllten den Strand und griffen den Schutthügel an. Diese Männer waren gut ausgebildet, gut bewaffnet und ausgeruht—im Gegensatz zu den Männern ihres Vaters, die nur ein paar hundert Mann stark, mit groben Waffen bestückt und bereits alle verwundet waren. Es würde, das wusste sie, ein Gemetzel werden. Und doch drehte sich ihr Vater nicht um. Sie war nie stolzer auf ihn gewesen als in diesem Moment. Da stand er, so stolz mit seinen Männern um sich herum und bereit nach vorne zu stürzen und dem Feind zu begegnen, auch wenn es den sicheren Tod bedeutete. Er war für sie die wahre Verkörperung von Ehre. Kurz bevor er hinablief, drehte er sich um und sah Diedre mit einem Blick voller Liebe an. Es lag ein Abschied in seinen Augen, so als ob er wüsste, dass er sie nie wieder sehen würde. Diedre war verwirrt — sie hatte ihr Schwert in ihrer Hand und war bereit mit ihm zusammen anzugreifen. Warum würde er also jetzt Abschied von ihr nehmen? Sie fühlte auf einmal wie sie starke Hände von hinten packten, fühlte wie sie nach hinten gerissen wurde und als sie sich umdrehte, sah sie, dass zwei vertraute Kommandanten ihres Vaters sie gepackt hatten. Eine Gruppe seiner Männer schnappte sich die drei verbliebenen Mädchen und Marco und seine Freunde. Sie protestierte und schlug um sich, aber es hatte keinen Sinn. „Lasst mich gehen!“ schrie sie. Sie ignorierten ihre Proteste und trugen sie, offensichtlich auf Befehl ihres Vaters hin, fort. Sie erhaschte einen letzten Blick auf ihren Vater, bevor er mit seinen Männern auf die andere Seite des Schutts hinablief und einen lauten Kriegsschrei ausstieß. „Vater!“ weinte sie. Sie fühlte sich zerrissen. Nun, als sie ihren Vater wirklich wieder verehrte und ihn wieder liebte, wurde er ihr wieder genommen. Sie wollte verzweifelt mit ihm zusammen sein. Aber er war bereits weg. Diedre wurde in ein kleines Boot geworfen und die Männer begannen sofort den Kanal hinunter, in die entgegengesetzte Richtung des Meeres zu rudern. Das Boot bog wieder und wieder ab, es schnitt durch die Kanäle und in Richtung eines versteckten Eingangs, der sich an einer der Kanalwände abzeichnete. Vor ihnen lag ein flacher Steinbogen und Diedre erkannte sofort wohin sie fuhren: Zum unterirdischen Fluss. Es war eine starke Strömung auf der anderen Seite der Mauer und er würde sie weit weg von der Stadt bringen. Sie würden viele Kilometer entfernt von hier, sicher auf dem Land, auftauchen. Alle Mädchen drehten sich um, als ob sie sich fragten was sie tun sollten. Diedre kam zu einer sofortigen Entscheidung. Sie tat so, als ob sie den Plan hinnehmen würde, so dass sie alle gemeinsam gehen würden. Sie wollte, dass all ihre Mädchen entkamen und frei von diesem Ort waren. Diedre wartete bis zum letzten Moment und kurz bevor sie in den Tunnel hineinfuhren, sprang sie vom Boot und landete in den Gewässern des Kanals. Zu ihrer Überraschung sah Marco was sie tat und sprang ebenfalls. Damit waren es nun die beiden, die im Kanal schwammen. „Diedre!“ schrien die Männer ihres Vaters. Sie drehten sich um und wollten sie ergreifen — aber es war zu spät. Sie hatte den perfekten Zeitpunkt gewählt und sie waren bereits in den starken Strömungen des Flusses gefangen, der das Boot bereits forttrug. Diedre und Marco drehten sich um und schwammen schnell zu einem verlassenen Boot und kletterten hinauf. Sie saßen dort, nass tropfend und sahen einander an. Beide atmeten schwer. Sie waren erschöpft. Diedre drehte sich um und sah nach hinten, dahin, wo sie hergekommen waren, in das Herz von Ur, dort wo sie die Seite ihres Vaters verlassen hatte. Da würde sie hingehen, da und nirgendswo anders hin, auch wenn das ihren Tod bedeutete.
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