KAPITEL EINS

1898 Words
KAPITEL EINS FBI Agentin Riley Paige ging besorgt durch die Gangway am Phoenix International Airport. Sie hatte während dem Flug von Washington aus kaum stillsitzen können. Jilly, ein Mädchen, das Riley besonders am Herzen lag, war verschwunden. Sie war entschlossen, dem Mädchen zu helfen und dachte sogar darüber nach, sie zu adoptieren. Als Riley durch den Ausgang des Gates eilte, sah sie auf und war geschockt, eben jenes Mädchen vor sich stehen zu sehen, FBI Agent Garrett Holbrook von der Außenstelle in Phoenix gleich neben ihr. Die dreizehnjährige Jilly Scarlatti stand neben Garret und wartete ganz offensichtlich auf sie. Riley war verwirrt. Garrett hatte sie angerufen und ihr erzählt, dass Jilly weggelaufen war und nicht zu finden sei. Doch noch bevor Riley eine Frage stellen konnte, warf Jilly sich ihr weinend in die Arme. "Oh Riley, es tut mir so leid. Es tut mir so so leid. Ich mache das nie wieder." Riley versuchte Jilly zu trösten und sah Garrett fragend an. Garretts Schwester, Bonnie Flaxman, hatte versucht, Jilly als Pflegekind aufzunehmen. Aber Jilly hatte rebelliert und war weggelaufen. Garrett lächelte leicht – ein ungewöhnlicher Anblick des sonst so ernsten Mannes. "Sie hat Bonnie angerufen, kurz nachdem Sie Fredericksburg verlassen hatten", sagte er. "Sie hat gesagt, dass sie sich nur noch einmal verabschieden wollte, endgültig. Aber dann hat Bonnie ihr erzählt, dass Sie auf dem Weg hierher sind, um sie aufzunehmen. Sie hat sich so gefreut, dass sie uns gesagt hat, wo wir sie abholen können." Er sah Riley an. "Dass Sie den ganzen Weg hierher geflogen sind, hat sie gerettet", schloss er. Riley stand mit der weinenden Jilly im Arm da und kam sich seltsam unbeholfen vor. Jilly flüsterte etwas, das Riley nicht hören konnte "Was?", fragte Riley. Jilly zog ihr Gesicht ein wenig zurück und sah Riley in die Augen, ihre eigenen, ernsten braunen Augen mit Tränen gefüllt. "Mom?", sagte sie mit erstickter, schüchterner Stimme. "Kann ich dich Mom nennen?" Riley zog sie noch näher an sich, überwältigt von der Flut von Gefühlen. "Natürlich", sagte Riley. Dann wandte sie sich an Garrett. "Vielen Dank für alles, was Sie getan haben." "Ich bin froh, dass ich helfen konnte, zumindest ein wenig", erwiderte er. "Brauchen Sie einen Platz zum Übernachten, während Sie hier sind?" "Nein. Jetzt, wo sie gefunden ist, ist das nicht mehr nötig. Wir nehmen den nächsten Flug zurück." Garrett schüttelte ihr die Hand. "Ich wünsche Ihnen alles Gute." Dann ging er. Riley sah auf den Teenager hinunter, der noch immer an ihr hing. Sie war gleichzeitig erleichtert, dass sie sie gefunden hatte, und besorgt, weil sie nicht wusste, was die Zukunft ihnen bringen würde. "Lass uns etwas essen gehen", sagte sie zu Jilly. * Es schneite leicht, während sie vom Reagan Washington National Airport nach Hause fuhren. Jilly starrte schweigend aus dem Fenster. Ihr Schweigen war ein großer Umschwung nach dem mehr als vierstündigen Flug von Phoenix. Jilly hatte nicht aufhören können zu reden. Sie war noch nie in einem Flugzeug gewesen und alles weckte ihre Neugier. Warum ist sie jetzt so ruhig? fragte Riley sich. Dann wurde ihr bewusst, dass Schnee ein ungewöhnlicher Anblick sein musste, für ein Mädchen, das sein ganzes Leben in Arizona verbracht hatte. "Hast du schon einmal Schnee gesehen?", fragte Riley. "Nur im Fernsehen." "Gefällt es dir?", sagte Riley. Jilly antwortete nicht, was in Riley wieder ein unbehagliches Gefühl auslöste. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie Jilly gesehen hatte. Das Mädchen war vor einem gewalttätigen Vater davongelaufen. Aus schierer Verzweiflung hatte sie sich entschieden, Prostituierte zu werden. Sie war zu einem Rastplatz gegangen, der bekannt dafür war, dass man dort Prostituierte aufgabeln konnte – "Truckerhuren" wurden sie genannt. Riley war dort gewesen, um eine Serie von Morden an Prostituierten aufzuklären. Sie hatte Jilly zufällig in einer Fahrerkabine gefunden, wo sie darauf gewartet hatte, dass der Fahrer zurückkommt, um sich an ihn zu verkaufen. Riley hatte Jilly zu einer Notunterkunft gebracht und war mit ihr in Kontakt geblieben. Garretts Schwester hatte Jilly als Pflegekind aufgenommen, aber schließlich war Jilly wieder weggelaufen. Da hatte Riley beschlossen, Jilly selber aufzunehmen. Aber jetzt fing sie an sich zu fragen, ob sie einen Fehler gemacht hatte. Sie musste sich schon um ihre eigene fünfzehn Jahre alte Tochter, April, kümmern. Die konnte alleine schon eine Handvoll sein. Sie hatten zusammen einige traumatische Erfahrungen durchgestanden, seit Rileys Ehe zerbrochen war. Und was wusste sie wirklich über Jilly? Hatte Riley eine Ahnung, wie tief die seelischen Verletzungen des Mädchens waren? War sie überhaupt dazu in der Lage, mit den Herausforderungen fertig zu werden, die Jilly möglicherweise mit sich brachte? Und auch wenn April zugestimmt hatte, Jilly zu sich nach Hause zu holen, würden die beiden Mädchen zurechtkommen? Plötzlich sprach Jilly. "Wo werde ich schlafen?" Riley war erleichtert, Jillys Stimme zu hören. "Du hast dein eigenes Zimmer", sagte sie. "Es ist klein, aber ich denke, dass es genau das Richtige für dich sein könnte." Jilly schwieg wieder einen Moment. Dann sagte sie, "Gehörte es jemand anderem?" Jilly klang besorgt. "Nicht, seit wir dort leben", erklärte Riley. "Ich habe versucht, es als Büro zu nutzen, aber es war zu groß. Also habe ich das Büro in mein Schlafzimmer gebracht. April und ich haben ein Bett und eine Kommode gekauft, aber wenn wir Zeit haben, kannst du dir ein paar Poster und Bettwäsche aussuchen, die dir gefällt. "Mein eigenes Zimmer", sagte Jilly. Riley kam es vor, als klänge sie eher zögerlich als glücklich. "Wo schläft April?", fragte Jilly. Riley wollte Jilly fast sagen, dass sie einfach warten sollte, bis sie zu Hause waren, dann würde sie es ja sehen. Aber das Mädchen klang, als bräuchte sie umgehend ein wenig Beruhigung und Bestätigung. "April hat ihr eigenes Zimmer", sagte Riley. "Du und April teilt euch allerdings ein Badezimmer. Ich habe mein eigenes." "Wer putzt? Wer kocht?", fragte Jilly. Dann fügte sie besorgt hinzu, "Ich bin kein besonders guter Koch." "Unsere Haushälterin, Gabriela, kümmert sich um alles. Sie kommt aus Guatemala. Sie lebt bei uns, in ihrer eigenen kleinen Wohnung. Du triffst sie bald. Sie kümmert sich um dich, wenn ich nicht da bin." Wieder folgte ein Schweigen. Dann fragte Jilly, "Wird Gabriela mich schlagen?" Diese Frage machte Riley sprachlos. "Nein. Natürlich nicht! Wie kommst du denn darauf?" Jilly antwortete nicht. Riley versuchte zu verstehen, was sie meinte. Sie versuchte sich zu sagen, dass sie nicht überrascht sein sollte. Sie erinnerte sich daran, was Jilly ihr gesagt hatte, als sie sie in der Fahrerkabine gefunden und ihr gesagt hatte, dass sie nach Hause gehen sollte. "Ich gehe nicht nach Hause. Mein Vater wird mich schlagen, wenn ich zurückgehe." Das Jugendamt in Phoenix hatte Jilly dem Sorgerecht des Vaters entzogen. Riley wusste, dass Jillys Mutter vor langer Zeit verschwunden war. Jilly hatte irgendwo einen Bruder, aber niemand hatte von ihm gehört. Es brach Riley das Herz, als ihr klar wurde, dass sie eine ähnliche Behandlung in ihrem neuen Zuhause erwartete. Es schien, als könne sich das Mädchen kaum ein besseres Leben vorstellen. "Niemand wird dich schlagen, Jilly", sagte Riley, mit leicht zitternder Stimme. "Nie wieder. Wir werden uns gut um dich kümmern. Verstehst du das?" Wieder antwortete Jilly nicht. Riley wünschte sich, sie würde sagen, dass sie sie verstand und auch glaubte, was Riley ihr sagte. Stattdessen wechselte Jilly das Thema. "Ich mag dein Auto", sagte sie. "Kann ich lernen zu fahren?" "Wenn du älter bist, sicher", sagte Riley. "Jetzt lass uns dich erst einmal nach Hause bringen." * Ein wenig Schnee fiel, als Riley vor ihrem Stadthaus hielt und sie mit Jilly ausstieg. Jillys Gesicht zuckte kurz, als eine Schneeflocke ihre Haut traf. Ihr schien dieses neue Gefühl nicht zu gefallen. Sie zitterte vor Kälte. Wir müssen ihr sofort warme Kleidung besorgen, dachte Riley. Auf halbem Wege zur Haustür hielt Jilly inne. Sie starrte auf das Haus. "Ich kann das nicht", sagte sie. "Warum nicht?" Jilly schien keine Worte zu finden. Sie sah aus, wie ein verängstigtes Tier. Riley nahm an, dass der Gedanke sie überwältigte, an einem so schönen Ort zu leben. "Ich werde April im Weg sein oder nicht?", sagte Jilly. "Ich meine, es ist ihr Badezimmer." Sie schien nach Entschuldigen zu suchen, nach Gründen, warum es nicht funktionieren würde. "Du bist April nicht im Weg", sagte Riley. "Jetzt komm rein." Riley öffnete die Tür. Drinnen warteten April und Rileys Exmann Ryan. Sie lächelten sie freundlich an. April eilte direkt auf Jilly zu und nahm sie in die Arme. "Ich bin April", sagte sie. "Ich bin so froh, dass du hier bist. Es wird dir bestimmt gefallen." Riley war von dem Unterschied zwischen den beiden Mädchen überrascht. Sie hatte immer gedacht, April wäre recht dünn und schlaksig. Aber neben Jilly, die im Vergleich dünn aussah, wirkte sie regelrecht robust. Riley nahm an, dass Jilly mehr als einmal in ihrem Leben gehungert hatte. Es gibt so viel, was ich nicht weiß, dachte Riley. Jilly lächelte nervös, als Ryan sich vorstellte und sie kurz umarmte. Plötzlich kam Gabriela herein und stellte sich ebenfalls mit einem breiten Lächeln vor. "Willkommen in der Familie!", rief Gabriela und gab Jilly eine Umarmung. Riley bemerkte, dass die Haut der guatemalischen Frau nur ein wenig dunkler war, als Jillys olivfarbener Teint. "Vente!", sagte Gabriela und nahm Jilly bei der Hand. "Lass uns nach oben gehen. Ich zeige dir dein Zimmer!" Aber Jilly zog ihr die Hand weg und stand zitternd vor ihr. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Sie setzte sich auf die Stufen und weinte. April setzte sich neben sie und legte ihr den Arm um die Schultern. "Jilly, was ist los?", fragte April. Jilly schüttelte traurig den Kopf. "Ich weiß es nicht", schluchzte sie. "Es ist einfach … ich weiß nicht. Es ist zu viel." April lächelte und streichelte ihr leicht über den Rücken. "Ich weiß, ich weiß", sagte sie. "Komm mit nach oben. Du fühlst dich bestimmt bald wie zu Hause." Jilly stand gehorsam auf und folgte April nach oben. Riley freute sich, dass ihre Tochter die Situation so gut gelöst hatte. Natürlich hatte April immer gesagt, dass sie eine kleine Schwester wollte. Aber April hatte schwierige Jahre durchgemacht und war von Verbrechern traumatisiert worden, die sich an Riley rächen wollten. Vielleicht, dachte Riley hoffnungsvoll, versteht April Jilly besser, als ich es kann. Gabriela sah den beiden Mädchen mitfühlend nach. "¡Pobrecita!", sagte sie. "Ich hoffe, dass alles gut wird." Gabriela ging wieder nach unten und ließ Riley und Ryan alleine. Ryan blickte geistesabwesend die Stufen nach oben. Ich hoffe, dass er es sich nicht anders überlegt hat, dachte Riley. Ich werde seine Unterstützung brauchen. Zwischen ihnen war viel passiert. Während der letzten Jahre ihrer Ehe war er ein untreuer Ehemann und ein distanzierter Vater gewesen. Sie hatten sich getrennt und geschieden. Aber Ryan schien sich in letzter Zeit verändert zu haben und sie verbrachten wieder mehr Zeit miteinander. Sie hatten über die Herausforderung gesprochen, Jilly in ihre Leben zu bringen. Ryan war begeistert von der Idee gewesen. "Ist es immer noch okay für dich?", fragte Riley ihn. Ryan sah sie an und sagte, "Ja. Ich kann allerdings sehen, dass es nicht einfach werden wird." Riley nickte. Dann folgte eine peinliche Pause. "Ich denke, ich sollte besser gehen", sagte Ryan. Riley war erleichtert. Sie küsste ihn flüchtig, er zog seinen Mantel an und ging. Riley goss sich einen Drink ein und saß dann alleine im Wohnzimmer. Wo habe ich uns da nur hingeführt? fragte sie sich. Sie hoffte, dass ihre guten Absichten nicht wieder ihre Familie auseinander reißen würde.
Free reading for new users
Scan code to download app
Facebookexpand_more
  • author-avatar
    Writer
  • chap_listContents
  • likeADD