KAPITEL ZWEI

2815 Words
KAPITEL ZWEI Panisch rannte Emily zurück ins Haus. „Daniel!“, rief sie die Treppe hinauf. „Mr. Kapowski ist verschwunden! Er ist gegangen, weil ich nicht rechtzeitig aufgestanden bin, um ihm das Frühstück zu richten!“ Daniel tauchte, nur mit seiner Schlafanzughose bekleidet, am oberen Ende der Treppe auf, seine breiten Schultern und seine muskulöse Brust waren unbedeckt. Sein Haar war ein einziges Durcheinander und ließ ihn wie einen gehetzten Schuljungen aussehen. „Er ist wahrscheinlich nur zu Joe’s gegangen“, meinte er, während er die Stufen zu ihr hinunterstapfte. „Immerhin hast du ihm sehr ausführlich geschildert, wie gut die Waffeln dort sind, erinnerst du dich nicht mehr?“ „Aber ich sollte ihm doch eigentlich Frühstück richten!“, rief Emily. „Es ist schließlich ein Bed and Breakfast, nicht nur ein Bed!“ Daniel erreichte das Ende der Treppe und nahm Emily in die Arme, die er sanft um ihre Hüfte legte. „Vielleicht wusste er nicht, wofür das zweite B steht. Vielleicht dachte er, es heißt Bad. Oder Bananen“, scherzte er. Dann drückte er einen Kuss in ihren Nacken, doch Emily schob ihn weg und löste sich aus seinen Armen. „Daniel, hör auf, Scherze zu machen!“, schrie sie. „Das ist eine ernste Angelegenheit. Er ist mein allererster Gast und ich war nicht rechtzeitig wach, um ihm das Frühstück zu richten.“ Daniel schüttelte den Kopf und verdrehte die Augen zugleich voller Liebe und Schalk. „Das ist doch keine große Sache. Jetzt isst er sein Frühstück stattdessen unten am Meer. Er ist schließlich im Urlaub, nicht wahr?“ „Aber von meiner Veranda aus hat man auch Meerblick“, stammelte Emily mit dünner werdender Stimme. Sie ließ sich auf die unterste Stufe niedersinken und fühlte sich klein, wie ein Kind, das man dazu verdonnert hatte, auf der stillen Treppe zu sitzen. Dann legte sie ihren Kopf in die Hände. „Ich bin eine schreckliche Gastgeberin.“ Daniel rieb ihre Schultern. „Das stimmt nicht. Du bist einfach noch nicht so sicher auf den Beinen. Alles ist fremd und neu. Aber du machst das gut. Okay?“ Das letzte Wort sprach er mit einer gewissen, fast schon väterlichen Strenge aus, die Emily sofort tröstete. Sie schaute zu ihm auf. „Soll ich dir wenigstens ein Ei kochen?“, fragte sie. „Das wäre wunderbar.“ Daniel lächelte. Er legte seine Hände an ihre Wangen und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Zusammen gingen sie in die Küche. Das Geräusch der sich öffnenden Eingangstür weckte die Hündin Mogsy und ihren Welpen Rain, die im Handwerksraum auf der anderen Seite der Stalltür schliefen, auf. Emily wusste, dass sie die Hunde nicht in die Küche oder die anderen Bereiche des Hauses lassen durfte, die sie für ihre Pension brauchte. Bei diesem Punkt ließ sich nicht verhandeln, wenn sie nicht umgehend aus Gesundheits- und Sicherheitsgründen schließen wollte, doch trotzdem hatte sie ein schlechtes Gewissen, die Hunde in einem so kleinen Teil des Hauses einzusperren. Sie erinnerte sich daran, dass es nur eine Zwischenlösung war. Sie hatte es geschafft, unter ihren Freunden in der Stadt für vier von Mogsys fünf Welpen ein Zuhause zu finden, doch Rain, das schwache Nesthäkchen, ließ sich nicht so einfach verkaufen und niemand schien auch nur das geringste Interesse daran zu haben, die Mutter bei sich aufzunehmen, die, um ehrlich zu sein, ganz schön hässlich war. Sobald die Hunde rausgelassen und gefüttert worden waren, ging Emily zurück in die Küche. In der Zwischenzeit war Daniel in den Garten gegangen, um frische Eier von den beiden Hennen Lola und Lolly zu holen, und hatte bereits eine Kanne Kaffee gekocht. Emily nahm dankbar eine Tasse entgegen und sog das Aroma ein. Anschließend ging sie zu dem großen Aga-Herd – ein weiteres Relikt ihres Vaters, das sie restauriert hatte – und machte sich daran, die Eier zu pochieren. Unter allen Zimmern im Haus mochte Emily die Küche am liebsten. Bei ihrer Ankunft war der arme Raum von der Zeit und der Vernachlässigung schwer gezeichnet gewesen, dann war ein Sturm hindurchgefegt und hatte weiteren Schaden verursacht, und anschließend war der Toaster explodiert und hatte ein Feuer ausgelöst. Der Schaden, der durch den Rauch entstanden war, hatte eine größere Zerstörungskraft besessen als das eigentliche Feuer, welches lediglich ein Regal beschädigt und mehrere Kochbücher zerfressen hatte, wohingegen der Rauch in jeden Spalt gedrungen war und schwarze Schlieren sowie den Geruch verbrannten Plastiks zurückgelassen hatte. In gerade einmal sechs Monaten war dem Raum alles, was nur schiefgehen konnte, zugestoßen. Doch sie hatte sich ein paar zermürbende Nächte lang abgerackert, um alles zu erneuern, und nun strahlte die Küche mit ihrem Retro-Kühlschrank und dem originalgetreuen, weißen, im Viktorianisch-Belfast Stil gehaltenen Spülbecken sowie den marmornen Arbeitsflächen einen gewissen Charme aus. „Anscheinend“, bemerkte Emily, während sie ihren fünften Versuch eines pochierten Eies auf Daniels Teller plumpsen ließ, „bin ich wohl doch keine so abgrundtief schlechte Köchin.“ „Siehst du?“, entgegnete Daniel, als er in die weiße Haut eines Eies stach, wodurch sich das goldene Eigelb auf seinem Toast verteilte. „Ich habe es dir doch gesagt. Du solltest mir öfter zuhören.“ Emily seufzte und genoss Daniels sanften Humor. Ihr Exfreund Ben hatte sie nie auf die gleiche Weise zum Lachen gebracht wie Daniel. Er hatte sie in panischen Momenten auch nicht beruhigen können. Mit Daniel erschien es ihr, als ob sie alles schaffen könnte. Egal, ob es sich um einen Sturm oder ein Feuer handelte, er gab ihr immer das Gefühl, dass alles in Ordnung und kontrollierbar war. Seine Standfestigkeit war einer der Gründe, warum sie sich so zu ihm hinzogen fühlte. Er konnte sie auf die gleiche Weise beruhigen und trösten wie es ein Blick auf das Meer vermochte. Ihr kam ihre Beziehung wie eine reißende Flut vor, die sie nicht kontrollieren konnten, selbst wenn sie es wollten. „Also“, sagte Daniel, während er fröhlich sein Frühstück verdrückte, „wenn wir hier fertig sind, sollten wir uns wohl besser fertigmachen.“ „Für was denn?“, fragte Emily, die an ihrer zweiten Tasse dampfend heißem, schwarzem Kaffee nippte. „Heute findet die Memorial Day Parade statt“, erklärte Daniel. Emily erinnerte sich vage daran, sich als Kind die Parade angesehen zu haben und wollte sie sich eigentlich wieder anschauen, doch sie hatte heute schon genug vermasselt, um sich einen Ausflug zu gönnen. „Ich habe hier zu viel zu tun. Ich muss das Gästezimmer richten.“ „Das ist bereits erledigt“, erwiderte Daniel. „Ich habe den Raum aufgeräumt, während du bei den Hunden warst.“ „Wirklich?“, hakte Emily argwöhnisch nach. „Hast du auch die Handtücher gewechselt?“ Daniel nickte. „Und die Mini-Shampoo-Fläschchen?“ „Jap.“ „Was ist mit den kleinen Beutelchen Kaffee und Zucker?“ Daniel zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe alles ausgetauscht, was ausgetauscht werden musste. Ich habe das Bett gemacht – und bevor du fragst, ja, ich weiß, wie man ein Bett macht, immerhin habe ich jahrelang alleine gelebt. Alles ist bereit für deinen Gast, wenn er zurückkommt. Gehst du nun also mit zu der Parade?“ Emily schüttelte den Kopf. „Ich muss hier sein, wenn Mr. Kapowski zurückkommt.“ „Du musst nicht wie eine Nanny auf ihn aufpassen.“ Emily kaute auf ihrer Lippe herum. Sie war nervös wegen ihres ersten Gastes und wollte unbedingt gute Arbeit leisten. Wenn das hier nicht funktionierte, dann müsste sie mit eingezogenem Schwanz nach New York zurückkehren, wo sie wahrscheinlich auf Amys Couch, oder sogar noch schlimmer, im Gästezimmer ihrer Mutter schlafen würde. „Aber was ist, wenn er etwas braucht? Mehr Kissen? Oder – “ „ – mehr Bananen?“, unterbrach Daniel sie mit einem Grinsen. Emily seufzte und gab sich geschlagen. Daniel hatte Recht. Mr. Kapowski würde nicht von ihr erwarten, dass sie ihn auf Schritt und Tritt bediente. Wenn überhaupt, dann würde er es wahrscheinlich vorziehen, dass sie sich nicht zu sehr einmischte. Immerhin war er ja im Urlaub. Die meisten Menschen wollten in solchen Momenten einfach nur ihre Ruhe. „Komm schon“, drängte Daniel. „Es wird bestimmt lustig.“ „Na gut“, sagte Emily schließlich. „Ich werde mitkommen.“ * Emily sah Flaggen der USA so weit das Auge reichte. Ihr Blick war zu einer Art Kaleidoskop aus Sternen und Streifen geworden, was sie in Erstaunen versetzte. Die Flaggen hingen in jedem Schaufenster und in Form von gestrickten Girlanden von jedem Laternenmast. Es waren sogar welche an der Rückseite von Bänken befestigt. Doch all das war nichts im Vergleich zu der Anzahl an Flaggen, die von vorbeilaufenden Passanten geschwungen wurden. Jeder, der auf dem Gehsteig lief, schien eine zu besitzen. „Daddy“, sagte Emily und schaute zu ihrem Vater auf. „Kann ich auch eine Flagge haben?“ Der große Mann lächelte zu ihr hinunter. „Natürlich kannst du das, Emily Jane.“ „Ich auch, ich auch!“, ertönte eine kleine Stimme. Emily drehte sich um und entdeckte ihre Schwester Charlotte, um deren Hals ein grell-violetter Schal hing, der überhaupt nicht zu ihren Marienkäfer-Stiefeln passte. Sie war gerade einmal ein Kleinkind, das kaum aufrecht stehen konnte. Die beiden Mädchen folgten ihrem Vater Hand in Hand über die Straße und in einen kleinen Laden, der hausgemachte Essiggurken und Soßen in Gläsern verkaufte. „Hallo Roy.“ Die Dame hinter der Ladentheke strahlte. Dann lächelte sie die zwei kleinen Mädchen an. „Seid ihr bereit für den Feiertag?“ „Niemand begeht den Memorial Day wie Sunset Harbor“, sagte ihr Vater mit seiner lockeren Freundlichkeit. „Ich hätte gerne zwei Flaggen für die Mädchen, Karen.“ Die Dame holte ein paar Fahnen hinter der Theke hervor. „Warum nehmt ihr nicht gleich drei davon?“, meinte sie. „Dann hast du auch eine!“ „Warum nicht vier Fahnen?“, wollte Emily wissen. „Wir sollten Mami auch eine mitbringen.“ Roys Kiefer spannte sich an und Emily wusste sofort, dass sie etwas Falsches gesagt hatte. Mami würde keine Fahne wollen. Mami war für den Wochenendtrip nicht einmal mit ihnen nach Sunset Harbor gekommen. Sie waren nur zu dritt. Wieder einmal. In letzter Zeit schienen sie immer häufiger nur zu dritt zu sein. „Zwei genügen völlig“, beschloss ihr Vater mit leicht angespannter Stimme. „Sie sind nur für die Kinder.“ Die Frau hinter der Ladentheke gab den Mädchen je eine Flagge, doch ihre Freundlichkeit wurde durch eine peinliche Unbehaglichkeit ersetzt, als sie erkannte, dass sie versehentlich eine unausgesprochene, unsichtbare Linie überkreuzt hatte. Emily beobachtete, wie ihr Vater die Frau bezahlte und ihr dankte, wobei ihr sein gezwungenes Lächeln und seine angespannte Körperhaltung auffielen. Sie wünschte, sie hätte Mami nicht erwähnt. Sie schaute auf die Flagge in ihrer Hand, die in einem Handschuh steckte, und hatte plötzlich keine Lust mehr zu feiern. Emily schnappte nach Luft, sie befand sich wieder auf der High Street Sunset Harbors, doch diesmal mit Daniel an ihrer Seite. Sie schüttelte den Kopf, um die herumschwirrenden Gedanken zu vertreiben. Das war nicht das erste Mal, dass sie eine verlorene Erinnerung plötzlich wiedererlangte, doch die Erfahrung erschütterte sie immer noch zutiefst. „Geht es dir gut?“, fragte Daniel, der sie mit besorgter Miene sanft am Arm berührte. „Ja“, antwortete Emily mit schwacher Stimme. Sie versuchte zu lächeln, doch schaffte es gerade einmal, ihre Mundwinkel leicht anzuheben. Sie hatte Daniel nichts davon erzählt, dass ihre Kindheitserinnerungen Stück für Stück zurückkehrten, denn sie wollte ihn nicht verschrecken. Entschlossen, sich durch die aufdringlichen Erinnerungen nicht die Freude des Tages vermiesen zu lassen, stürzte sich Emily in die Feierlichkeiten. Seit sie diesen Tag zum letzten Mal hier verbracht hatte, waren schon viele Jahre vergangen, doch trotzdem war Emily von dem Spektakel fasziniert. Sie war verwundert, was diese Kleinstadt aus einer Feierlichkeit machen konnte. Die Traditionen der Stadt gehörte zu den Dingen, die sie mittlerweile an Sunset Harbor zu lieben gelernt hatte. Sie ahnte, dass der Memorial Day zu einem weiteren ihrer Lieblings-Feiertage werden würde. „Hi, Emily!“, rief Raj Patel von der anderen Straßenseite aus. Er und seine Frau Dr. Sunita Patel, die Emily mittlerweile als gute Freunde ansah, spazierten die Straße entlang. Emily winkte ihnen zu, bevor sie sich an Daniel wandte: „Oh, schau nur. Da sind Birk und Bertha. Und liegt da nicht Baby Katy in dem Kinderwagen von Jason und Vanessa?“ Dabei deutete sie auf den Besitzer der Tankstelle und seine behinderte Frau. Neben ihnen stand ihr Sohn, der Feuerwehrmann, der Emilys Küche vor einem Inferno gerettet hatte. Er und seine Frau hatten vor kurzem ihr erstes Kind, ein Mädchen namens Katy, bekommen und einen von Emilys Welpen als Geschenk für ihre Tochter bei sich aufgenommen. „Wir sollten zu ihnen hinübergehen und hallo sagen“, meinte Emily, die mit ihren Freunden sprechen wollte. „Gleich“, erwiderte Daniel und stieß sie mit seiner Schulter an. „Die Parade beginnt.“ Emily schaute die Straße hinunter, wo sich die Blaskapelle der High School formierte, um mit dem Festzug zu beginnen. Nun wurde die Trommel geschlagen und gleich darauf setzten die Blechblasinstrumente mit dem Lied „When the Saints Go Marching In“ ein. Emily sah verzückt zu, wie die Band an ihr vorbeizog. Hinter ihnen liefen Cheerleader, die passende rot-weiß-blaue Kostüme trugen. Sie machten Rückwärts-Saltos und schmissen ihre Beine in die Luft, während sie der Band folgten. Als nächstes kam eine Gruppe Kindergartenkinder, deren Gesichter bemalt waren. Sie hatten dicke Wangen und schauten engelhaft aus. Bei ihrem Anblick verspürte Emily einen kleinen Stich. Kinder zu bekommen war für sie nie besonders wichtig gewesen – in Anbetracht der Tatsache, wie angespannt das Verhältnis zu ihrer eigenen Mutter war, hatte sie es nicht eilig, selber eine zu werden – doch nun, als sie die Kinder während der Parade sah, erkannte Emily, dass sich etwas in ihr verändert hatte. Jetzt brannte ein neues, ziehendes Verlangen in ihr. Sie schaute zu Daniel und fragte sich, ob er wohl genauso empfand, ob der Anblick der liebenswürdigen Kleinkinder den gleichen Effekt auf ihn hatte, doch wie immer war sein Ausdruck schwer zu lesen. Die Parade ging weiter. Als nächstes kam eine Gruppe abgehärtet aussehender Frauen vom ortsansässigen Skate-Club. Sie sprangen mit ihren Skateboards umher und rasten den Weg entlang. Ihnen folgten ein paar Stelzenläufer sowie ein großes Floß, auf dem sich eine aus Karton geformte Statue Abraham Lincolns befand. „Emily, Daniel“, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Es war Bürgermeister Hansen, an dessen Seite Marcella stand, die mehr als nur ein wenig gestresst aussah. „Gefallen Ihnen die Festlichkeiten?“, fragte Bürgermeister Hansen. „Es mag zwar nicht das erste Mal sein, dass Sie die Parade sehen, aber vielleicht das erste, an das Sie sich erinnern werden.“ Er gluckste unschuldig, doch Emily wand sich innerlich. Sie versuchte, nach außen hin ruhig und fröhlich zu wirken. „Sie haben Recht. Leider erinnere ich mich nicht mehr daran, als Kind hierhergekommen zu sein, aber es gefällt mir sehr gut. Was ist mit Ihnen, Marcella?“, fügte sie hinzu, um die Aufmerksamkeit von sich abzulenken. „Sind Sie zum ersten Mal hier?“ Marcella nickte nur kurz und entschieden, dann konzentrierte sie sich wieder auf ihr Klemmbrett. „Beachten Sie sie gar nicht.“ Bürgermeister Hanson gluckste. „Sie ist ein Workaholic.“ Marcella schaute kurz auf, doch Emily genügte der Moment, um die Frustration in ihren Augen zu sehen. Es war offensichtlich, dass sie von der entspannten Einstellung des Bürgermeisters genervt war. Emily konnte mit Marcella mitfühlen. Vor sechs Monaten war sie genauso gewesen: zu ernst, zu gestresst, sie hatte sich nur mit Kaffee auf den Beinen halten können und hatte Angst davor gehabt, zu versagen. Marcella anzusehen war, wie ein Spiegelbild ihres jüngeren Selbst vor Augen zu haben. Emily hoffte nur, dass sie schnell lernen würde, sich zu entspannen, und dass Sunset Harbor ihr dabei helfen würde, ihre eng gespannten Nerven zu lockern, wenn auch nur ein kleines bisschen. „Wie dem auch sei“, meinte Hansen, „lassen Sie uns zum Punkt kommen. Ich muss Medaillen verteilen, nicht wahr, Marcella? Es findet eine Preisverleihung für so ein Ei-und-Löffel-Rennen statt.“ „Es sind Olympische Spiele für unter Fünfjährige“, verbesserte ihn Marcella mit einem tiefen Seufzer. „Genau, das meinte ich“, entgegnete Bürgermeister Hansen und die beiden verschwanden wieder in der Menge. Daniel lächelte. „Es ist einfach unmöglich, sich nicht in diese verrückte Stadt zu verlieben“, sagte er, während er seinen Arm um Emily legte. Sie kuschelte sich an ihn, denn dort fühlte sie sich sicher und beschützt. Zusammen beobachteten sie, wie eine Conga-Gruppe vorbeizog, und winkten ihren Freuden, als diese vorbeikamen: Cynthia aus dem Buchladen, deren Kleidung sich mit ihrem grell orangenen Haar biss, Charles und Barbara Bradshaw aus dem Fischladen, Parker vom Bio-Obst- und Gemüseverkauf. Dann entdeckte Emily jemanden in der Menge, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Mit einer karierten Golfhose und einem limonengrünen Pullover bekleidet, der seinen großen Bauch kaum verdeckte, stand Trevor Mann inmitten der Leute. „Schau nicht hin“, murmelte sie und griff nach Daniels Hand, um sich sicher zu fühlen, „aber unser verächtlicher Nachbar ist aufgekreuzt.“ Natürlich sah Daniel sofort zu ihm. Als ob Trevor einen sechsten Sinn hätte, bemerkte er es sogleich. Als er die beiden ansah, begannen seinen Augen gleich vor Unheil zu glänzen. Emily verzog das Gesicht. „Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht hinschauen sollst!“, schimpfte sie Daniel, während sich Trevor seinen Weg zu ihnen bahnte. „Du weißt, dass es ein ungeschriebenes Gesetz gibt“, zischte Daniel zurück. „Es besagt, dass jemand immer hinschaut, wenn ihm gesagt wird, er solle nicht hinschauen.“ Für eine Flucht war es zu spät. Trevor Mann war schon bei ihnen, er trat durch die Masse wie ein furchtbares, mit Schnäuzer versehendes Biest. „Oh nein“, stöhnte sie. „Emily“, sagte Trevor mit vorgespielter Höflichkeit „Sie haben doch wohl nicht die Steuern, die Sie für das Haus noch zahlen müssen, nicht vergessen, oder? Ich nämlich nicht.“ „Der Bürgermeister hat mir eine Verlängerung gewährt“, erwiderte Emily. „Sie waren bei dem Treffen ebenfalls anwesend, Trevor. Es überrascht mich, dass Sie das nicht mitbekommen haben.“ „Es ist mir egal, ob Bürgermeister Hansen meinte, dass die Rückzahlung nicht sofort stattfinden müsse, denn das liegt nicht in seiner Hand, sondern im Ermessen der Bank. Und ich habe mich schon mit ihr in Verbindung gesetzt und ihr von den illegalen Bewohnen des Hauses und dem illegalen Geschäft erzählt, dass sie nun darin betreiben.“ „Sie sind ein Idiot“, sagte Daniel, der sich Trevor beschützerisch in den Weg stellte. „Lass es sein“, meinte Emily, die ihm eine Hand auf den Arm legte. Das letzte, was sie jetzt brauchte, war, dass Daniel die Beherrschung verlor. Trevor grinste spöttisch. „Die Verlängerung, die Bürgermeister Hanson Ihnen gewährt hat, wird nicht ewig dauern und würde vor einem Gericht auf keinen Fall bestehen. Und ich werde alles dafür tun, um sicherzustellen, dass Ihre Pension untergeht und nie wieder an die Wasseroberfläche kommt.“
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