KAPITEL ZWEI

1407 Words
KAPITEL ZWEI Keri stand wie angewurzelt da. Eine Welle von Emotionen spülte sie fort. Technisch gesehen war es eine gute Nachricht. Man hatte sie scheinbar einen Tag früher wieder zu ihrer normalen Arbeit zugelassen, ein Zeichen, dass Hillman ihr trotz seiner Bedenken wieder zutraute, ihre gewohnte Verantwortung übernehmen zu können. Ein Teil von ihr wollte ihn aber am liebsten ignorieren und sofort zu dieser Lagerhalle aufbrechen. „Bitte heute noch“, rief Hillman und half ihrer Unentschlossenheit auf die Sprünge. „Ich komme, Sir“, sagte sie. Dann wandte sie sich mit einem schwachen Lächeln an Castillo. „Fortsetzung folgt in Kürze.“ Als sie in Hillmans Büro trat, bemerkte sie, dass die Falten auf seiner Stirn heute noch tiefer waren als sonst. Jedes einzelne seiner fünfzig Jahre konnte man seinem Gesicht ansehen. Seine grauen Haare waren wie immer ein einziges Durcheinander. Keri konnte nie so genau sagen, ob er sie nicht bemerkte, oder ob ihm ihre Anwesenheit einfach egal war. Er trug ein Jackett, aber seine Krawatte hing locker über sein Hemd, das an seinem Bauch spannte. In der Ecke seines Büros stand ein abgenutzter, alter Zweisitzer, auf dem Detective Frank Brody saß. Brody war neunundfünfzig Jahre alt. In weniger als sechs Monaten würde er in Rente gehen. Alles an ihm strahlte Unzufriedenheit aus: Die halbherzigen Versuche, freundlich zu seinen Kollegen zu sein, das verwaschene, mit Ketchup-Flecken übersäte Hemd, dessen Knöpfe in der Hüftregion jeden Augenblick abzuspringen drohten, bis hin zu seinen Halbschuhen, die am Saum bereits auseinanderfielen. Keri hatte ihn nie für einen besonders leidenschaftlichen Detective gehalten und besonders in letzter Zeit verwendete er mehr Zeit und Energie für seinen heißgeliebten Cadillac, als für seine ungelösten Fälle. Normalerweise arbeitete er an Raubüberfällen und Morden, aber da Keri und Ray ausgefallen waren, war er vorübergehend der Einheit für Vermisste Personen zugeteilt worden. Diese Versetzung hatte nicht gerade zur Aufhellung seiner Laune beigetragen, und nun kam auch noch die verachtenswerte Aussicht hinzu, mit einer Frau zusammen zu arbeiten. Er gehörte einer anderen Generation von Polizisten an. Einmal hatte Keri gehört, wie er mit einem Kollegen scherzte, „Lieber tote Leiber als keifende Weiber.“ Für Keri beruhte dieses wenig schmeichelhafte Urteil auf Gegenseitigkeit, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Jetzt wies Hillman auf den Bürostuhl an seinem Schreibtisch. Dann drückte er die Lautsprechertaste auf seinem Telefon und begann zu sprechen. „Dr. Burlingame, bei mir sind zwei Kollegen, die ich zu Ihnen schicken werde: Detective Frank Brody und Detective Keri Locke. Detectives, wir haben es zu tun mit Dr. Jeremy Burlingame. Er macht sich Sorgen um seine Gattin, die er seit über vierundzwanzig Stunden nicht erreichen kan. Dr. Burlingame, würden Sie bitte noch einmal wiederholen, was Sie mir gerade gesagt haben?“ Keri nahm Notizblock und Stift zur Hand. Ihre Aufmerksamkeit war geweckt. Bei vermissten Frauen wurde immer zuerst der Ehemann verdächtigt, daher wollte sie sich vollkommen auf den Klang seiner Stimme konzentrieren, wenn er zum ersten Mal über seine Frau sprach. „Natürlich“, sagte Dr. Burlingame. „Gestern früh bin ich nach San Diego gefahren, um bei einem medizinischen Eingriff zu assistieren. Bevor ich losgefahren bin, habe ich Kendra zum letzten Mal gesprochen. Vergangene Nacht bin ich sehr spät nach Hause gekommen und habe mich in eines der Gästezimmer zurückgezogen, um sie nicht aufzuwecken. Da ich heute morgen keine Patienten hatte, habe ich mir erlaubt, auszuschlafen.“ Keri war nicht sicher, ob Hillman das Gespräch aufzeichnete, daher schrieb sie möglichst viele Informationen auf. Dr. Burlingame redete weiter. „Als ich in unser Schlafzimmer ging, habe ich sofort bemerkt, dass sie nicht zu Hause war. Das Bett war gemacht, und daher habe ich angenommen, dass sie das Haus verlassen hat, bevor ich aufgewacht bin. Ich habe ihr eine Nachricht geschrieben. Sie hat jedoch nicht geantwortet – was nicht weiter außergewöhnlich wäre. Wir wohnen in Beverly Hills und meine Frau ist sehr engagiert. Sie ist bei mehreren Wohltätigkeitsvereinen aktiv und hat ihr Handy oft abgeschaltet. Manchmal vergisst sie auch, es hinterher wieder einzuschalten.“ Keri schrieb noch immer alles auf und bewertete insgeheim den Wahrheitsgehalt seiner Aussagen. Bisher schien ihr nichts verdächtig, aber das hatte nicht viel zu bedeuten. Am Telefon ließ sich eine Menge verbergen. Sie wollte sehen, wie er sich verhielt, wenn Detectives des LAPD persönlich vor ihm standen. „Ich bin zur Arbeit gegangen und habe unterwegs versucht, sie anzurufen – doch sie antwortete wieder nicht“, fuhr er fort. „Zur Mittagszeit habe ich mir langsam Sorgen gemacht. Keine ihrer Freundinnen hatte von ihr gehört. Ich habe unser Dienstmädchen Lupe angerufen, und sie sagte, dass sie Kendra weder heute noch gestern gesehen hat. Seitdem bin ich ernsthaft besorgt. Deswegen habe ich den Notruf angerufen.“ Frank Brody lehnte sich nach vorne und Keri wusste, dass er Dr. Burlingame gleich unterbrechen würde. Sie hielt das für keine gute Idee, aber sie konnte ihn nicht daran hindern. Im Normalfall war es das Beste, einen Anrufer alles sagen zu lassen, was sie bewegte. Manchmal wurden sie ihrer Sache zu sicher und machten Fehler. Brody hatte offensichtlich eine andere Vorgehensweise. „Dr. Burliungame, warum wurde Ihr Anruf nicht vom Beverly Hills Police Departement angenommen?“, fragte er. Sein ruppiger Tonfall klang nicht besonders einfühlsam. Für Keri klang er so, als würde er sich fragen, wieso man ihn mit diesem Fall belästigte. „Ich nehme an, weil ich aus meiner Praxis in Marina del Rey anrufe. Aber ist das denn wichtig?“, fragte er verwirrt. „Natürlich nicht“, beschwichtigte Hillman ihn. „Wir helfen Ihnen gerne. Das BHPD hätte sich mit einer vermissten Person vermutlich ohnehin an uns gewandt. Machen Sie sich jetzt am besten auf den Heimweg, damit unsere Ermittler Sie dort um ein Uhr dreißig treffen können. Wir haben Ihre Adresse.“ „Okay“, sagte Burlingame. „Ich werde sofort losfahren.“ Nachdem Hillman das Gespräch beendet hatte, sah er die beiden Detectives an. „Erste Eindrücke?“, fragte er. „Wahrscheinlich ist sie mit einer Freundin auf Hawaii und hat vergessen, ihm Bescheid zu sagen“, redete Brody drauflos. „Oder er hat sie eigenhändig umgebracht, es ist doch immer der Gärtner oder der Ehemann.“ Dann sah Hillman Keri an. Sie dachte einen Moment nach, bevor sie etwas sagte. Irgendetwas sagte ihr, dass die üblichen Regeln hier nicht zutrafen. Sie konnte aber noch nicht genau benennen, was es war. „Ich würde im Prinzip zustimmen, aber ich möchte diesem Mann ins Gesicht blicken, bevor ich irgendwelche Schlüsse ziehe.“ „Nun, Sie werden Ihre Chance bekommen“, sagte Hillman. „Sie können alles vorbereiten, Frank, ich muss noch einen Augenblick mit Locke reden.“ Brody grinste sie hinterhältig an, als er das Büro verließ, als müsste sie nachsitzen, während er mit einer Verwarnung davon gekommen war. Hillman schloss die Tür hinter ihm. Keri machte sich darauf gefasst, irgendeine Art von negativem Kommentar zu hören zu bekommen. „Es wird nicht lange dauern“, sagte er und klang dabei freundlicher, als sie erwartet hatte. „Ich wollte Sie nur an ein paar Dinge erinnern, bevor Sie losgehen. Erstens, ich nehme an, Sie wissen, dass ich nicht gerade erfreut war über Ihren Alleingang auf der Pressekonferenz. Sie haben Ihre persönlichen Interessen über die der Polizei gestellt. Sind wir uns soweit einig?“ Keri nickte. „Gut. Nachdem das geklärt ist, würde ich unsere Zusammenarbeit gerne noch einmal von ganz vorne beginnen. Mir ist klar, dass Sie nicht in der besten Verfassung waren und Ihre Chance gesehen haben, die Ermittlungen im Fall Ihrer vermissten Tochter wieder ins Rollen zu bringen. Das respektiere ich.“ „Vielen Dank, Sir“, sagt Keri einerseits erleichtert, andererseits misstrauisch, angesichts dessen, was wohl als nächstes folgen würde. „Aber“, begann er, „nur weil die Presse Sie besonders mag, bedeutet das nicht, dass ich Sie nicht vor die Tür setzen kann, wenn Sie wieder ihre Einsamer-Wolf Nummer abziehen. Ist das klar?“ „Jawohl, Sir.“ „Gut. Letzter Punkt: Lassen Sie es langsam angehen. Sie sind erst vor einer Woche aus dem Krankenhaus entlassen worden. Passen Sie auf, dass Sie so schnell nicht wieder eingeliefert werden. Verstanden? Abtreten.“ Erstaunt verließ sie das Büro. Sie hatte erwartet, von ihm ermahnt zu werden, aber seine unterschwellige Sorge um ihr Wohlbefinden hatte sie überrascht. Sie sah sich nach Brody um und stellte fest, dass er bereits unterwegs sein musste. Offensichtlich wollte er nicht einmal den Dienstwagen mit einem weiblichen Kollegen teilen. Normalerweise wäre sie darüber verärgert, aber heute freute sie sich fast darüber. Auf dem Weg zum Auto musste sie grinsen. Ich darf wieder richtig arbeiten! Erst jetzt, als sie die Arbeit an einem neuen Fall aufnahm, fiel ihr auf, wie sehr sie ihre Arbeit vermisst hatte. Die übliche Vorfreude und leichte Anspannung stellte sich ein, so dass sie sogar den ständigen unterschwelligen Schmerz ihrer gebrochenen Rippen vergaß. Ohne ihre Ermittlungen war Keri nur ein halber Mensch. Noch etwas anderes ließ sie grinsen. Insgeheim plante sie bereits, gegen zwei von Hillmans Ermahnung zu verstoßen: Sie würde wieder im Alleingang arbeiten und es ganz sicher nicht langsam angehen lassen. Auf dem Weg zum Haus von Dr. Burlingame gab es noch etwas zu erledigen. Sie würde sich diese Lagerhalle aus der Nähe ansehen.
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