Kapitel 1
Ich sitze am Fenster und starre hinaus. Es ist ein kalter Wintertag, der Himmel ist grau, die Bäume sind kahl und der Schnee fällt in dicken, schweren Flocken. Es fühlt sich an, als würde die Welt draußen in einem langen, stillen Schlaf verweilen. Aber ich weiß, dass drinnen alles in Bewegung ist, dass sich Dinge ändern. Und das beunruhigt mich.
Der Duft von Zimt und frisch gebackenen Plätzchen zieht durch das Haus, vermischt sich mit dem Geruch von Tannennadeln und frisch geschlagenem Holz. Die festliche Stimmung ist in der Luft, obwohl ich mich gar nicht danach fühle. Weihnachten steht vor der Tür, und während andere sich auf das Fest freuen, überkommt mich eine tiefe Unruhe. Alles in mir schreit nach etwas, das ich nicht benennen kann.
„Isabella!“, ruft meine Mutter aus der Küche. „Kommst du bitte her? Es gibt etwas, das ich dir zeigen möchte.“
Ich lasse das Fenster los und gehe widerwillig in die Küche. Die warmen Lichter der Weihnachtslichterketten blinken an den Wänden, und der Esstisch ist mit einer weißen Tischdecke bedeckt, auf der goldene Kerzen stehen. Es sieht alles so perfekt aus. Fast zu perfekt.
„Was gibt es, Mama?“, frage ich, während ich mich an den Tisch setze.
Meine Mutter, eine elegante Frau mittleren Alters mit braunen Haaren und einem sanften Lächeln, sieht mich aufgeregt an. „Ich habe etwas für dich besorgt. Du wirst es lieben!“
Sie schiebt eine kleine, silberne Box über den Tisch. Ich nehme sie vorsichtig in die Hand und öffne sie. Ein zartes, goldenes Armband kommt zum Vorschein, verziert mit kleinen Perlen und einem winzigen, leuchtenden Anhänger in Form eines Sterns.
„Es ist wunderschön, Mama. Aber… warum?“
„Es ist ein Geschenk für dich. Für all die Jahre, in denen du so stark warst. Du verdienst es“, sagt sie und lächelt. Aber ich merke, dass ihre Augen ein bisschen zu strahlend sind, als wäre sie nervös, mir dieses Geschenk zu geben.
„Danke“, flüstere ich und lege das Armband zurück in die Box. Irgendetwas an diesem Moment fühlt sich falsch an, aber ich kann nicht sagen, was es ist.
„Oh, und übrigens…“, fährt meine Mutter fort, „wir erwarten heute Abend Besuch. Dein Stiefvater und seine Familie kommen zu uns. Ich hoffe, du freust dich.“
Die Worte treffen mich wie ein Schlag. „Besuch? Von wem?“
„Von Caleb und seinen Eltern. Du erinnerst dich doch an ihn, oder? Dein Stiefbruder.“
Ich bleibe für einen Moment stumm. Caleb. Mein Stiefbruder. Die Erinnerung an ihn ist wie ein Schatten, der immer wieder über mich zieht. Er war derjenige, der mich vor zwei Jahren abgewiesen hat. Derjenige, der meine Gefühle nicht erwidert hat, als ich es ihm am meisten gesagt habe. Und obwohl er jetzt ein erwachsener Mann ist, der immer noch meine Familie ist, fühle ich mich unwohl bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen.
„Ja, natürlich erinnere ich mich“, sage ich, auch wenn es sich anfühlt, als würde mein Herz einen Schlag auslassen. „Wann kommen sie?“
„Gleich. Caleb hat gesagt, er und seine Eltern kommen gegen 18 Uhr. Es wird schön, Isabella. Du solltest versuchen, dich zu entspannen. Es wird alles gut.“
Ich nicke, obwohl ich nicht überzeugt bin. In mir tobt ein Sturm aus Zweifeln und Ängsten. Calebs Rückkehr bedeutet, all die alten Gefühle wieder aufzuwühlen. Gefühle, die ich längst begraben wollte. Aber in diesem Moment ist es zu spät, um zurückzublicken.
Es ist 18 Uhr, und ich stehe nervös im Wohnzimmer, während meine Mutter eifrig die letzten Vorbereitungen trifft. Der Duft von frisch zubereitetem Abendessen zieht durch das Haus, und draußen ist es dunkel geworden. Die Lichter des Weihnachtsbaums werfen tanzende Schatten an die Wände. Alles sieht so festlich aus – alles bis auf mich.
Die Tür öffnet sich, und ich höre das Klirren von Schritten auf dem Flur. „Da sind sie“, sagt meine Mutter aufgeregt und öffnet die Tür.
Zuerst tritt Calebs Mutter ein, eine elegante Frau in ihren späten 40ern, die immer perfekt aussieht, mit ihrem makellosen Make-up und dem teuren Parfüm. Sie ist die Art von Frau, die nie einen Tag ohne eine Maniküre oder ein neues Designerstück verbringt. Ihr Lächeln ist warm, aber ihre Augen bleiben stets aufmerksam, als würde sie stets nach etwas suchen.
„Isabella, wie schön dich zu sehen!“, ruft sie und zieht mich in eine enge Umarmung.
„Hallo, Mrs. Harrow“, sage ich leise und versuche, mich zu entspannen.
Und dann tritt Caleb ein. Mein Herz macht einen Sprung, als ich ihn sehe. Er ist größer geworden, breiter, mit einem ernsteren Blick und einer stillen Präsenz, die den Raum sofort füllt. Sein braunes Haar ist etwas kürzer als früher, und sein Gesicht ist markanter, kantiger. Aber die Augen – seine Augen – sind immer noch die gleichen. Sie bohren sich in meine und ich weiß, dass er mich bemerkt hat. Wieder.
„Isabella“, sagt er schließlich, seine Stimme tief und ruhig. Es klingt so, als würde er sich zwingen, mir zuzuhören, als ob er sich all die Jahre, in denen er mich vermied, ausreden müsste.
„Hallo, Caleb“, murmle ich, während ich versuche, nicht zu zeigen, wie nervös ich bin.
Die Stille zwischen uns ist unerträglich. Niemand spricht, und doch gibt es so viele unausgesprochene Worte zwischen uns. Meine Mutter und Calebs Mutter reden weiter, aber ich höre kaum hin. Ich kann nur an den Moment denken, der uns hierher geführt hat.
„Setz dich doch, Isabella“, sagt Calebs Mutter schließlich, als sie mich zu einem der Stühle an dem festlich gedeckten Tisch führt.
Ich setze mich, und Caleb nimmt ebenfalls Platz, aber nicht direkt neben mir, sondern am anderen Ende des Tisches. Ich merke, wie die Spannung in der Luft spürbar wird. Wir essen, aber jedes Wort scheint zu viel, jeder Blick von Caleb wie ein Brennglas auf das, was wir beide noch nicht ausgesprochen haben.
Es ist schwer, die Kontrolle über meine Gedanken zu behalten, als Calebs Blick immer wieder zu mir wandert. Ich kann es fühlen, diese unausgesprochene Frage in seinen Augen – das Bedürfnis, zu wissen, warum ich immer noch so… distanziert bin. Warum ich ihm nie wirklich verziehen habe.
„Wie läuft es eigentlich bei dir, Isabella?“, fragt Caleb nach einer langen Pause, seine Stimme ist jetzt viel sanfter, als ich es von ihm gewohnt bin.
Ich schaue auf, um ihm in die Augen zu sehen, aber ich kann nicht sofort antworten. Es ist zu schwer. Ich atme tief durch und versuche, ein Lächeln zu zeigen. „Es läuft… gut. Und bei dir?“
„Es geht. Es ist viel los“, antwortet er, während er seinen Blick senkt. „Es ist nicht einfach, alles zu jonglieren.“
„Ich kann mir vorstellen, dass das schwer ist“, sage ich leise, aber in meinem Inneren weiß ich, dass ich mir mehr vorstellen könnte, als er denkt.
Doch dann unterbricht meine Mutter das Gespräch, indem sie das Thema wechselt und uns in die Weihnachtsgeschichte einführt, die sie uns jedes Jahr erzählt. Aber ich höre nicht wirklich zu. Meine Gedanken sind immer bei Caleb, bei den Gefühlen, die er in mir aufwirft, und bei der Frage, ob ich jemals in der Lage sein werde, diese Vergangenheit hinter mir zu lassen.
Und als der Abend fortschreitet, merke ich, dass ich nicht nur mit Calebs Anwesenheit, sondern mit meiner eigenen Vergangenheit kämpfe.