KAPITEL ZWEI

1980 Words
KAPITEL ZWEI Kyra ging in den düsteren Dornenwald westlich der Festungsanlage, einem Wald, der so dicht war, dass man kaum etwas sehen konnte. Während sie langsam mit Leo weiterging, und Schnee und Eis unter ihren Füssen knirschten, blickte sie auf. Im Vergleich mit den riesigen Dornenbäumen kam sie sich winzig vor. Es waren uralte schwarze Bäume mit knorrigen Ästen, die Dornen ähnelten und fleischigen, schwarzen Blättern. Sie spürte, dass dieser Ort verflucht war; nichts Gutes kam jemals von hier. Die Männer ihres Vaters kehrten oft verletzt von der Jagd zurück und mehr als nur einmal war ein Troll durch die Flammen gebrochen, hatte hier Zuflucht gesucht und den Wald als Lager benutzt, um das Dorf anzugreifen. In dem Augenblick, in dem sie ihn betrat, spürte sie sofort einen Schauer. Es war dunkler hier, kälter, und die Luft war feuchter; der Geruch der Dornenbäume lag schwer in der Luft – wie verrottende Erde – und die riesigen Bäume sperrten das letzte verbliebene Licht des Tages aus. Kyra war wütend auf ihre älteren Brüder. Es war gefährlich ohne die Begleitung von mehreren Kriegern hierher zu kommen – besonders in der Abenddämmerung. Jedes Geräusch ließ sie aufschrecken. Aus der Ferne hörte sie den Schrei eines Tieres und sah sich suchend danach um. Doch sie konnte es im dichten Wald nicht finden. Leo jedoch knurrte neben ihr und stürmte plötzliche los. „Leo!“, rief sie. Doch er war schon verschwunden. Sie seufzte verärgert; so war er immer, wenn sie einem Tier begegneten. Sie wusste, dass er irgendwann zurückkommen würde. Kyra ging nun allein weiter; der Wald wurde immer dunkler, und es fiel ihr schwer, den Spuren ihrer Brüder zu folgen – bis sie fernes Gelächter hörte. Sie straffte sich und folgte dem Lachen durch die dicken Bäume, bis sie vor sich ihre Brüder sah, Kyra hielt Abstand, denn sie wollte nicht, dass sie sie sahen. Sie wusste, dass Aidan sich schämen und sie wegschicken würde, wenn er sie sah. Sie würde sie aus der Deckung beobachten, nur um sicherzugehen, dass sie keinen Ärger bekamen. Es war besser für Aidan, sich wie ein Mann zu fühlen, als sich zu schämen. Ein Zweig brach unter ihrem Stiefel und Kyra duckte sich, besorgt, dass das Geräusch sie verraten könnte – doch ihre betrunkenen Brüder bemerkten nichts. Sie waren etwa 30 Meter vor ihr und übertönten jedes Geräusch mit ihrem Lachen. An Aidans Körperhaltung konnte sie sehen, wie angespannt er war. Er sah aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen. Er hielt seinen Speer fest, um sich als Mann zu beweisen, doch er hielt die viel zu große Waffe unsicher und schwankte unter ihrem Gewicht. „Komm hier hoch!“, rief Braxton Aidan zu, der ein paar Meter hinter ihnen lief. „Wovor hast du solche Angst?“, fragte Brandon ihn. „Ich habe keine Angst…“, beharrte Aidan. „Ruhe!“, sagte Brandon plötzlich, blieb stehen und hielt Aidan zurück. Zum ersten Mal seit sie losgegangen waren, war seine Miene ernst. Auch Braxton blieb angespannt stehen. Kyra versteckte sich hinter einem Baum und beobachtete ihre Brüder. Sie standen am Rand einer Lichtung und sahen geradeaus, als hätten sie etwas gesehen. Vorsichtig kroch sie auf sie zu, um besser sehen zu können, und als sie zwischen zwei Bäumen hindurchsah, blieb sie verblüfft stehen, als sie entdeckte, was ihre Brüder sahen. Mitten auf der Lichtung stand ein Eber und grub Eicheln aus. Doch es war kein normaler Eber; es war ein riesiger, schwarz gehörnter Eber – der größte, den sie je gesehen hatte, mit langen gebogenen weißen Hauern und drei langen scharfen Hörnern, wovon eines aus seiner Nase und zwei aus dem Kopf hervorragten. Beinahe so groß wie ein Bär, war es ein seltenes Tier, bekannt für seine Bösartigkeit und seine Schnelligkeit. Es war ein weithin gefürchtetes Tier, eines, dem kein Jäger je begegnen wollte. Es bedeutete Ärger. Kyra, die eine Gänsehaut bekam, wünschte sich, dass Leo hier wäre – doch in gewisser Weise war sie dankbar, dass er nicht hier war, denn sie wusste, er hätte sich sofort auf das Tier gestürzt und war sich nicht sicher, ob er die Konfrontation überleben konnte. Kyra nahm langsam ihren Bogen von der Schulter während sie instinktiv nach einem Pfeil griff. Sie betrachtete genau, wie weit der Eber von den Jungen entfernt war – und sah, dass er viel zu nah war. Außerdem waren viel zu viele Bäume im Weg, als dass sie einen sauberen Treffer landen konnte, und bei einem Tier dieser Größe war kein Raum für Fehler. Sie bezweifelte, dass ein Pfeil ausreichen würde, es zu töten. Kyra sah die Angst in den Gesichtern ihrer Brüder – doch der Blick wich bei Braxton und Brandon schnell einem Ausdruck von Draufgängertum – wahrscheinlich der Mut der Betrunkenen. Beide hoben ihre Speere und gingen einige Schritte auf den Eber zu. Als Braxton Aidan wie angewurzelt stehen bleiben sah, packte er den kleinen Jungen an der Schulter und zog ihn mit sich. „Das ist deine Chance, ein Mann zu werden“, sagte Braxton. „Töte den Eber und sie werden noch in Generationen über dich singen.“ „Ja, bring seinen Kopf zurück und du wirst berühmt werden“, sagte Brandon. „Ich… hab Angst“, sagte Aidan. Brandon und Braxton schnaubten, dann lachten sie ihn aus. „Angst?“, sagte Brandon. „Was würde Vater sagen, wenn er das hören könnte?“ Der Eber hob aufmerksam den Kopf und starrte sie aus leuchtend gelben Augen an. Seine Schnauze verzog sich zu einem wütenden Brummen. Er öffnete das Maul und zeigte sabbernd seine Hauer, während er ein böses Knurren ausstieß. Selbst Kyra, die ein ganzes Stück weit entfernt war, spürte einen Anflug von Angst – sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was Aidan empfinden musste. Kyra schrieb jegliche Vorsicht in den Wind und tastete sich schnell voran, entschlossen, zu ihnen aufzuholen, bevor es zu spät war. Als sie nur noch ein paar Meter hinter ihren Brüdern war, rief sie, „Lasst es bleiben!“ Ihre strenge Stimme zerriss die Stille, und ihre Brüder fuhren, offensichtlich erschrocken, herum. „Ihr hattet euren Spaß“, sagte sie. „Lasst es bleiben!“ Während Aidan erleichtert war, sahen Brandon und Braxton sie wütend an. „Was weißt du schon?“, gab Brandon zurück. „Hör auf, dich in Männerangelegenheiten einzumischen.“ Der Eber knurrte lauter während er auf sie zu kroch, und Kyra, wütend und ängstlich zur gleichen Zeit, trat vor. „Wenn ihr dumm genug seid, euch mit dem Vieh anzulegen, dann nur los“, sagte sie. „Doch ich nehme Aiden mit zurück.“ Brandon schnitt eine Grimasse. „Aidan passiert hier schon nichts“, gab Brandon zurück. „Er ist im Begriff zu lernen, wie man kämpft. Nicht wahr, Aidan?“ Aidan stand schweigend da, starr vor Angst. Kyra wollte gerade Aidan am Arm packen, als sie ein Rascheln von der Lichtung hörte. Sie sah wie der Eber langsam Schritt für Schritt bedrohlich näher kam. „Er greift nicht an, wenn ihr ihn nicht provoziert“, flehte Kyra ihre Brüder an. „Lasst es gut sein.“ Doch ihre Brüder ignorierten sie, wandten ihr den Rücken zu, und hoben ihre Speere. Sie betraten die Lichtung, als ob sie ihr beweisen wollten, wie mutig sie waren. „Ich ziele auf seinen Kopf“, sagte Brandon. „Und ich auf seinen Hals“, stimmte Braxton zu. Der Eber knurrte lauter, öffnete sein Maul weiter, sabberte, und ging weiter auf sie zu. „Kommt zurück!“, schrie Kyra verzweifelt. Doch Brandon und Braxton gingen weiter, hoben ihre Speere und warfen sie plötzlich. Kyra beobachtete gebannt, wie die Speere durch die Luft segelten, und bereitete sich auf das Schlimmste vor. Zu ihre Entsetzen sah sie, wie Brandons Speer das Tier nur am Ohr kratzte – gerade genug, um es zu provozieren – während Braxtons Speer einen guten Meter am Kopf des Ebers vorbei segelte. Plötzlich sahen Brandon und Braxton nicht mehr so mutig aus. Sie standen mit offenen Mündern und einem dummen Ausdruck im Gesicht da, und ihr betrunkener Mut wich nackter Angst. Der Eber senkte wütend seinen Kopf, stieß ein schreckliches Grunzen aus und stürmte los. Kyra sah mit Schrecken zu, wie er auf ihre Brüder zu stürmte. Für seine Größe war das Tier unglaublich schnell. Als es näher kam, drehten sich Braxton und Brandon um und rannten in entgegengesetzte Richtungen davon. Damit stand Aidan allein wie von der Furcht angewurzelt da. Sein Mund stand offen und er ließ den Speer fallen. Kyra wusste, dass es keinen Unterschied machte: Aidan hätte sich ohnehin nicht gegen das Tier wehren können. Nicht einmal ein ausgewachsener Mann wäre dazu in der Lage gewesen. Und als ob er es spürte, stürmte der Eber direkt auf Aidan zu. Mit pochendem Herzen stürzte sie zwischen den Bäumen hervor. Sie wusste, dass sie nur eine Chance hatte: ihr Schuss musste sitzen. Selbst wenn sie nicht vor Panik zittern würde war der Schuss auf den rasenden Eber kein leichter – doch wenn sie wollte, dass Aidan überlebte, musste sie treffen. „AIDAN, RUNTER!“, rief sie. Zuerst bewegte er sich nicht. Aidan stand ihr im Weg, störte ihre Schussbahn. Wenn er sich nicht rührte, konnte sie nicht schießen. Sie hob ihren Bogen und rannte los. Während sie durch den Wald stolperte und auf dem Schnee und Eis rutschte, fürchtete sie einen Augenblick lang, dass alles verloren war. „AIDAN!“, rief sie verzweifelt. Wundersamer Weise hörte er sie diesmal, und warf sich im letzten Augenblick zur Seite, sodass Kyra einen Schuss abgeben konnte. Während der Eber auf Aidan zustürmte, lief die Zeit für Kyra plötzlich langsamer ab. Sie spürte, dass sich etwas öffnete, etwas in ihr aufstieg, das sie noch nie zuvor gespürt hatte, und nicht verstand. Die Welt um sie herum verschwand und alles was sie hörte war ihr eigener Herzschlag und ihr Atem, das Rascheln der Blätter und das Krächzen einer Krähe über ihr. Sie fühlte sich eins mit der Natur, als ob sie ein Reich betreten hätte, in dem sie eins mit dem Universum war. Kyras Hände wurden warm und prickelten, als ob etwas Fremdes die Kontrolle über ihren Körper übernahm. Es war als ob sie, für einen winzigen Moment nur, über sich hinauswuchs und jemand weitaus Mächtigeres wurde. Kyra hörte auf zu denken und ließ sich von ihrem Instinkt und der neuen Energie, die durch ihren Körper pulsierte leiten. Sie blieb stehen, hob den Bogen, legte den Pfeil an, spannte und schoss. Sie wusste in dem Augenblick, in dem sie den Pfeil losgelassen hatte, dass es ein ganz besonderer Schuss war. Sie musste den Pfeil nicht beobachten um zu wissen, dass er genau dort traf, wo sie ihn haben wollte: ins rechte Auge des Tiers. Das Tier stieß einen Schrei aus als seine Beine unter ihm nachgaben und stürzte mit der Schnauze voran in den Schnee. Es rutschte weiter über den glatten Boden, sich windend, bis es Aidan erreichte. Weniger als einen halben Meter vor Aidan blieb es schließlich liegen. Es zuckte, und Kyra legte einen weiteren Pfeil an und schoss dem Tier von hinten durch den Schädel. Endlich rührte es sich nicht mehr. Kyra stand mit pochendem Herzen auf der Lichtung und das Prickeln in ihren Händen ließ langsam nach, die Energie schwand und sie fragte sich, was gerade geschehen war. Hatte sie wirklich den Eber erlegt? Sofort dachte sie an Aidan, fuhr herum und zog ihn zu sich heran. Er blickte zu ihr auf wie er seine Mutter angesehen hätte, die Augen voller Angst, doch unverletzte. Sie war grenzenlos erleichtert, als sie sah, dass ihm nichts geschehen war. Dann drehte sie sich um und sah ihre älteren Brüder, die immer noch auf der Lichtung kauerten, und sie geschockt und staunend ansahen. Doch da lag noch etwas anderes in ihrem Blick, das sie nervös machte: Argwohn. Als ob sie anders war als sie. Eine Außenseiterin. Es war ein Blick, den Kyra schon zuvor gesehen hatte. Selten zwar, doch oft genug, dass sie selbst darüber nachdachte. Sie drehte sich um und betrachtete das tote Tier, riesig und blutend zu ihren Füssen, und sie fragte sich, wie sie, ein fünfzehnjähriges Mädchen, das vollbringen konnte. Sie wusste, dass es selbst ihre Fähigkeiten überstieg. Das war mehr als ein Glückstreffer. Da war immer etwas an ihr gewesen, das anders war, als die anderen. Sie stand da, betäubt, und wollte sich bewegen, doch es gelang ihr nicht. Denn das was sie heute erschüttert hatte war nicht das Tier, das wusste sie, sondern der Blick ihrer Brüder. Und sie stellte sich zum wiederholten Mal die Frage, vor der sie sich schon ihr ganzes Leben gefürchtet hatte“ Wer war sie?
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