Kapitel 1-1

2002 Words
1 EMORY „Du weißt, was man über die aphrodisierende Wirkung von Austern sagt?“ Oh, Mist. Wirklich? Er würde ernsthaft diesen Spruch bringen? Er troff geradezu vor Anzüglichkeiten und lächerlichen Muschelfakten, über die ich nichts wissen wollte. Ich lächelte milde zu…Bob. Nein, Bill. Irgendetwas mit B. Er war in seinen Dreißigern, gut gekleidet in einem Anzug mit einer grauen Krawatte, als käme er direkt von der Arbeit. Er hatte noch alle Haare, war gepflegt und wirkte dennoch absolut…durchschnittlich. Durchschnittlich war nicht schlecht, aber Austern? Jaa, nein. Der Teil der Verlobungsfeier meiner Freundin Christy, bei dem wir uns zum Essen hingesetzt hatten, hatte vor einer Weile geendet und die Gruppe war von dem Privatzimmer in den Barbereich gewechselt, um etwas zu trinken und sich unter die Leute zu mischen. Das Unter-die-Leute-Mischen klappte bei mir eindeutig weniger gut, da ich ihm dabei zuschauen musste, wie er eine Auster nach der anderen leerschlürfte. Hatte er beim Abendessen nicht genug bekommen? Ich war bis zum Bersten voll mit Krabbenküchlein und hatte keinen Platz für irgendetwas anderes, insbesondere keine Austern. Bäh. Wollen wir es mal so sagen, jemandem beim Verzehr von Austern zuzusehen, ist kein Zuschauersport. Ich biss auf meine Lippe, als er eine Cocktailserviette nutzte, um den Austernsaft abzuwischen, der ihm übers Kinn lief. Christy hatte mit ihrem Verlobten Paul einen wundervollen Mann kennengelernt. Sein Cousin, der versuchte, seinen einfallslosen Charme bei mir spielen zu lassen, während er lebendige Weichtiere der Chesapeake-Bucht verspeiste, war hingegen ein absoluter Vollpfosten. Ich schaute aus der großen Fensterfront. Da sich das Restaurant im sechsten Stock eines neuen Boutique-Hotels direkt am Hafen befand, war die Aussicht fantastisch. Ich wollte ihn am liebsten eiskalt abblitzen lassen, ihm sagen, dass er dringend ein Mundwasser und einen Zahnstocher benötigte, aber er war mit Paul verwandt und ich war es Christy schuldig, dass ich mir keinen ihrer zukünftigen Verwandten zum Feind machte. Außerdem würde ich ihm wahrscheinlich in einigen Monaten auf der Hochzeit wieder begegnen und, Gott bewahre, er war einer der Trauzeugen. Als Brautjungfer – die älteste Brautjungfer der Geschichte – würde ich wahrscheinlich an seinem Arm zum Altar laufen müssen. Ich bemühte mich, zu lächeln und so diplomatisch wie möglich zu nicken. Lächeln und nicken, aber er hatte die Persönlichkeit einer Meeresschnecke oder eben einer Auster. Wir hatten ein oder zwei Minuten über Paul und Christy geredet, aber danach…hatte er sich selbst als Player präsentiert. Er stand etwas zu nah bei mir, sein Blick sank wiederholt auf meine Brust und er hatte ein merkwürdig anzügliches Grinsen aufgesetzt. Es musste ein Grinsen sein oder eine Art nervöse Zuckung des Mundwinkels. Warum sich der Kerl in meiner Nähe aufhielt, wo null Hoffnung auf…irgendetwas bestand, war mir schleierhaft. Ich hatte mir an einem Mann die Finger verbrannt, okay, viel eher war ich zu einem Brikett verkohlt worden, und ich war nicht auf der Suche nach einem anderen. Ich hatte die Scheidung überlebt, hatte überlebt, weil Chris eine Mutter gebraucht hatte, weil ich für ihn hatte stark sein müssen. Aber er war jetzt weg auf dem College und ich konnte mich nicht mehr hinter der Mutterrolle verstecken. Ich konnte über Abseitsregeln beim Fußball oder Spendensammlungen für den Elternverein plaudern, aber mit einem Mann zu reden, einem echten Mann und keinen Highschool-Eltern, war unglaublich schwer. Ich bezweifelte, dass der Kerl irgendetwas über diese Dinge wusste und wahrscheinlich würde er seine Austern woanders hintragen, sobald er erfuhr, dass ich ein Kind hatte – wenn auch ein achtzehnjähriges. Gott, ich war schrecklich introvertiert! Ich hasste Menschenmengen, neue Leute, laute Geräusche. Ich war kein Partymensch. Deswegen fiel es mir auch so schwer, neue Menschen kennenzulernen. Ich war furchtbar darin, anders als Christy, für die es keine Fremden gab. Diese ganze introvertiert-extrovertiert Dynamik hatte mir geholfen, als sie mich gleich an meinem ersten Arbeitstag aus meinem Schneckenhäuschen gelockt und dankenswerterweise mit meinem neuen Arbeitsplatz vertraut gemacht hatte. Dadurch waren wir sofort Freundinnen geworden. Es war nicht so, als wäre ich schüchtern oder merkwürdig oder so etwas, aber ich war definitiv festgefahren in meinem Verhalten. So nannte ich es zumindest. Christy nannte es einsam und mir fiel nichts Deprimierenderes ein als das. Sie hielt mich für einsam. Sie meinte das nicht Böse, sondern war einfach ehrlich. Aber ich war so lange vorsichtig gewesen und es war sogar noch länger her, seit ich auf Dates gegangen war. Fast an die zwanzig Jahre. Deswegen war ich ohne ein Plus-Eins auf der Verlobungsfeier aufgetaucht und deswegen war ich auch nicht an Bob/Bill und seinen lächerlichen Anmach-Taktiken interessiert. Sicher, ein Mann wäre toll, denn mein Vibrator redete nicht, sondern erledigte nur den Job und war kein Vergleich zu einem echten Mann. Ein Orgasmus mit einem echten Mann war es allerdings nicht wert, Spielchen zu spielen und ich wollte die Regeln des Datens im einundzwanzigsten Jahrhundert erst gar nicht lernen. Den Vergleich mit Bob/Bill würde heute Abend auf jeden Fall mein Vibrator gewinnen. Ich seufzte und nippte an meinem Wasser. „Schau, ich muss los. Ich glaube, Christy hat mich gerade zu sich gewinkt.“ Ich machte einen Schritt von ihm weg, aber er legte seine Hand auf meinen nackten Arm. Seine Finger waren kühl und ich fragte mich, welche Art von Austernkrankheit er mir gerade übertragen hatte. „Man sollte Austern nur in den Monaten essen, die kein R im Namen haben.“ Er nickte, als wolle er seine Aussage bekräftigen. Mein Gehirn war leicht auf Durchzug gestellt gewesen, aber hielt jetzt inne, um über seine Worte nachzudenken. Monate ohne ein R. November. Nein. April. Nein. Mai. Ja. Juni, Juli, August. Das war das Interessanteste, was er bisher von sich gegeben hatte, aber mal ehrlich… Monate zum Austernessen? „Dann nehme ich mal an, dass du keine hättest essen sollen, oder?“, wunderte ich mich und zog eine Augenbraue hoch. Er zuckte verlegen mit den Schultern, errötete sogar leicht, aber hatte den Sarkasmus in meiner Stimme nicht bemerkt. „September ist nicht allzu weit von den nicht-R Monaten entfernt.“ Er grinste und ich bemerkte, dass sich seine Schneidezähne leicht überlappten. „Ich lebe gern gefährlich.“ Sein Daumen streichelte über meinen Arm und ich trat zurück aus seinem Griff. Klar doch. Ich verdrehte innerlich die Augen. Er sah nicht so aus, als würde er irgendwelche Risiken eingehen, denn er redete mit mir und nicht mit einer der anderen Frauen in der Bar, die viel provokativer gekleidet und eine sichere Nummer waren. Und jünger. Mit achtunddreißig war ich nicht unbedingt alt, aber die meisten Frauen in meinem Alter hatten keinen Sohn, der schon aufs College ging. Manche, die ich kannte, brachten ihr Kindergartenkind zum Zwergen-Fußball. Ich hatte Bob/Bill keinerlei Zeichen gegeben, das gesagt hätte, nimm mich mit nach Hause. Die Art, wie ich meine Arme vor der Brust verschränkt hatte, sogar während ich mein Glas in der Hand hielt, war ein klassisches Zeichen für nicht interessiert. Er hatte keine Ahnung. Eine Frau wollte einen Mann, der sie gegen die Wand drückte und sie besinnungslos küsste. Nun, ich wollte das zumindest. Wilder, hemmungsloser s*x wäre auch gut. Dieser Kerl? Keine Chance. Wenn ich raten müsste, würde ich sagen…Buchhalter. Ich trank einen Schluck von meinem Eiswasser mit Limetten und sah durch meine dunklen Wimpern zu ihm hoch. „Also, was arbeitest du?“ Er legte eine Austernschale auf seinen Teller. „Ich bin Auditor bei der Sozialversicherungsbehörde.“ Nah dran. Ich nickte vage, wobei ich mich bemühte, dass meine Augen nicht glasig wurden. Er war auf der Suche nach einer Frau, die das weißer-Gartenzaun-Leben mit zwei Kindern und einem Hund – und Austern – wollte. Das hatte ich alles schon mal gehabt und brauchte ich nicht nochmal. Als ich quer durch den vollen Raum einen Blick zu Christy warf, sah ich sie über etwas lachen, das die Frau neben ihr gesagt hatte. Sie sah in ihrem roten Seidenneckholderkleid, das ihre gebräunten Schultern und Rücken freiließ, umwerfend aus. Ihre Haare waren glatt und lang und ihr Makeup war definitiv geeignet für einen feuchtfröhlichen Ausgehabend. Es war ein ganz anderer Look als ihre Businesskleidung für den Job im Krankenhaus und viel schicker als meine tägliche Schwesterntracht in der Notaufnahme. Als wir uns gemeinsam auf die Suche nach einem Kleid gemacht hatten, hatte ihr Plan gelautet, Paul mit einem gewagten Outfit zu überraschen. So wie seine Hand gerade oberhalb von noch anständig in ihrem Kreuz lag, würde ich sagen, dass er aufgegangen war. Die beiden waren offenkundig ineinander verliebt und manchmal war das etwas schwer zu ertragen. Die Sehnsucht zerrte stark an mir, beinahe schmerzhaft, weil ich den Blick, mit dem Paul sie bedachte, niemals an Jack entdeckt hatte. Was mich schmerzte, war nicht, dass mir das entgangen war, sondern dass ich es vielleicht nie haben würde. Mein Kleid war nicht mal annähernd vom gleichen Kaliber wie Christys. Ich versuchte nicht, meinem Zukünftigen eine Freude zu machen und ich war auch nicht auf der Suche nach einem. Nicht in einer Bar und nicht bei Bob/Bill. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie man jemanden „abschleppte“ und ich war nicht mehr einundzwanzig. Meine Dating-Fähigkeiten waren nicht nur eingerostet, sie steckten in einer Zeitkapsel aus den Neunzigern. Ich beobachtete die anderen Frauen im Barbereich. Manche trugen weniger Kleider als ich, wenn ich meinen Schlafanzug anhatte, wodurch sie nur wenig der Fantasie überließen. Sie lächelten kokett, berührten, überkreuzten und entkreuzten ihre Beine, klimperten mit den Wimpern. „Was ist mit dir?“, wollte er wissen, wodurch er mich von meinen Beobachtungen ablenkte. Ich schaute zu Paul und Christy und erblickte einen Mann, der bei ihnen stand. Einen Mann, der vorhin definitiv noch nicht dort gewesen war. Wäre er dort gewesen, hätte ich nämlich nicht den Blick von ihm abwenden können. „Oh, ähm…klinische Pflegeexpertin“, antwortete ich abwesend, während ich den Arm des Mannes bemerkte. Ausgeprägte Muskeln wölbten sich unter dem weißen Ärmel seines Hemds. Ein Tattoo blitzte unter dem hochgerollten Ärmel hervor und seine Hände waren groß, die Finger stumpf. Ich konnte den Rest seines Körpers nicht sehen und das dringende Bedürfnis, genau das zu tun, überkam mich. Das war ein Mann. Bob/Bill stellte seinen Teller auf einen leeren Tisch und griff nach seinem Bier. Dabei rückte er sogar noch näher zu mir, was mich verärgerte. „Bist du eine der Frauen, die dabei helfen, Patienten zum Röntgen zu bringen? Ich mag diese süßen Uniformen, die sie tragen.“ Ich trat einen Schritt zurück und ignorierte seine Worte. Es frustrierte mich, dass ich keinen Blick auf den Mann erhaschen konnte. Zum Glück verließ eine Frau die Gruppe, wodurch eine Lücke entstand, in der er deutlich sichtbar war. Hitze strömte durch meine Adern bei seinem Anblick und ich spürte verrückte Schmetterlinge in meinem Bauch. Das waren keine dummen, Schulmädchen-Schwärmerei Gefühle. Das war etwas völlig anderes. Das war intensive, rohe Lust. Heiliger Bimbam, ich hätte schwören können, dass sich meine Nippel unter meinem Kleid aufrichteten. Er war größer als Paul mit seinen eins achtzig, hatte breitere Schultern und kurzgeschorene dunkle Haare. Er war gut gekleidet, trug eine silberne, gelockerte Krawatte, hatte die obersten Knöpfe seines blütenweißen Hemdes geöffnet und steckte in dunklen Hosen. An ihm wirkte das förmlich, aber es stand ihm. Ich konnte ihn mir allerdings nur in einem Paar abgenutzter Jeans und…und nichts anderem gut vorstellen, denn fit beschrieb ihn nicht einmal annähernd. Er schien nur aus wohldefinierten, straffen Muskeln zu bestehen und es juckte mich in den Fingern, sie abzutasten. Von hier konnte ich erkennen, dass seine Augen dunkel waren, eine breite und ebenfalls dunkle Stirn, die sie überschattete. Wenn ich schon so empfand, nachdem ich nur einen Blick auf ihn geworfen hatte, was würde erst passieren, wenn er seinen Blick auf mich richtete? Ich schluckte allein bei der Vorstellung. Er war definitiv groß und dunkel, aber gut aussehend? Nicht im herkömmlichen Sinne, aber er drückte jeden meiner Knöpfe und jeden Knopf, von dessen Existenz ich nicht einmal gewusst hatte. Das Lächeln, das er Paul schenkte, war breit und freundlich und mein Herz machte einen Sprung. Obwohl es sich anfühlte, als hätte ich ihn minutenlang angestarrt, waren nur Sekunden vergangen, in denen ich ihn bewundert hatte. Meine Reaktion setzte augenblicklich ein und konnte schon fast als erotisch bezeichnet werden und…warum er? Ich hatte schon attraktivere Männer gesehen und nie auf diese Weise reagiert. Meinem Körper war es egal, dass seine Nase aussah, als wäre sie mindestens zweimal gebrochen worden. Sie deutete auf ein Leben hin, das hart und schwer erkämpft worden war, und damit konnte ich mich identifizieren.
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