KAPITEL ZWEI

778 Words
KAPITEL ZWEI Gwendolyn stand alleine auf den oberen Zinnen des Tower of Refuge, und trug die schwarze Robe, die ihr die Schwestern gegeben hatten. Sie fühlte sich, als ob sie schon ewig hier war. Sie war in aller Stille von einer einzelnen Schwester begrüßt worden, ihre Lehrerin, die nur ein einziges Mal gesprochen hatte, um ihr die Regeln dieses Ortes zu erklären: Es galt, absolute Stille zu halten und nicht mit den anderen zu interagieren. Jede der Frauen lebte hier in ihrer eigenen Welt. Jede der Frauen wollte in Ruhe gelassen werden. Dies war der Tower of Refuge, ein Ort für die, die nach Heilung suchten. Gwendolyn würde hier sicher sein vor allem Bösen. Doch auch allein. Vollkommen allein. Gwendolyn verstand es nur zu gut. Auch sie wollte in Ruhe gelassen werden. Da stand sie nun, oben auf dem Turm, ließ den Blick über die Baumwipfel des Südlichen Waldes schweifen, und fühlte sich einsam wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Sie wusste, dass sie stark sein sollte, dass sie ein Kämpfer war. Die Tochter eines Königs und die Gemahlin – beinahe-Gemahlin – eines großen Kriegers. Doch Gwendolyn musste zugeben, dass so sehr sie auch stark sein wollte, ihr Herz und ihre Seele waren noch immer verletzt. Sie vermisste Thor schrecklich und hatte Angst, dass er nie wieder zu ihr zurückkehren würde. Und selbst wenn, sobald er herausfinden würde, was ihr zugestoßen war, fürchtete sie, dass er nie wieder mit ihr zusammen sein wollte. Gwen fühlte sich hohl, wissend, dass Silesia zerstört war, dass Andronicus gewonnen hatte, und dass jeder, der ihr etwas bedeutete, entweder gefangen genommen worden oder tot war. Andronicus Männer waren überall. Er hatte den Ring vollständig eingenommen und es gab keinen Ausweg mehr. Gwen fühlte sich hoffnungslos und erschöpft; viel zu erschöpft für jemanden ihren Alters. Am schlimmsten jedoch war für sie, dass sie das Gefühl hatte, alle enttäuscht zu haben; sie hatte das Gefühl, dass sie schon zu viele Leben gelebt hatte, und wollte nicht noch mehr sehen. Gwendolyn machte einen Schritt nach vorn, an die äußerste Kante der Zinnen. Sie hob langsam ihre Arme und spürte, wie sie der eiskalte Winterwind umwehte. Sie verlor das Gleichgewicht und schwankte am Rande des Abgrunds und blickte hinab in die Tiefe. Gwendolyn sah zum Himmel und dachte an Argon. Sie fragte sich wo er jetzt wohl war, gefangen in seiner eigenen Welt, zur Strafe für das, was er um ihretwillen getan hatte. Sie war bereit alles dafür zu geben, ihn jetzt sehen zu können, ein letztes Mal seiner Weisheit lauschen zu können. Vielleicht würde es sie retten, sie dazu bringen, umzukehren. Doch er war fort. Auch er hatte seinen Preis gezahlt und würde nicht zurückkehren. Gwen schloss ihre Augen und dachte ein letztes Mal an Thor. Wenn er nur hier wäre! Das würde alles verändern. Wenn sie nur eine einzige Person auf der Welt hätte, die sie wirklich liebte, vielleicht würde ihr das einen Grund geben, zu leben. Sie blickte zum Horizont und hoffte dort Thor zu entdecken. Als sie zu den schnell dahinziehenden Wolken aufblickte, glaubte sie, dass sie undeutlich, irgendwo am Horizont den Schrei eines Drachen gehört hatte. Doch es war so fern und so leise, sie musste es sich eingebildet haben. Es war nur ihr Verstand, der ihr einen Streich spielte. Sie wusste, dass es hier im Ring keine Drachen gab. Genauso wie sie wusste, dass Thor weit weg war; für immer verloren im Empire, an einem fernen Ort, von dem er nie zurückkehren würde. Tränen rollten über Gwens Wangen als sie an ihn dachte, und an das Leben, das sie hätten haben können. Daran, wie nahe sie sich doch gewesen waren. Sie stellte sich sein Gesicht vor, seine Stimme, sein Lachen. Sie war so sicher gewesen, dass sie unzertrennlich sein würden, dass sie niemals durch irgendetwas voneinander getrennt werden würden. „THOR!“ Gwen warf den Kopf in den Nacken und schrie. Sie schwankte am Abgrund und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er zu ihr zurückkehren würde. Doch ihre Stimme verhallte im Wind. Thor war unglaublich weit weg. Gwendolyn griff nach dem Amulett, das Thor ihr gegeben hatte, jenes, das ihr das Leben gerettet hatte. Sie wusste, dass sie seine Kraft benutzt hatte. Nun war es nicht mehr als ein Schmuckstück. Gwendolyn blickte über die Kante und sah das Gesicht ihres Vaters. Er war umgeben von weißem Licht und lächelte sie an. Sie hob einen Fuß als ob sie über die Kante gehen wollte und schloss ihre Augen im kalten Wind. Sie hielt inne, der Wind hielt sie – gefangen zwischen zwei Welten, zwischen der der Lebenden und der der Toten; der nächste Windstoß würde entscheiden, in welche Richtung sie gehen würde. Thor, dachte sie. Vergib mir.
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