„Und dies ist unsere Primadonna assoluta, das Fräulein Flora Garlinda, eine Künstlerin von unermeßlicher Zukunft, die Hoffnung der lyrischen Bühne Italiens.“
Dann sah er erwartungsvoll die Bürger an. Der Advokat, der ihr am nächsten stand, fuhr ein wenig zurück; und dann huldigte er der Primadonna um so ehrfurchtsvoller, je weniger er sie vorher beachtet hatte. Er fragte sie, ob sie schon in der Scala gesungen habe. Sie zuckte die Achseln und krümmte den Mund, als verachtete sie die Scala. Darauf machte er einen großen Kratzfuß.
„Ein Fräulein wie Sie muß wohl Liebhaber haben, so viele es nur will.“
Sie lachte auf und ließ ihn stehen. Er schielte nach rechts und nach links, ob man es gesehen habe; — aber in diesem Augenblick schwankte die Menge: jemand teilte sie, mit den Armen stürmisch über ihren Schultern rudernd.
„Der Maestro!“
Er war angelangt; er keuchte. Seine helle Gesichtshaut war unter seinem leichten blonden Bart ganz rosig bewölkt, sein verlegen ehrgeiziges Lächeln zerging manchmal, und dann sah man, daß er zornig war. Er setzte an:
„Das ist aber... Ich denke doch, ich bin hier der Kapellmeister... Die von mir engagierten Künstler sind da, und niemand ruft mich? Herr Advokat, ich muß Sie...“
Der Advokat klopfte ihn auf den Rücken.
„Mein lieber Dorlenghi, alles geht gut, ich habe mich als Vorsitzender des Komitees mit diesen Herren bereits ins Einvernehmen gesetzt.“
„Aber ich begreife nicht, wie man ohne mich... Dann führen doch Sie den Kapellmeisterstab!“
„Seien Sie gut, Dorlenghi!“ sagte der Apotheker, und Polli, der Tabakhändler, meinte:
„Das alles ist doch nicht der Mühe wert.“
Der Musiker warf die Arme noch höher.
„Nicht der Mühe wert! Ah! Cavaliere: denn ich irre mich nicht, Sie sind der Cavaliere Giordano, und ich heiße Enrico Dorlenghi und bin Dirigent einer Dorfkapelle, nichts weiter. Ich habe in meinem Zimmer gesessen, da hinten in einem Winkel der Stadt, wo man nichts hört noch sieht, und habe an einer Messe geschrieben, die ich noch diesen Herbst in der Kirche aufführen soll. Inzwischen ernten diese Herren die Frucht meiner Bemühungen; denn ich bin stolz, Sie, Cavaliere, unserer Bühne gewonnen zu haben, Sie und Ihre Kollegen. Nicht der Mühe wert! Wenn Sie ahnten, welch ein Ereignis für einen Verbannten, Geopferten —“
Er ging mit dem alten Sänger um den Postwagen herum; seine keuchende Stimme versank manchmal, denn das Volk schrie ihm zu. Viele schrien auf einmal „bravo Maestro!“ andere: „Seht, er ist verrückt geworden!“ Und die meisten wußten nicht, wer gemeint war, und riefen „he, Masetti!“ nach dem Kutscher, der, stimmlos vom Schelten, an den Pferden zerrte. Er saß mit ihnen fest; Jungen krochen zwischen den Beinen der Menge hervor und kniffen ihn. Er schlug aus... Inzwischen ward der Kapellmeister wieder sichtbar, noch immer fuchtelnd. Plötzlich stand er vor der Primadonna. Wie der Cavaliere sie nannte, sahen sie sich an. Der Musiker war auf einmal verstummt, die junge Sängerin sah aus, als gölte es: und die Hände, die sie sich hätten reichen sollen, noch in der Schwebe, traten beide ein wenig zurück. Dann begrüßten sie sich: er rosig von verlegenem Ehrgeiz, sie mit dem entschlossenen Blick von Macht zu Macht, den sie auch auf das Volk gerichtet hatte. Der Kapellmeister sagte:
„Ich würde mich an die ‚Arme Tonietta‘ nicht heranwagen, hätte ich für die Hauptrolle nicht Sie gewonnen, Fräulein Flora Garlinda.“
Sie lächelte gnädig.
„Auch Ihr Name, Maestro, fängt an, sehr bekannt zu werden. Noch neulich in Sogliaco sagte der Direktor Cremonesi...“
Er hatte ein Gesicht wie ein Hungernder. Aber ihre Worte gingen aus, wie er kaum anfing, sie zu verschlingen. Der Gastwirt Malandrini bot ihr eins seiner beiden Zimmer an. Der große beleibte Mann war lautlos, man wußte nicht wie, durch das Gedränge gelangt, lächelte breit und glatt und kannte schon jeden beim Namen.
„Ihnen, Cavaliere, meinen Ehrensalon! Gerade muß ich den Handlungsreisenden haben, der immer herkommt; und zudem ist ein Fremder da, der nichts tut: sonst würde ich alle diese Damen und Herren zu mir einladen. Sie aber, Fräulein Flora Garlinda...“
Die Primadonna lehnte ab; sie sei zu arm, um ins Gasthaus zu gehen.
„Der Direktor Cremonesi“, sagte angstvoll der Maestro, „gilt für geschickt. “
Der Perückenmacher Nonoggi kam dazwischen, dienerte auf einem Bein und empfahl sich den Künstlern. Er hielt einen Haubenstock und rief zärtlich:
„O! welch schöne Perücke. Wie sollte einen Mißerfolg haben, wer solche Perücke trägt!“
„Was höre ich?“ sagte der Wirt, „der Herr Cavaliere hat schon bei dem Herrn Gemeindesekretär gemietet? Aber das Fräulein Italia Molesin? Verständigen wir uns, Fräulein! Sie sind die Schönste von allen...“
„Sein Urteil zählt“, sagte der Kapellmeister; „ich glaube, daß er als Bühnenleiter heute —“
„Und die Herren“, kreischte der kleine Barbier, „bitte ich, mir nur einmal über die Wange zu streichen und dann zu sagen, ob man vermuten würde, daß dort je ein Bart gewachsen ist. So rasiere ich!“
„Ah! so ists recht: auch Sie, Herr Nello Gennari. Das Fräulein Italia und der Herr Nello,“ rief der Wirt, „das sind die geehrten Gäste der Herberge „zum Mond“. Masetti, das Gepäck der Herrschaften! Ihr Leute, den Weg frei!“
Die derbe Schwarze hieb einem halb Betrunkenen, der sie betastete, den Fächer um den Kopf. Dazu lachte sie mit ihrer dicken Kehlstimme.
„Ei seht, die Lustige!“ schrie es. „Ist sie sympathisch!“
„Aber seht das böse Gesicht der andern! Kann man so böse sein! Sie wird die Hexen spielen;“ — und die Frauen traten ganz dicht an die Primadonna hinan und starrten ihr tierisch feindselig in die Augen.
„Ich werde dich nicht heiraten“, erklärte Alfò, der Sohn des Caféwirts, mit seinem törichten Lächeln. Sie betrachtete ihn ohne Spott, die Hände in den Manteltaschen.
„Und ich dich nicht, du Schöner!“
„Er ist nicht mehr schön“, sagte eine Frau und schlug sich auf die Brust. „Der Schöne ist jetzt euer Tenor.“
„Man würde sagen, ein junger Heiliger!“
„Wäre er mein Sohn! Mein Sohn ist häßlich und schlägt mich.“
„Zeig uns dein Gesicht! Ich will dich küssen.“
„O du Schamlose!“
Und tief aus der Menge schallte eine Ohrfeige.
„Bravo!“ sagten Männerstimmen. „Sie sind verrückt, die Weiber.“
„Aber auch ich würde mich verlieben!“ rief der biedere Baß des Apothekers Acquistapace; und viele helle Stimmen, auf allen Seiten und weithin, verstört, selig, im Ton des Träumens:
„Ah! seine Augen. Er sieht mich an! “
Er stand allein; seine Kameraden waren von ihm weggetreten wie auf der Bühne, wenn der Beifall nur ihm galt; und die Arme verschränkt, die Schultern hinaufgezogen, führte er sein leichtes und dennoch beschattetes Lächeln über die Gesichter der Menge. Sie antwortete:
„Es lebe der Gennari!“
Die Jungen kreischten:
„Er lebe!“ — und ein Händeklatschen, irgendwo ausgebrochen, griff um sich, sprang über den Platz.
Es ward zerrissen von einem schweren Glockenschlag; und wie vom Turm nun das Ave stieg, wendeten alle sich ab. Die Menge entfaltete, auseinanderrauschend, zwei weite Flügel; zwischen ihnen, am Ende einer stummen Gasse von Menschen, lag vor dem jungen Sänger die kahle Kirchenmauer. Nur auf ihr noch war ein Streif Sonne. Die einsamen Klänge der Höhe; unten das Staunen der Stille: und da ging dorthinten im Sonnenstreif, allein und rasch, eine Frau in Schwarz entlang. Sie war klein und schlank, ging vor Eile ein wenig geneigt; und in dem schwarzen Schleier, den die letzte Sonne durchleuchtete, sah Nello Gennari ein weißes, weißes Profil, dessen Lid gesenkt war und sich nicht hob. Sie langte beim Portal an, stieg zwischen den Löwen hinauf, und schon schwamm vor dem Dunkel, das sie aufnahm, nur noch, kupferrot und besonnt, ihr großer Haarknoten, — da wendete sie sich um, ganz um und sah von oben die Menschengasse hinab. Er dort am Ende hielt die Arme nicht mehr verschränkt, und sein wankendes Lächeln suchte in den Schleier einzudringen, zu jenem verschwimmenden Oval aus fernem Alabaster... Ein Augenblick, dann endete das Läuten, die Menge schloß sich wie ein Tor, und aufschreckend sah der Tenor all die Gesichter zurückgekehrt, die er vergessen hatte.
Sein Kamerad, der Bariton, stand vor ihm und sagte:
„Ich war im Ort umher, nach Wohnungen für uns. Wer sich begnügt, zahlt wenig.“
„Gaddi, wer war jene Frau?“
„Schon eine Frau? Immer Frauen! Ah, dieser Nello. Er verliert seine Zeit nicht.“
„Wer war sie? “
„Ich habe nichts gesehen, mein armer Nello. Was willst du: ich bin ein Familienvater voller Sorgen. Gleich werden die Meinen hier sein, vier Köpfe, und es heißt ihnen Obdach schaffen. Ich suche einen gewissen Savezzo, der Zimmer haben soll.“
„Nichts gesehen! Und du mußt — nein bleibe! Dies ist wichtig: ganz nahe mußt du an ihr vorbeigekommen sein.“
„An wie vielen Frauen bin ich vorbeigekommen! Auch du, Nello, wirst glücklich an dieser vorbeikommen, wie noch an jeder. Gehab dich wohl.“
Und der Mann mit dem Cäsarenprofil nahm gesetzten Schrittes seinen Weg wieder auf. Der Tenor drang planlos in die Menge ein. „An ihr vorbeikommen“, dachte er. „Niemals werde ich an ihr vorbeigelangen. Wenn ich sie wiederfinde, werde ich sie lieben: immer, immer.“ Da schlug ein riesiger Federfächer ihm eine parfümierte Luft ins Gesicht. Mama Paradisi, flankiert von ihren beiden Töchtern, versperrte dem jungen Manne den Weg.
„Das ist er!“ flüsterten sie laut, alle drei; sahen ihn starr lockend an aus ihren breiten, weichen, gepuderten Gesichtern, ließen die Fächer ruhen und die durchsichtigen Blusen sich heben und quellen. Der junge Mann hatte, bevor ers wußte, entgegenkommend gelächelt. Mit Stimmen wie Federkissen versicherten sie ihm, daß sie um seinetwillen ins Theater zu gehen gedächten.
„Wir lieben so sehr die Kunst. Werden Sie, wenn wir recht laut klatschen, uns zu Gefallen eine Arie wiederholen?“
Er versprach es, hingerissen, die Hand auf dem Herzen, mit tiefen Blicken in alle drei Augenpaare.
Ein schreckhafter Ruck in der Menge trennte ihn von den Damen. Dahinten, wo ein Paar wachsblasser Hände durch die Luft schwangen, brach ein hohes, zorniges Jammern an.
„Ihr werdets bereuen! Geht nach Hause, geht! Ah! ihr Gesindel, den Komödianten lauft ihr nach, als hieltet ihr euch am Schwanze Satans fest, um desto sicherer zur Hölle zu fahren.“
„Don Taddeo ist heute nicht gut aufgelegt“, sagte jemand, und der Tenor sah in ein Gesicht voll künstlich verwirrter Locken, mit einer pockennarbigen Nase und einem linken Auge, das nicht stillhielt.
„Ich bin der Savezzo; Ihr Kollege Gaddi wird bei uns wohnen. Übrigens bin auch ich ein Künstler, wir werden uns schon verstehen.“
Nello Gennari gab ihm zerstreut die Hand. „Was wollten sie von mir, diese Weiber? Ach, immer dasselbe. Und immer gehe ich ihnen auf den Leim. Es fängt an, mich zu ekeln... Aber sie? Wer war sie? “
„Hören Sie, Herr Savezzo, ich sah vorhin...“
Aber die schwache wütende Stimme, die Stimme jener in der Luft stehenden, rückwärts gekrampften Hände fuhr dazwischen; sie klang, als rennte sie in einem hektischen Ansturm alles nieder.
„Fort mit ihnen, ehe es zu spät ist! Sonst frißt die Sünde um sich, ihr verbrennt darin! Wehe denen, die diese Leute gerufen haben! Und verdammt sei, wer sie bei sich aufnimmt!“
Mehrere Frauenstimmen antworteten:
„Recht hat er, wir wollen nicht verdammt werden.“
Der junge Savezzo hob die Schultern.
„Was will denn der? Warum sollte ein Biedermann wie der Herr Gaddi...“
„Herr Savezzo, ich sah vorhin eine Frau in den Dom treten, wer war sie?“
„In den Dom? Es treten so viele in den Dom...“
„Ein schwarzer Schleier, ein kupferroter Haarknoten.“
„Wir haben hier keinen kupferroten Haarknoten. Wie dieser Priester schreit! und immer dasselbe, man versteht einander nicht.“