Szene 2

1523 Words
John „Du glaubst nicht, was meine Alte letztens wieder gebracht hat. Ich sag dir. Die ist total irre.“ „Los erzähl, Mann.“ Er öffnete die Tür, trat in den Raum und schon begrüßte ihn das Lachen seiner Kollegen. Das Holster seiner Waffe schlug gegen sein Bein und die Hitze des Kaffees drang langsam durch die Wand des Bechers zu seinen Fingern durch. Der Dampf stieg in die Luft und trug das belebende Aroma zu seinem Geist hinauf. Er nahm einen kräftigen Schluck daraus und ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. „Hey, John! Du glaubst nicht, was Martha gestern wieder gebracht hat.“ Ein großer, schlaksiger Kerl kam auf ihn zu und grinste breit. Sein schwarzes Haar war kurz geschnitten und die blauen Augen wirkten offen und bereit für einen Spaß. „Was? Hat sie endlich mal den Lippenstift an deinem Halskragen entdeckt?“ Schalk lag in Johns Stimme und er steuerte auf seinen ordentlichen Schreibtisch zu. Dicht gefolgt von seinem Kollegen. „Häh? Wo hast du den Mist her? Nein, sie meinte doch glatt, dass ich den Kindern nicht immer so viel Unsinn beibringen sollte. Aber hey, ich seh‘ die Plagen ja kaum. Das verbockt sie gerade echt alles selbst.“ „Und das hast du ihr natürlich auch so gesagt, nicht wahr?“ John stellte seinen Becher auf den Tisch ab und warf einen Blick auf die neue Akte, die auf der Platte lag: Wieder ein vermisstes Kind, war unterwegs – und kam nicht mehr heim. Er brauchte den Bericht nicht lesen, um es zu wissen. Es war doch immer das Gleiche. Sie gingen raus, spielen oder zu Freunden, aber kamen nicht zurück. Mit einem frustrierten Seufzer warf er die Akte zu den anderen auf den Stapel und wandte sich seinem Kollegen zu. „Ja, klar, und irgendwie ist ihr dann eine Sicherung durchgebrannt. Sie heulte los und sagte, dass ich öfters Zuhause sein sollte. Schließlich wäre die Arbeit nicht mein Leben und unsere Kinder brauchen auch ihren Vater. Ja, genau. Irgendwer muss ja das Geld nach Hause schaffen.“ „Ach, komm schon, Tom. Wir wissen beide, dass du in deine Arbeit flüchtest. Vielleicht wäre es wirklich nicht schlecht, wenn du dich auch ein wenig mit deinen Kindern beschäftigst. Du könntest eine Energiequelle finden, die du vielleicht nicht dort vermutet hättest. Schließlich weißt du doch, was man sagt, oder?“ „Ja, ja. Sie werden viel zu schnell groß und dann bereut man es nur, dass man nicht mehr Zeit mit ihnen verbracht hatte, als es noch möglich war. Ich weiß, aber ... ich halte es Zuhause einfach nicht aus, okay?“ John schenkte ihm ein mitleidiges Lächeln und holte Luft, um etwas zu sagen, als jemand eine weitere Akte auf seinen Schreibtisch knallte. „Herr Schneider, es kam noch eine Vermisstenanzeige herein! Haben Sie endlich einen Anhaltspunkt, wo die Kinder sein könnten? So kann das doch nicht weitergehen!“ Der großgewachsene Kerl vor ihm warf die Arme in die Luft, als beschwor er damit die Opfer aus dem Boden herauf. „Wir brauchen endlich irgendeinen Hinweis. Ein Ergebnis. Man macht mir schon die Hölle heiß. Sie wollen Resultate sehen! Es sind nun schon über zehn Kinder in den letzten sechs Monaten verschwunden und wir haben nicht einmal ein Staubkorn gefunden, das uns irgendwie auf die Fährte führt!“ „Ich weiß, Herr Meier. Ich bin auch an der Sache dran, aber es gibt keine Spuren. Die Kinder haben sich verabschiedet und danach scheint sie niemand mehr gesehen zu haben.“ „Das ist unmöglich! Irgendjemand muss die Kinder gesehen haben! Sie können sich ja nicht in Luft auflösen! Verdächtige Personen an den Orten, an denen sie zuletzt gesehen wurden? Verrückte Verwandte? Gehen die Kinder auf dieselben Schulen? Es muss doch irgendeine Verbindung geben!“ „Keine, die sie alle haben. Ein paar von ihnen besuchen immer dieselbe Schule. Gehen aber in unterschiedliche Klassen. Manche wohnen in derselben Gegend, aber andere sind dann wieder ganz woanders. Sie sind nicht verwandt. Nicht befreundet. Ich ... ich finde nichts. Gar nichts!“ „Verdammt!“ Herr Meier schlug auf den Tisch. Sein kantiges Gesicht war rot vor Zorn und das schulterlange, braune, schon leicht ergraute Haar hing ihm wirr hinein. Unter seinen blauen Augen waren tiefe Augenringe. „Sie sollten mal wieder schlafen, Herr Hauptkommissar.“ „Ich weiß nicht, wie Sie in dieser Situation so ruhig schlafen können, Herr Schneider. Stellen Sie sich doch nur vor, welche Angst diese Kinder haben müssen oder was man Ihnen schon alles angetan haben könnte. Einige fehlen doch schon seit Monaten. Wir müssen sie endlich finden, Herr Schneider. Sie und den Psycho, der das hier tut.“ Er strich sich eine Strähne hinters Ohr und fuhr sich kurz über seinen wuscheligen Schnauzer, bevor er sich abwandte. „Ich möchte bis Ende der Woche endlich Ergebnisse sehen. Dieses Schwein muss gestoppt werden. Egal, was er mit den Kindern tut. Es wird nichts Schönes sein. Das spür‘ ich.“ John seufzte und ließ sich auf seinen Stuhl sinken. Tom sah ihn wie ein verschrecktes Reh an, bevor entschuldigend auf seinen eigenen Tisch deutete und im nächsten Moment dorthin verschwand. Der Zurückgelassene nahm die erste Akte an sich und band sich sein langes, blondes Haar in einem Pferdeschwanz zusammen, damit es ihm nicht in die Quere kam. Er holte tief Luft und klappte das Deckblatt zur Seite. Es war ein neues Kind. Wuschelige, schwarze Mähne und freche braune Augen. Seine Haut war leicht gebräunt und eine Zahnlücke stach aus dem herzhaften Lächeln heraus. Verschwunden seit drei Tagen. Es war auf dem Weg zu seinem Vater, doch kam dort niemals an. Die Eltern waren geschieden. Der Junge lebte bei der Mutter und war nur alle paar Monate mal beim Vater. Unscheinbar. Er besuchte die erste Klasse, liebte Sport und spielte in einer Fußballmannschaft. Ein kleiner Verein vor der Haustür der Mutter. Dessen Namen John noch nie gelesen hatte, erneut keine Verbindung. Auch der Spielplatz tauchte nur bei ein oder zwei anderen Kindern auf. „Es gibt nichts. Nichts, was bei allen gleich ist. Von sechs bis zehn Jahren ist alles dabei. Sie wohnen verstreut in der ganzen Stadt. Geschiedene, alleinerziehende oder auch glücklich verheiratete Eltern. Was übersehe ich? f**k! Sie müssen doch eine Sache gemeinsam haben! Irgendwas!“ Verzweifelt schloss er die Akte und schmiss sie wieder auf den Stapel. Zwölf Kinder. Es waren mittlerweile zwölf vermisste Kinder und niemand schien sie zu finden. Alle weg. Sie sind von Spielplatz, Training, Freunden oder gar der Schule nach Hause gegangen, doch dort kamen sie nie an. Keiner hatte sie dann noch einmal gesehen. Ihre Sachen waren zusammen mit ihnen spurlos verschwunden. „Glaubst du, dass es ein Menschenhändlerring ist?“ Die sanfte Stimme einer jungen Frau riss John aus seinen Gedanken. Er hob seinen Blick und erkannte das lange, kastanienbraune Haar mit blonden Strähnen. Es umspielte ein leicht rundliches Gesicht, auf dem immer ein herzliches Lächeln lag, das einem alle Sorgen nahm. Das Strahlen in ihren braunen Augen besaß die Macht, jeden dunklen Moment zu erleuchten. Gleichzeitig waren sie so sanft wie die eines Rehs. „Vielleicht sogar ein Pädophilenring? Das wäre schrecklich.“ Sie zog sich einen Stuhl heran und ließ sich neben ihm nieder. „Ich weiß es nicht, Rebeka. Man findet halt nichts. Ihre Kleidung und ihre Sachen, die sie bei sich trugen, sind auch spurlos verschwunden. Was sehr auf einen Ring hindeutet. Aber wäre das dann nicht landesweiter? Diese vermissten Kinder gibt es nur hier und in unseren Nachbarstädten. Das deutet wiederum sehr auf einen Einzeltäter hin, der hier irgendwo wohnt.“ „Vielleicht sollten wir eine großflächige Razzia machen und jede Wohnung durchsuchen.“ John lachte bei diesem Vorschlag trocken auf. „Das können wir nicht, Beka und das weißt du. Wir brauchen Beweise und nicht nur eine Vermutung, um so etwas durchzusetzen. Und Stichproben bringen nichts, weil wir keine Ahnung haben, nach welchen Kriterien wir aussuchen sollten. Ich finde nichts, was all diese Kinder gemeinsam haben. Rein gar nichts. Sie sind beliebt und unbeliebt. Offen und eher zurückgezogen. Ihre Eltern arbeiten quer durch sämtliche Berufsgruppen. Es gibt nichts. Nichts, was sie eint.“ John stand auf und trat an seine Tafel, auf der er alle Informationen zusammengetragen hatte. Sogar einen Lageplan mit Markierungen von den Wohnorten der Kinder und ihrer letzten Sichtung. Er wirkte so wirr, dass es kein Muster gab. Mit einem erschöpften Seufzer griff er vier neue Pinnadeln und markierte die beiden neuesten Opfer. Sie zerrissen das nicht vorhandene Muster weiter, was John knurren ließ. Bekas süßliches Parfüm stieg in seine Nase und lockerte seinen angespannten Kiefer. „Doch, John, eines vereint sie: Sie sind Kinder und sie brauchen uns. Wir müssen sie finden, bevor es zu spät ist. Nur wir können ihnen helfen und das werden wir auch. Du kannst dich auf mich verlassen. Wir werden dieses Schwein schon finden und die Kinder auch.“ Sie trat neben ihn und sah mit ihm zusammen auf den Plan. John hoffte, dass sie recht hatte. Sie mussten ihn endlich schnappen, denn so konnte es nicht weitergehen. Kinder waren heilig. Niemand durfte ihnen etwas antun. Wirklich niemand.
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