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»Phoe«, schreie ich angestrengt, um den dröhnenden Alarm zu übertönen – als ob die Lautstärke in Unterhaltungen mit Phoe einen Unterschied machen würde. »Hilf mir. Bitte.«
Ich bekomme keine Antwort.
Ich versuche, meine Panik zu unterdrücken. Phoe ist verschwunden, und ich muss damit klarkommen. Es muss eine Verbindung zwischen dem Anschlag am Strand und dem, was hier gerade passiert, geben. Der Jeremiah-Haufen hat etwas mit Phoes Schweigen zu tun, genauso wie mit dem Sauerstoffproblem im Gebäude, aber wie das alles zusammenpasst, kann ich gerade nicht herausfinden, weil ich zu überwältigt bin. Ich muss versuchen, einen klaren Kopf zu bekommen, und mich darauf konzentrieren, meinen Freund in Sicherheit zu bringen.
Ich bewege gefühlte Stunden lang immer wieder meinen linken Fuß, und danach meinen rechten – auch wenn ich rational weiß, dass nur wenige Minuten verstreichen. Meine Muskeln zerreißen fast durch die Anstrengung, Liam noch einen halben weiteren Gang hinter mir herzuziehen. Während ich das tue, bemerke ich, dass ich langsamer werde.
Nein. Ich kann nicht langsamer werden. Wenn das passiert, wird Liam sterben.
Plötzlich nehme ich verschwommen eine Bewegung wahr, als jemand sich an der Abzweigung zu mir gesellt und Liams Gewicht unendlich leichter wird. Benebelt starre ich den Jugendlichen an, der uns eingeholt und Liams Beine angehoben hat, um mir dabei zu helfen, ihn zu tragen.
Es ist Owen – derjenige, der in dem behüteten Leben auf Oasis am ehesten so etwas wie Liams Todfeind ist. Owen – die Person, die ich bewusstlos geschlagen habe, als sie sich wie ein Arschloch verhalten hat, und deren Kopf, zumindest nach Phoes Erzählung, die Manifestation meines schlimmsten Albtraums geschmückt hat, den das Programm gegen Eindringlinge in dem Test der Betagten erschaffen hatte.
»Danke«, kann ich gerade so sagen, während ich gegen meine schockierte Überraschung ankämpfe. »Ich glaube nicht, dass ich ihn noch viel länger hätte tragen können.«
Owen bewegt seinen Kopf ruckartig, und die Bewegung lässt ihn wie einen Rettungshund aussehen. Anstatt zu sprechen, spitzt er seine Lippen und deutet mit dem Kopf in Richtung der Alarme. Was er sagen will, ist klar: »Verschwende deinen Sauerstoff nicht, Idiot, und zwinge mich nicht dazu, das Gleiche zu tun.«
Durch seine Hilfe ermutigt, werde ich schneller, bis ich mich fühle, als würde ich Liam und Owen aus dem Gebäude schleifen. Der Rest des Weges ist eine vernebelte Mischung aus roten Lichtern und Phoes automatisierten Ansagen.
Ich bin beinahe fassungslos, als wir schließlich den Ausgang erreichen.
Ich lasse Liam los, um die Tür zu unserem Schlafgebäude manuell zu öffnen, und als sie aufspringt, fühlt sich die Luft ein kleines bisschen frischer an. Ich bemerke, dass Owen ein wenig leichter atmet, auch wenn sich Liams Brust immer noch nicht bewegt.
Wir eilen aus dem Gebäude und schieben uns durch die Ansammlung mitgenommen aussehender Jugendlicher.
»Macht Platz«, schreit Owen.
»Geht verdammt nochmal aus dem Weg«, wiederhole ich deutlicher.
Die Jugendlichen, die es nicht gewohnt sind, derartige Worte zu hören, sind dermaßen schockiert, dass sie sich in Bewegung setzen. Sie machen Platz, und wir legen Liam auf dem Boden ab.
Ich beuge mich nach unten, um die hervorstehende Vene meines Freundes zu überprüfen, und erfriere innerlich.
Liams Puls ist kaum zu spüren, und er atmet nicht.
Owen sagt etwas, bevor er wegeilt, aber ich nehme seine Worte nicht auf. Ich bin zu beschäftigt damit, mir das in Erinnerung zu rufen, was ich über erste Hilfe weiß. Wie ging diese Technik nochmal, die unsere Vorfahren in solchen Situationen anwendeten? Herz-Lungen-Reanimation?
Ich gebe mein Bestes, um das nachzuahmen, was ich in alten Filmen gesehen habe. Ich nähere mich Liams Oberkörper und lege meine Hand auf den Mittelpunkt seiner Brust.
Irgendetwas daran fühlt sich falsch an, also lege ich meine linke Hand auf meine rechte und verschlinge meine Finger.
»Okay, das sieht genauso aus wie das, was die Menschen in den Filmen tun«, denke ich zu Phoe, bevor ich mich daran erinnere, dass sie nicht da ist.
Ich bringe meine Schultern über meine Hände und benutze das Gewicht meines Oberkörpers, um nach unten zu drücken. Liams Brust bewegt sich nach innen. Ich löse den Druck, warte eine halbe Sekunde, bis seine Brust wieder nach oben kommt, und wiederhole dann mein Manöver.
Nichts passiert.
»Versuche, in seinen Mund zu atmen«, meint eine weibliche Stimme. Ich erkenne sofort, dass sie zu Grace gehört, auch wenn ich nicht bemerkt habe, dass sie zu uns gekommen ist. »Diese Kombination ist effektiver«, fügt sie hinzu, als ich zu ihr nach oben schaue.
Mit zitternden Händen drücke ich erneut zu und sage: »Ich bin mir nicht sicher, wie –«
Mit fliegenden roten Haaren kniet sich Grace auf Liams rechte Seite und legt ihre Hand auf meine. Ich höre mit meiner Herzmassage auf und beobachte Grace dabei, wie sie Liams Nase zudrückt und ihre Lippen auf seine presst, bis sie versiegelt sind. Dann atmet sie in ihn, und ich fühle, wie sich seine Brust erst einmal, dann ein zweites Mal hebt.
»Jetzt du«, sagt Grace.
Ich drücke zwei Dutzend Male auf Liams Brust, bevor sie mich innehalten lässt und ihm mehr Luft gibt.
Wir wechseln uns auf diese Weise noch einige weitere Male ab. Ich massiere Liams Herz, und Grace zwingt gnadenlos ihren Atem in seine Lungen. Die Luft um mich herum ist kalt, aber trotzdem ist mein Gesicht schweißüberströmt. Allerdings ist nicht die gesamte Flüssigkeit auf meinem Gesicht Schweiß; ein Teil davon sind brennende Tränen, die aus meinen Augen strömen.
»Liam«, sagt Grace nach einer weiteren Runde. »Liam, kannst du uns hören?«
Ich kämpfe gegen die kalte Angst in mir an und starre auf Liam, aber er ist immer noch komatös.
»Er atmet eigenständig«, meint Grace und beantwortet damit meine unausgesprochene Frage, als ich sie anschaue. »Und seine Herzfrequenz ist stabiler.«
Ich bewege meine Hand auf Liams Brust nach links und atme erleichtert auf.
Sie hat recht. Sein Herzschlag ist regelmäßig.
»Du musst ihm keine Herzmassage mehr geben«, sagt Grace. »Wir müssen nur noch darauf warten, dass er wieder zu Bewusstsein kommt.«
Trotz meines benebelten Zustands wundere ich mich über Graces ungewöhnliche Kompetenz. »Woher wusstest du, wie –«
»Ich wollte immer eines Tages Krankenschwester werden, schon vergessen?«, fragt Grace mit einer leicht enttäuschten Stimme.
Sobald sie das ausspricht, erinnere ich mich daran, dass sie davon gesprochen hat, als wir noch sehr jung waren, damals, als sie noch mit uns befreundet war. Ich erinnere mich sogar daran, dass sie an jenem Tag der Geburten zum Stand der Krankenschwester gegangen ist.
»Ich dachte, dass du mittlerweile deine Meinung geändert hast«, murmele ich in dem Versuch, meinen Fauxpas zu überspielen. Die eisige Panik in mir lässt leicht nach. »Das war vor mehr als einer Dekade.«
Grace öffnet ihren Mund, um mir zu antworten, als Liam nach Luft schnappend und grunzend seine Augen öffnet. »Grace?«, fragt er schwach. »Was machst du um diese Uhrzeit in meinem Zimmer?«
Danach sieht er mich und schweigt, während sein Blick langsam von einer Seite zur anderen wandert. Ich drehe mich um und bemerke zum ersten Mal die Jugendlichen, die mit blassen und besorgt aussehenden Gesichtern um uns herumstehen.
»Es ist eine Ausnahmesituation eingetreten, und wir mussten das Gebäude verlassen«, sage ich und drehe mich wieder zu Liam um. »Wahrscheinlich bist du gegen Ende ohnmächtig geworden.«
Liam schließt seine Augen und zieht seine raupenartigen Augenbrauen zusammen. Dann sagt er: »Ach ja. Wir sind gerade die Stufen hinabgegangen, als –«
»Entschuldigt bitte, dass ich euch unterbreche«, meint Grace. »Aber ich muss weg.«
»Warte, warum? Wohin gehst du?« Meine Fragen hören sich ein wenig zu nachdrücklich an. Ruhiger füge ich hinzu: »Was ist, wenn Liam noch einmal ohnmächtig wird?«
»Da er sich jetzt draußen befindet und bei Bewusstsein ist, sollte es ihm gutgehen«, sagt Grace. »Ich habe gerade mit Nicky gesprochen.« Sie nickt in Richtung eines blassen Jugendlichen, der etwa zwölf Jahre alt ist. »Er hat das Schlafgebäude der mittelalten Jugendlichen aus dem gleichen Grund verlassen, wie wir unseres. Aber ihr Alarm ging früher los als bei uns.«
Sie blickt mich an, als würde das alles erklären.
Ich reibe meine Schläfen. »Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht, warum du deshalb schnell verschwinden musst. Mein Kopf ist –«
»Das muss das Adrenalin sein«, sagt Grace. »Ich muss gehen, weil ich mir Sorgen mache, dass die Schlafräume der Grundschüler das gleiche Problem haben könnten.« Sie schaut in Richtung des Waldes, wo sich das betreffende zylindrische Gebäude befindet. »Die Kleinen könnten Hilfe brauchen.«
»Sie hat recht«, sagt Liam und versucht, sich hinzusetzen. »Wir sollten helfen.«
»Du musst eine Weile hier liegenbleiben«, erwidert Grace entschieden und kniet sich hin, um ihn zurück nach unten zu drücken. »Aber du, Theo, könntest dich nützlich machen.«
»Ich weiß nicht«, entgegne ich, da mein Zögern bei dem Gedanken, meinen gerade erst wieder zu Bewusstsein gekommenen Freund zu verlassen, gegen die Vorstellung von kleinen, erstickenden Kindern kämpft. »Was ist –«
»Mir geht es gleich wieder gut«, meint Liam. »Geh und hilf Grace.«
Ich lasse meinen Blick über die Jugendlichen um uns schweifen, um zu sehen, ob einer von ihnen Grace an meiner Stelle helfen könnte. Ich entdecke Kevin, einen Jugendlichen, den ich nicht besonders gut kenne. Unsere Blicke treffen sich, und ich winke ihn zu mir.
»Nein, du solltest gehen«, sagt Liam, als er sieht, dass der Jugendliche zu uns kommt.
Ich will gerade protestieren, als mir auffällt, dass ich mit meinen Respirozyten wahrscheinlich die geeignetste Person in Oasis bin, um in Situationen zu helfen, die mit eingeschränkter Sauerstoffversorgung zu tun haben. Im Gegensatz dazu kann gerade so ziemlich jeder auf Liam aufpassen.
Kevin bleibt neben mir stehen, schaut mich erwartungsvoll an, und ich sage zu ihm: »Kannst du bitte ein Auge auf Liam behalten? Er fühlt sich nicht gut, und ich will sichergehen, dass er sich erholt. Hast du diese Herz-Lungen-Reanimation gesehen, die Grace und ich eben durchgeführt haben?«
»Ja«, antwortet Kevin unsicher.
»Kannst du sie anwenden, sollte er erneut das Bewusstsein verlieren?«
»Das werde ich nicht«, wirft Liam ein.
»Das wird er wirklich nicht«, versichert uns Grace.
»Okay«, meint Kevin. »Geh und hilf Grace. Ich werde auf Liam aufpassen.«
Ich stehe auf und sage zu Nicky: »Hilf Kevin, falls er etwas braucht.«
Nicky nickt.
Grace stellt sich hin und bahnt sich ihren Weg durch die Menge der Jugendlichen, und ich folge ihr, während ich versuche, den ohrenbetäubenden Lärm von Hunderten von Stimmen auszublenden. Einige der Jugendlichen schnappen als Nachwirkung des Sauerstoffmangels keuchend nach Luft, einige andere fragen lautstark, was gerade passiert, und viele weinen oder beruhigen sich gegenseitig, indem sie sich gemeinschaftlich die Lüge einreden, dass es sich nur um eine Übung handelt.
Als wir uns über den menschlichen Hindernisparcours bewegen, fallen mir einige eigenartige Dinge auf. So sind wir zum Beispiel alle barfuß und tragen unsere Schlafbekleidung. Einige Jugendliche sind sogar halbnackt. In dem roten Licht vom Himmel – der nächsten komischen Sache – sehen sie deshalb wie ein Rudel ausgesetzter Welpen aus.
Der Himmel hat nicht das Rot eines Sonnenuntergangs, sondern eher das von Sirenen, genau wie in unserem Schlafgebäude. Es sieht aus, als habe jemand die Kuppel mit einer leuchtend roten Farbe angemalt. Mehr als nur einige wenige Jugendliche starren mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination an den Himmel. Ich nehme an, dass das bedeutet, dass die erweiterte Realität nicht mehr funktioniert, auch wenn es möglich ist, dass der Himmel in Gefahrensituationen so aussehen soll.
Der Gedanke an die erweiterte Realität lenkt meine Aufmerksamkeit auf eine dritte, unauffälligere Eigenheit. Alle Statuen und viele der unzugänglicheren Bäume sind verschwunden, so dass die Umgebung kahl aussieht – ein Eindruck, der durch das rote Licht des Himmels verstärkt wird.
Es ist ein Oasis, das niemand von uns jemals zuvor gesehen hat: ein Ort, der das Gegenteil dieses normalerweise fröhlichen, grünen Paradieses ist.
Auf unserem Weg untersucht Grace einige der Jugendlichen, die auf dem Boden liegen. Es sieht ganz so aus, als sei Liam nicht der Einzige gewesen, dem zwischenzeitlich die Luft ausgegangen war. Einige dieser Jugendlichen haben sich sogar ihre Köpfe gestoßen, als sie in Ohnmacht gefallen sind, zumindest nehme ich das an, da eines der Mädchen leichte Verletzungen am Kopf aufweist. Allerdings befindet sich niemand von ihnen in einem besonders schlimmen Zustand, weshalb Grace weitergeht und auf den Rand der Menge zueilt.
Je weiter Grace und ich uns von den anderen Jugendlichen entfernen, desto deutlicher erkenne ich, dass das Stimmengewirr ein anderes Geräusch übertönt hat. Ich kann jetzt eine neue Nachricht der allgegenwärtigen, mechanisch klingenden Phoe hören.
»Heizfunktion des Lebensraums ausgefallen. Sauerstoffproduktion –«
Ein ohrenbetäubender Alarm schneidet durch die Luft. Er ist so laut, dass der Rest der Ansage in ihm untergeht.
Kälte breitet sich von meinen eisigen Füßen ausgehend in meinem ganzen Körper aus – eine Kälte, die nichts mit der nicht funktionierenden Heizung zu tun hat, sondern einzig und allein mit dem Ort, von dem der neue Alarm ausgeht.
Er dröhnt aus dem zylinderförmigen Schlafgebäude der jungen Jugendlichen, das etwa dreißig Meter entfernt vor uns liegt.
Grace hatte recht damit, dorthin zu eilen. Was in unserem Wohngebäude passiert ist, wird gleich die kleinen Kinder treffen.