Kapitel 1

2316 Words
1 LAUREL Noch nie in meinem Leben war mir so kalt. Erst waren meine Finger nur kalt, aber mittlerweile schmerzten sie und fühlten sich taub an. Meine Beine waren wärmer, da ich sie an die Seiten des Pferdes drückte. Vor einer Stunde hatte ich meinen Schal um meinen Kopf gewickelt und unter meinem Kinn zusammengebunden, aber er bot keinen richtigen Schutz vor dem Schnee. Es hatte nur leicht geschneit, als ich den Stall verlassen hatte, aber jetzt waren die Flocken groß und fielen so dicht, dass ich nichts mehr vor meiner Nase erkennen konnte. Der Wind war stärker geworden und wehte den Schnee seitwärts. Die Kälte ging mir bis ins Mark. Ich hatte mich verirrt. Absolut und hoffnungslos verirrt, was bedeutete, dass ich sterben würde. Beim Aufbruch hatte ich mir Virginia City als Ziel gesetzt. Die Stadt lag zu Pferd nur zwei Stunden von zu Hause entfernt, aber ich war bereits viel länger unterwegs und die Stadt war nirgends zu sehen. Natürlich war nichts zu sehen. Meine Wimpern waren schneebedeckt und es wurde immer schwerer, wach zu bleiben. Es wäre ein Glück einschlafen zu können, besonders wenn es warme, dicke Decken, ein warmes Feuer und einen heißen Tee geben würde. Diese Träumerei änderte aber nichts an meiner Lage. Ich würde sterben. Aus Dummheit. Aber was hätte ich tun sollen? Hätte ich zu Hause bleiben und mich von meinem Vater als Teil eines Geschäftsabschlusses verkaufen lassen sollen? Mr. Palmer hatte den Verkauf seines Landes zusammen mit mehreren Tausend Rindern im Austausch für mich ausgehandelt. Ja, ich war der Preis. Möglicherweise nicht der Ganze, aber der Mann hatte eine angemessene Summe verhandelt und meinen Vater wie einen Fisch mit einem schön fetten Wurm geködert. Sobald er meinen Vater am Haken hatte, nannte er ihm den wahren Preis. Seine Tochter. Ich hatte in einer Schule in Denver gelebt, seit ich sieben war. Weggeschickt und vergessen für vierzehn Jahre. Vor zwei Monaten wurde dann in einem Brief um meine Rückkehr gebeten. Ich hatte geglaubt, dass mich mein Vater nach all der Zeit wiedersehen wollte und hatte mich törichterweise an diese Hoffnung geklammert. Meine Illusionen waren gestern zerstört worden, als Mr. Palmer zu uns gekommen war, um mich kennenzulernen und die Männer mich über ihren Plan in Kenntnis gesetzt hatten. Erst jetzt erkannte ich, was ich meinem Vater tatsächlich wert war. Ich war nicht seine Tochter, sondern eine Stute, die er an den Höchstbietenden verkauft hatte. Er hatte mich nur holen lassen, um mich mit Mr. Palmer zu verheiraten und sein Geschäft abzuschließen. Ich sollte gegen ein Stück Land, Vieh und Wasserrechte eingetauscht werden. Ich hatte ihm nie etwas bedeutet. Für ihn war ich nur diejenige, die seine Frau umgebracht hatte. Sie war bei meiner Geburt gestorben, also war ich die Schuldige. Eheschließungen aus Zweckmäßigkeit fanden im Montana Territorium andauernd statt. Eine Frau konnte ohne einen Mann nicht überleben. Das war selbstverständlich. Aber ich war nicht einmal in Simms gewesen, geschweige denn im Montana Territorium. Ich war ein Mündel der Schule in Colorado gewesen. Auch wenn mir mein Leben nicht gehörte, würde ich keine Schachfigur bei Vaters Verhandlungen um Land sein. Vor allem nicht, wenn der Preis, zumindest für mich, so hoch war. Mein zukünftiger Ehemann war mindestens fünfzig. Er hatte drei erwachsene Kinder. Zwei von ihnen waren verheiratet und lebten in Simms, das dritte in Seattle. Es hätte vielleicht erträglich sein können, die Frau dieses Mannes zu sein, obwohl ich jünger war als seine Kinder, aber der Mann war kleiner als ich, hatte einen Bauch, der mich an ein Whiskey-Fass erinnerte und mehr Haare auf dem Handrücken als auf seinem Kopf. Am schlimmsten war, dass ihm Zähne fehlten und die, die er noch hatte, waren gelb vom Kautabak. Und er stank. Der Mann war ekelhaft. Wenn er groß, gut aussehend und männlich gewesen wäre, seine Gegenwart mein Herz zum Rasen gebracht und meine Wangen rot gefärbt hätte, dann wäre das alles etwas anderes gewesen. Vater hatte gesagt, dass das Geschäft beschlossene Sache wäre und die Verträge unterschrieben. Nur die Heiratsurkunde fehlte noch, um alles Rechtliche abzuschließen. Und da morgen Sonntag war, sollte das beim Morgengottesdienst erledigt werden. Aber anstatt Mr. Palmer zu heiraten, würde ich sterben. Ich, Laurel Turner, entschied mich für einen Tod durch Erfrieren anstatt einen unattraktiven, uninteressanten und übergewichtigen Greis zu heiraten. Meine Wut auf diesen Mann und die Rücksichtlosigkeit meines Vaters bezüglich dessen, was ich wollte, veranlasste mich dazu, dem Pferd die Sporen fester ins Fleisch zu drücken. Möglicherweise könnte ich ein Licht, ein Haus, ein Gebäude, irgendetwas in diesem eisigen Sturm sehen, wo ich Schutz finden könnte. Ich wischte mit meiner tauben Hand ungläubig über meine Augen. War das ein Licht? Ein gelbes Glühen, gedämpft und weich, erschien kurz im Schnee und verschwand dann wieder. Hoffnung durchflutete mich und ich wendete das Pferd in diese Richtung. MASON „Ich werde mehr Holz für Morgen holen“, sagte ich zu Brody, der an seinem Schreibtisch arbeitete. Wir befanden uns in der Stube, das Feuer im Ofen wärmte den Raum und das restliche Haus in dieser bitterkalten Nacht. Wind und Schnee brachten die Fenster zum Klappern. Ich zog den dicken Vorhang an einem der Fenster zurück. Alles, was ich sehen konnte, war mein eigenes Spiegelbild und den Schnee, der seitwärts wehte. „Ich nehme an, dass der Holzstapel bis dahin mit Schnee begraben sein wird.“ Brody schaute von den Papieren, die er las, auf. „Ist der Kasten in der Küche voll?“ „Ich werde nachsehen und das Feuer vor dem Schlafen schüren.“ Mein Freund nickte nur und arbeitete weiter. Im tiefsten Winter gab es auf der Ranch nicht viel mehr zu tun, als sicherzustellen, dass die Kühe in einem solchen Wetter nicht tot umfielen, und sich um die Pferde zu kümmern. Die Tage waren kurz und die Nächte lang. Nur die tüchtigsten Männer überlebten im Montana Territorium, aber für mich, Brody und den Rest der Männer aus unserem Regiment, die die Bridgewater Ranch erbaut hatten, war es ein Zuhause. Kane und Ian hatten ihre Frau Emma, die ihnen dabei half, die Zeit zu vertreiben und nach dem zu schließen, wie ihr Bauch merklich anwuchs, waren sie ziemlich beschäftigt gewesen. Andrew und Robert hatten Ann und ihren kleinen Sohn, Christopher, um sich zu beschäftigen. Es waren die Junggesellen auf Bridgewater, die die langen Winternächte alleine ertragen mussten. Ich seufzte und fragte mich, ob Brody und ich jemals eine Frau finden würden. Es war keine leichte Aufgabe, eine Frau zu finden, die zwei Männer heiraten würde und das war es, was wir wollten – eine Frau für uns beide. Das war unsere Sitte, die Sitte der Männer von Bridgewater – eine Frau finden, sie zu der Unseren zu machen, sie wertzuschätzen, zu beschützen und für den Rest unseres Lebens zu besitzen. Ich seufzte, während ich in meinen Lammfellmantel schlüpfte, den Kragen aufstellte und Lederhandschuhe überzog. Heute Nacht würde keine Frau auftauchen, egal wie sehr ich mir das auch wünschte. Als ich die Hintertür aufmachte, traf mich eine Bö der eiskalten Luft mit voller Wucht und wehte Schnee in die Küche. Ich trat schnell nach draußen und schloss die Tür hinter mir, um die warme Luft drinnen zu lassen. Bei milderem Wetter konnte ich die Lichter der anderen Häuser in der Ferne sehen. Heute Nacht allerdings gab es nichts außer schwarz und weiß. Unter dem Dachvorsprung des Hauses befand sich ein Holzstapel, der groß genug war, um uns über den Winter zu bringen. Ich nahm einige Holzscheite, stapelte sie in meinen Armen, ging nach drinnen, trug sie in die Stube und türmte sie auf dem Ofen auf. „Brauchst du Hilfe?“, fragte Brody, der immer noch an der Arbeit war. Ich schüttelte meinen Kopf. „Nein, es fehlt nur noch eine Ladung für hier und eine für die Küche. Ich gehe hoch ins Bett, wenn ich hier fertig bin.“ „Gute Nacht“, antwortete Brody abwesend, da er auf seine Arbeit konzentriert war. Ich ging noch einmal hinaus in die bittere Kälte und stapelte noch mehr Holz auf meinem Unterarm. Als ich das letzte Holzscheit aufhob, hörte ich das Wiehern eines Pferdes. Ich hielt inne. Alle Pferde waren während des Sturms im Stall. Sie würden in einer solchen Nacht draußen nicht überleben. Es bestand kein Zweifel, dass wir morgen ein oder zwei tote Kühe finden würden. Der Wind wurde stärker, während mir Schnee im Nacken hinunterrutschte. Ich hob meine Schultern an und zuckte wegen der Kälte an meiner Haut zusammen. Ich hörte etwas. Dort. Ich hörte es noch einmal. Es war ein Pferd. Dieses Mal war das jammernde Geräusch eher ein Schrei. Ich hatte es schon einmal gehört, ein Pferd, das Schmerzen hatte. Das verletzt war. Ich schaute nach draußen in die Dunkelheit, aber konnte nichts erkennen. Kein Tier, nichts war zu sehen, nur Schnee. Der Schnee reichte bis zu meinen Knöcheln und es bestand kein Zweifel, dass sich über Nacht mehr anhäufen würde. Wenn der Sturm weiterhin so tobte, würde der Schnee am Morgen bis zur Taille reichen. Hatte einer der anderen Männer ein Pferd vergessen? Wanderte es bei diesem Wetter draußen herum? Ich legte den Stapel Holz zurück, öffnete die Tür und rief Brody. Er kam schnell. „Ich habe ein Pferd gehört. Ich werde nachsehen.“ Brody war überrascht. „Das ist merkwürdig. Könnte der Wind gewesen sein.“ „Könnte sein“, stimmte ich zu. „Ich muss nachsehen. Ich möchte kein Tier an die Kälte verlieren.“ Er hielt eine Hand hoch. „Du brauchst eine Laterne und nimm das Gewehr mit.“ Er ging zum Gewehrschrank, wo sechs Gewehre vertikal an der Wand aufgereiht waren, bereit für jede Art von Notfall. In Bridgewater bestand immer die Möglichkeit für Gefahr. Brody nahm eines und prüfte den Lauf, bevor er es mir gab. Dann nahm er noch eins für sich selbst. „Gib mir fünf Minuten und dann schieß“, bat ich ihn, damit ich wusste, in welche Richtung ich auf dem Rückweg laufen musste. „Ich werde nicht weit weggehen.“ „Verlauf dich nicht. Ich habe keine l**t, dich in diesem verdammten Wetter zu suchen.“ Er grinste. Ich konnte ihm keinen Vorwurf machen. Ich wollte auch nicht in dieses Wetter raus. Aber ich hatte ein Pferd gehört. Ich würde nicht schlafen können, wenn ich nicht nachsah. Nachdem ich das Gewehr über meiner Schulter geworfen hatte, stellte ich meinen Kragen auf und bahnte mir einen Weg durch den Schnee. Nach etwa zehn Schritten hielt ich an und lauschte. Wind, nichts als Wind. Warte! Dort. Ich wandte mich dem Geräusch zu und ging in die Richtung. Eine Minute, dann zwei. Dann noch eine. Bei den Schneeverwehungen kam ich nur langsam voran, zudem musste ich auch gegen den Wind ankämpfen. Dann sah ich es endlich. Das Tier war nur einige Meter vor mir und lag auf seiner Seite. Glücklicherweise hatte es dunkles Fell, sonst hätte ich es wohl übersehen. Ich hockte mich neben seinen Kopf und lauschte seinem schweren Atem, die Augen waren weit aufgerissen und wild. Das Fell des Tiers war sogar in diesem Wetter schweißbedeckt, der Schnee begann an ihm kleben zu bleiben und sich auf ihm anzuhäufen. Die Geräusche, die dem Tier entwichen, waren schmerzerfüllt, fast ein gequältes Schreien. Es trug ein Halfter und die Zügel wurden langsam vom Schnee bedeckt. Ein Sattel. Das bedeutete, dass auch ein Reiter in der Nähe sein musste. Irgendwo. Ich stand auf und lief schnell im Kreis um das Tier herum, wo ich eine dunkle Masse im Schnee entdeckte. Ein Mann. War er tot? Es wäre keine Überraschung, da ihm entweder die Kälte oder der Sturz zugesetzt hatten. Zum Glück war der Schnee recht tief und hatte den Sturz abgefangen. Während das Pferd qualvolle Laute von sich gab, legte ich meine Hände auf den dunklen Mantel des stillen Reiters. Es war nicht der Körperbau eines breiten Mannes, sondern eine schmale Taille mit breiten Hüften. Eine Frau! Heilige Scheiße. Eine Frau war bei diesem Wetter draußen unterwegs. Ich drehte sie auf den Rücken und spürte ihre vollen Brüste unter meinen Handschuhen. Ich konnte selbst durch die Lagen der Kleider feststellen, dass es pralle, volle Hügel waren. Ihr Kopf wurde durch einen fest gewickelten Schal geschützt, aber sie hatte dort schon so lange gelegen, dass sie von ein paar Zentimetern Schnee bedeckt wurde. Ich wusste nicht einmal, ob sie tot oder lebendig war. Ich würde keine Zeit damit verschwenden, es jetzt herauszufinden. Sie musste ins Warme und zwar schnell. Das Pferd war allerdings eine andere Sache. Ich ließ die Frau liegen, ging zum Pferd zurück und schaute an seinen Vorderbeinen hinunter. Da, wie ich es vermutet hatte, war ein schrecklicher Bruch, der Knochen ragte mit einem weißen gezackten Ende aus dem Fleisch. Das Pferd musste in das Loch eines Präriehundes getreten sein. Das kam nicht selten vor und war leider tödlich. Ich nahm das Gewehr und ging zurück zum Kopf des Pferdes, strich über sein weiches Fell und zielte. Der Schuss schallte in die Nacht hinaus, aber wurde durch den Schnee gedämpft und mit dem Wind davongetragen. Ich bezweifelte, dass irgendwelche anderen Männer als Brody den Schuss hören würden. Wenn doch, dann würden sie auf zwei weitere warten, da unser Notsignal drei Schüsse hintereinander waren. Niemand würde sich ansonsten in dieses Wetter hinauswagen. Es war definitiv tödlich. Ich konnte keinen weiteren Moment mit dem Pferd vertrödeln. Die Frau war nun meine Sorge. Ich hob sie mühelos hoch, drehte mich um und folgte meinen Fußstapfen zurück zur Tür. Es war nur eine Frage der Zeit bis sie verschwanden. Der Wind war auf dem Rückweg nicht ganz so stark. „So...kalt“, murmelte sie. Sie lebte! „Ich habe dich“, antwortete ich. „In einer Minute wird dir wieder schön warm sein. Bleib wach für mich, Schatz.“ „Du...du riechst gut“, lallte sie. Ich konnte nicht anders, als bei ihren Worten zu glucksen. Sie war offensichtlich nicht bei Sinnen, denn welche Frau würde so etwas in einer solch misslichen Lage zugeben? Sie war keine schmächtige Frau. Ich konnte ihre Kurven in meinen Armen fühlen. Aufgrund ihrer Bewegungslosigkeit beschleunigte ich meine Schritte. Endlich! Das warme Licht der Küchenlaterne war zu sehen. „Fast da, Schatz.“ Ich trat mit dem Fuß gegen die Tür. Einmal, zweimal. Brody machte sofort auf. „Was zum Teufel“, murmelte er und trat zurück, um mich hereinzulassen. „Hier. Nimm sie.“ Ich übergab sie einem überraschten Brody. Seine Augen weiteten sich, als ich das Wort sie aussprach und wurden sogar noch größer, als er ebenfalls ihre weibliche Form spürte.
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