KAPITEL ZWEI

2156 Words
KAPITEL ZWEI Reece stand an der Östlichen Querung des Canyon und hielt sich am steinernen Geländer der Brücke fest. Er blickte schockiert in den Abgrund und konnte kaum atmen. Er konnte immer noch nicht glauben, was er gerade gesehen hatte: Das Schwert des Schicksals, das in einem Felsblock steckte, war über die Kante in den Abgrund gestürzt und vom Nebel verschluckt worden. Er wartete und wartete auf den Einschlag, darauf, eine Erschütterung unter seinen Füssen zu spüren. Doch er hörte nichts. War der Canyon tatsächlich bodenlos? Entsprachen die Gerüchte der Wahrheit? Schließlich ließ Reece das Geländer los und wandte sich seinen Legionsbrüdern zu. Alle standen da und blickten fassungslos zu ihm hinüber – O’Connor, Elden, Conven, Indra, Serna und Krog waren geschockt. Sie standen wie eingefroren da und konnten nicht fassen, was gerade passiert war. Das Schwert des Schicksals; die Legende mit der sie alle aufgewachsen waren; die wohl bedeutendste Waffe der Welt; Besitz der Könige. Und das einzige, was den Schild aufrechterhalten konnte. Es war ihnen gerade aus den Händen entglitten und ins Vergessen gestürzt. Reece hatte das Gefühl, dass er versagt hatte. Er wusste, dass er damit nicht nur Thor im Stich gelassen hatte, sondern den ganzen Ring. Warum waren sie nicht eine Minute früher hier angekommen? Nur ein paar Meter weiter und sie hätten es retten können. Reece wandte seinen Blick der fernen Seite des Canyon zu, der Seite des Empire und sammelte seine Kräfte. Ohne das Schwert würde der Schild fallen und die Krieger, die auf der anderen Seite warteten würden wie eine wild gewordene Herde über die Brücke in den Ring einfallen. Doch seltsamer Weise passierte nichts. Niemand betrat die Brücke. Einer von ihnen versuchte es und zerfiel vor seinen Augen zu Asche. Der Schild war nicht zusammengebrochen. Reece konnte es nicht verstehen. „Es macht keinen Sinn!“, sagte Reece zu den anderen. „Das Schwert hat den Ring verlassen. Wie kann der Schild noch immer funktionieren?“ „Dann hat das Schwert den Ring nicht verlassen“, schlug O’Connor vor. „Es ist nicht auf der anderen Seite. Es ist einfach heruntergefallen und liegt zwischen den beiden Welten.“ „Was wird dann aus dem Schild, wenn das Schwert weder hier noch dort ist?“, fragte Elden. Sie sahen sich staunend an. Niemand kannte die Antwort. Das war unerforschtes Gebiet.“ „Wir können nicht einfach von hier fort gehen“, sagte Reece. „Der Ring ist sicher mit dem Schwert auf unserer Seite – doch wir wissen nicht, was geschehen wird, nun da das Schwert dort unten liegt.“ „So lange es nicht in unseren Händen ist, können wir nicht sicher sein, ob es nicht vielleicht doch auf die andere Seite gelangt.“, sagte Elden. „Das ist kein Risiko, das ich eingehen möchte.“, sagte Reece. „Das Schicksal des Rings hängt davon ab. Wir können nicht mit leeren Händen zurückkehren.“ Reece wandte sich den anderen zu und blickte sie entschlossen an. „Wir müssen es zurückholen.“, sagte er. „Bevor es jemand anderes tut.“ „Zurückholen?“ fragte Krog fassungslos. „Bist du ein Narr? Wie genau stellst du dir das vor?“ Reece wandte sich um und starrte Krog an, der genauso trotzig wie immer zurückstarrte. Krog hatte sich für Reece zu einem Dorn im Auge entwickelt, widersetzte sich seinem Befehl bei jeder Gelegenheit und forderte andauernd seine Autorität heraus. Reece verlor langsam die Geduld. „Indem wir zum Grund des Canyon hinabsteigen.“, erklärte Reece ungeduldig. Die anderen keuchten während Krog seine Hände in die Hüften stemmte und eine Grimasse schnitt. „Du bist vollkommen verrückt.“, sagte er. „Niemand ist jemals zum Grund des Canyon hinabgestiegen.“ „Niemand weiß, ob es überhaupt einen Boden gibt.“, stimmte Serna mit ein. „Alles was wir wissen ist, dass das Schwert in eine Wolke gefallen ist und in diesem Augenblick wahrscheinlich immer noch ins Bodenlose fällt.“ „Unsinn.“, gab Reece zurück. „Alles hat einen Boden. Selbst das Meer.“ „Nun, selbst wenn dieser Boden existieren sollte“, konterte Krog. „was haben wir davon wenn er so weit unten ist, dass wir ihn weder sehen noch hören können. Es könnte Tage dauern bis wir unten ankommen – oder Wochen!“ „Ganz davon zu schweigen, dass es wohl kaum eine gemütliche Wanderung sein wird.“, sagte Serna. „Hast du die Klippen nicht gesehen?“ Reece wandte sich um und betrachtete die Felswand, die uralten Felsen, die die Wand des Canyon bildeten und teilweise von wabernden Nebelschwaden verdeckt wurden. Sie waren gerade. Vertikal. Er wusste, dass sie Recht hatten; es würde alles andere als leicht werden. Doch er wusste auch, dass sie keine andere Wahl hatten. „Es wird noch besser“, sagte Reece. „Diese Wände sind feucht vom Nebel. Selbst wenn wir den Grund erreichen sollten, schaffen wir es vielleicht nie wieder nach oben.“ Sie sahen ihn verdutzt an. „Dann gibst du selbst zu, dass es Wahnsinn ist, es zu versuchen.“, sagte Krog. „Ich stimme zu, dass es Wahnsinn ist.“, sagte Reece. Seine Stimme polterte voll Autorität und Selbstvertrauen. „Doch das ist der Wahnsinn, für den wir geboren wurden. Wir sind nicht nur einfache Männer. Wir sind eine besondere Brut: Wir sind Krieger! Wir sind Männer der Legion. Wir haben einen Eid geschworen. Wir haben geschworen, dass wir nie vor einer Mission zurückschrecken werden weil sie zu schwierig oder zu gefährlich ist, niemals zu zögern auch wenn ein Vorhaben unser Leib und Leben in Gefahr bringt. Es bleibt den Schwachen überlassen sich zu verkriechen, doch nicht uns. Das ist es, was uns zu Kriegern macht. Das ist wahrer Heldenmut: Auf eine Mission aufzubrechen, die weitaus grösser ist als wir selbst, weil es richtig ist, es zu tun. Der ehrenhafte Weg, selbst wenn er auf den ersten Blick unmöglich erscheint. Letzten Endes beweist nicht unbedingt das, was wir erreichen, unseren Heldenmut, sondern der Versuch es zu tun. Es ist grösser als wir selbst. Das ist es, was uns ausmacht.“ Schwere Stille legte sich über die Gruppe. Der Wind fegte über sie hinweg während sie über seine Worte nachdachten. Schließlich trat Indra vor. „Ich bin dabei.“, sagte sie. „Ich auch“, stimmte Elden zu. „Genauso wie ich“, sagte O’Connor und stellte sich neben Reece. Conven trat stumm neben Reece, hielt seinen Schwertknauf fest umschlungen, und wandte sich den anderen zu. „Für Thorgrin“, sagte er, „würde ich bis ans Ende der Welt gegen.“ Reece fühlte sich ermutigt, nun, da er seine treuen Waffenbrüder an seiner Seite hatte – die Menschen, die ihm so nah standen wie eine Familie, mit denen er in die Tiefen des Empire vorgedrungen war. Die Fünf standen da und sahen die beiden neuen Legionsangehörigen Krog und Serna an. Reece fragte sich, ob sie mit ihnen kommen würden. Sie konnten ein paar extra Hände gut gebrauchen, doch wenn sie umkehren wollten, dann sollte es eben so sein. Er würde nicht zweimal fragen. Krog und Serna standen da und starrten unsicher zurück. „Ich bin eine Frau“, sagte Indra zu ihnen. „Ihr habt vorhin deswegen über mich gespottet. Und jetzt stehe ich hier, bereit für eine Herausforderung die eines Kriegers würdig ist – während ihr, mit all euren Muskeln nach Ausflüchten sucht und euch fürchtet!“ Serna grunzte erbost und strich sich sein langes braunes Haar aus dem Gesicht. Er trat vor. „Ich komme mit.“, sagte er. „Doch nur wegen Thorgrin.“ Krog war der einzige, der mit rotem Gesicht wie angewurzelt stehen blieb. „Ihr seid verdammte Narren“, sagte er trotzig. „Jeder einzelne von Euch.“ Doch dann trat auch er vor und war bereit, mit ihnen zu gehen. Reece war zufrieden. Er wandte sich um und ging auf den Rand des Canyons zu. Sie hatten keine Zeit zu verschwenden. * Reece hangelte sich an der Felswand hinunter. Die anderen waren ein paar Meter über ihm und folgten ihm auf dem unbequemen Abstieg, der nun schon Stunden andauerte. Reeces Herz klopfte und er musste sich sehr anstrengen, nicht den Halt zu verlieren. Seine Finger waren wund und taub von der Kälte und seine Füße rutschten immer wieder vom glatten Felsen ab. Er hatte nicht damit gerechnet, dass es so schwer sein würde. Er hatte nach unten gesehen und das Gelände betrachtet, die Struktur des Felsens, und hatte bemerkt, dass der Fels an manchen Stellen senkrecht abfiel und eine perfekt glatte Oberfläche hatte, an der man unmöglich hinunterklettern konnte; an anderen Stellen war der Fels mit einer dichten Moosschicht bewachsen; und an wieder anderen Stellen hatte er eine grob gezackte Oberfläche mit steilem Gefälle, Spalten und Löchern, in denen man sich festhalten konnte. Er hatte sogar den einen oder anderen Vorsprung gesehen, auf dem man sich ausruhen konnte. Doch das Klettern an sich war viel anstrengender als es zunächst schien. Der Nebel erschwerte ihm dauernd die Sicht und als Reece nach unten sah, wurde es immer schwerer Stellen zu finden, auf die er seine Füße setzen konnte. Ganz zu schweigen davon, dass selbst nach all dieser Zeit des Kletterns der Grund des Canyons, sofern es ihn überhaupt gab, noch immer nicht zu sehen war. Reece bekam es mit der Angst zu tun. Sein Mund war trocken. Er fragte sich, ob er nicht vielleicht einen großen Fehler gemacht hatte. Doch er wagte sich nicht, seine Angst den anderen zu zeigen. Ohne Thor war er jetzt ihr Anführer, und er musste stark sein und sich konzentrieren; er wusste, dass Angst seine Fähigkeiten nur einschränken würde. Reeces Hände zitterten während er versuchte, die Fassung wiederzuerlangen. Er entschied sich zu vergessen, was weiter unten war und sich nur auf die nächsten Schritte zu konzentrieren. Einen Schritt nach dem anderen, sagte er zu sich. Und er fühlte sich besser. Reece fand den nächsten Tritt und den nächsten und spürte, wie er wieder in den Rhythmus kam. „ACHTUNG!“, schrie jemand über ihm. Reece wappnete sich als plötzlich Kiesel überall um ihn herum herunterregneten und ihn an Kopf und Schultern trafen. Er sah nach oben, sah im letzten Moment einen großen Brocken auf sich zurasen und konnte sich gerade noch ducken. „Tut mir leid!“, rief O’Connor ihm zu. „Der war wohl locker.“ Reeces Herz schlug ihm bis zum Hals als er nach unten sah und versuchte ruhig zu bleiben. Er hätte nur zu gern gewusst, wo der Grund war; er griff nach einem kleinen Stein und warf ihn. Er sah ihm nach und lauschte. Doch er hörte nichts. Seine ungute Vorahnung wurde dadurch nicht besser. Er hatte immer noch nicht die geringste Vorstellung davon, wie tief der Canyon war. Seine Muskeln zitterten jetzt schon vor Anstrengung, und er war sich nicht sicher, ob sie es schaffen würden. Reece schluckte schwer und die Gedanken kreisten in seinem Kopf als er weiter Schritt für Schritt abstieg. Was, wenn Krog Recht gehabt hatte? Was, wenn der Canyon wirklich bodenlos war? Was, wenn er seine Freunde in leichtsinnig dem Tod entgegen führte? Als Reece einen weiteren Schritt machte, mit dem er wieder Schwung gewann, hörte er plötzlich das Geräusch eines Körpers, der über den Fels rutschte, und einen Schrei. Auf einmal sah er Elden, der abgerutscht war und an ihm vorbeirutschte. Instinktiv streckte Reece die Hand aus und schaffte es, Elden am Arm zu packen. Zum Glück hatte er mit der anderen Hand einen festen Halt und konnte Elden abfangen. Doch dieser hing an Reeces Arm und konnte keinen Halt finden. Elden war zu groß und zu schwer, und Reeces Kräfte ließen schnell nach. Indra kam schnell zu ihnen herunter und griff nach Eldens anderer Hand. Doch so sehr er sich auch bemühte, er konnte keinen Halt für seine Füße finden. „Ich kann keinen Halt finden!“, schrie er mit Panik in der Stimme. Er trat verzweifelt um sich und Reece befürchtete, das er selbst den Halt verlieren würde und sie beide gemeinsam in die Tiefe stürzen würden. Seine Gedanken rasten. Reece erinnerte sich an ein Seil und einen Enterhaken, den O’Connor ihm vor ihrem Abstieg gezeigt hatte. Damit konnte man im Falle einer Belagerung gut an einer Mauer hochklettern. Für den Fall, dass wir es gebrauchen können, hatte O’Connor gesagt. „O’Connor! Dein Seil!“ rief Reece ihm zu. „Wirf es runter!“ Reece sah nach oben und beobachtete, wie O’Connor sein Seil von seinem Gürtel losmachte und den Haken in einer Spalte verkantete. Er drückte ihn mit aller Kraft hinein, zog ein paarmal daran und warf dann das Seil hinunter. Es baumelte neben Reece. Es hätte nicht einen Augenblick später kommen dürfen, denn Eldens Hand begann Reece zu entgleiten und im letzten Moment griff er das Seil. Reece hielt den Atem an und betete, dass es halten würde. Es hielt. Elden zog sich langsam hoch, bis er einen festen Halt gefunden hatte. Er stand auf einem kleinen Vorsprung und atmete schwer. Er seufzte vor Erleichterung. Das war verdammt eng gewesen! * Sie kletterten weiter und Reece wusste schon nicht mehr, wieviel Zeit vergangen war. Es wurde langsam dunkel, und Reece war trotz der Kälte schweißnass. Er hatte das Gefühl, dass jeder Augenblick sein letzter sein konnte. Seine Muskeln zitterten und sein Atem ging schnell und ungleichmäßig. Er fragte sich, wie lange er wohl noch durchhalten konnte. Er wusste dass sie irgendwo anhalten mussten um sich auszuruhen, falls sie nicht bald den Boden erreichen würden. Doch das Problem war: es gab keinen Ort, an dem sie anhalten konnten, um sich auszuruhen. Reece fragte sich ob sie irgendwann – einer nach dem anderen – vor Erschöpfung einfach abstürzen würden. Plötzlich hörte er lautes Poltern und eine kleine Gerölllawine regnete auf ihn nieder. Sein Herz setzte einen Augenblick lang aus als er einen Schrei hörte. Er war anders als der von Elden zuvor – es war ein Todesschrei. Aus dem Augenwinkel konnte er sehen, wie ein Körper an ihm vorbei viel. Reece streckte seinen Arm aus um ihn zu greifen, doch es geschah viel zu schnell. Alles was er tun konnte, war hilflos zuzusehen wie Krog schreiend mit Armen und Beinen um sich schlug und auf das Nichts zuraste.
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