2. Kapitel-1

2009 Words
2. Kapitel Caitlin schob das Scheunentor auf und betrachtete blinzend die schneebedeckte Welt dort draußen. Der Schnee reflektierte das helle Sonnenlicht. Sie schlug die Hände vors Gesicht, weil ein bis dahin unbekannter Schmerz in ihre Augen schoss. Caleb trat neben sie – er war damit beschäftigt, sich einen Überzug aus einem dünnen, durchsichtigen Material über Arme und Hals zu ziehen. Es sah fast aus wie Klarsichtfolie, aber es schien mit seiner Haut zu verschmelzen. Schon konnte sie den Überzug gar nicht mehr erkennen. »Was ist das?« »Hautfolie«, antwortete er, während er die Folie sorgfältig mehrfach um Arme und Schultern wickelte. »Damit ist es uns möglich, bei Sonnenschein hinauszugehen. Ansonsten würde unsere Haut verbrennen.« Er musterte sie. »Du brauchst das nicht – noch nicht.« »Woran merkt man das denn?«, fragte sie. »Glaub mir«, erwiderte er grinsend. »Du würdest es wissen.« Er griff in die Tasche und nahm ein Fläschchen Augentropfen heraus, von denen er mehrere Tropfen in jedes Auge träufelte. Er drehte sich um und sah sie an. Offensichtlich erkannte er, dass ihre Augen schmerzten, denn er legte ihr sanft eine Hand auf die Stirn. »Leg den Kopf zurück«, forderte er sie auf. Sie gehorchte. »Mach die Augen weit auf«, sagte er. Vorsichtig ließ er ihr in jedes Auge je einen Tropfen fallen. Es brannte wie verrückt. Sie schloss die Augen und senkte den Kopf. »Au«, sagte sie und rieb sich die Augen. »Du kannst es mir auch einfach sagen, wenn du sauer auf mich bist.« Er lachte. »Tut mir leid. Anfangs brennt es, aber das geht schnell vorbei. Innerhalb weniger Sekunden werden deine Augen nicht mehr lichtempfindlich sein.« Sei zwinkerte und rieb sich erneut die Augen. Schließlich blickte sie auf und merkte, dass er recht hatte – die Schmerzen hatten aufgehört. »Die meisten von uns wagen sich trotzdem nicht raus in die Sonne, wenn es nicht unbedingt sein muss. Bei Tag sind wir schwächer. Aber manchmal geht es eben nicht anders.« Fragend sah er sie an. »Diese Schule, die dein Bruder besucht hat – ist sie weit weg?« »Es ist nur ein kurzer Fußmarsch«, entgegnete sie und ging über die schneebedeckte Wiese voran. »Es ist die Highschool von Oakville. Bis vor wenigen Wochen war es auch meine Schule. Irgendeiner von meinen Freunden muss einfach wissen, wo Sam steckt.« * * * Die Highschool von Oakville sah noch genauso aus, wie Caitlin sie in Erinnerung hatte. Irgendwie fühlte es sich unwirklich an, wieder dort zu sein. So, als hätte sie nur einen kurzen Urlaub gemacht und wäre nun in ihr normales Leben zurückgekehrt. Einen kurzen Moment lang glaubte sie sogar, dass die Ereignisse der vergangenen Woche nur ein verrückter Traum gewesen waren. Sie schwelgte in der Fantasievorstellung, dass alles wieder völlig normal wäre, genau so, wie es zuvor gewesen war. Es war ein schönes Gefühl. Aber als sie zur Seite blickte und Caleb neben sich sah, wusste sie, dass nichts normal war. Wenn es irgendetwas noch Unwirklicheres gab als ihre Rückkehr, dann war es eine Rückkehr mit Caleb an ihrer Seite. Sie würde ihre alte Schule zusammen mit diesem fantastisch aussehenden Typen betreten. Er war weit über einen Meter achtzig groß, hatte breite Schultern und war von Kopf bis Fuß schwarz gekleidet. Der Kragen seines schwarzen Ledermantels war hochgeschlagen, und seine überdurchschnittlich langen Haare fielen locker darüber. Er sah aus, als wäre er gerade von der Titelseite einer angesagten Teenie-Zeitschrift gestiegen. Caitlin malte sich die Reaktion der anderen Mädchen aus, wenn sie sie zusammen mit ihm sahen. Bei dem Gedanken lächelte sie unwillkürlich. Sie war nie auffallend beliebt gewesen, und die Jungs hatten ihr nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das hieß jedoch nicht, dass sie unbeliebt gewesen wäre – sie hatte einige gute Freunde, auch wenn sie nie der Mittelpunkt der angesagtesten Clique gewesen war. Sie ordnete sich irgendwo in der Mitte ein. Allerdings hatte sie bisweilen das Gefühl gehabt, dass die wirklich angesagten Mädchen sie verachteten. Sie schienen immer zusammenzustecken, spazierten hochnäsig auf den Gängen herum und ignorierten alle, die ihrer Ansicht nach unter ihrem Niveau waren. Jetzt würden sie ihr vielleicht Beachtung schenken. Caitlin und Caleb stiegen die Treppen hoch und gingen durch die breiten Doppeltüren in die Schule hinein. Caitlin warf einen Blick auf die große Uhr: Es war acht Uhr dreißig. Perfekt. Die erste Stunde würde gleich enden, und die Gänge müssten sich jeden Moment füllen. So würden sie weniger auffallen. Sie musste sich keine Gedanken wegen des Sicherheitspersonals oder eines Ausweises zu machen. Wie aufs Stichwort klingelte es. Innerhalb von Sekunden tauchten die ersten Schüler auf den Fluren auf. Das Gute an Oakville war, dass zwischen dieser Highschool und der Highschool in New York City Welten lagen. Hier war selbst zu Stoßzeiten immer noch genug Platz. Große Fenster säumten die Gänge und ließen Licht und Himmel herein. Überall konnte man Bäume sehen, egal wo man war. Beinahe vermisste sie ihre alte Schule. Beinahe. Eigentlich hatte sie die Nase voll von Schule. Streng genommen würde es nur noch wenige Monate bis zu ihrem Schulabschluss dauern, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sie in den letzten Tagen mehr gelernt, als sie je in einem Klassenraum lernen könnte. Im Vergleich dazu spielten ein paar weitere Monate Unterricht und ein offizielles Diplom keine Rolle. Sie lernte sehr gerne, aber sie hätte auch kein Problem damit, nicht mehr zur Schule zu gehen. Als sie den Flur entlanggingen, hielt Caitlin nach vertrauten Gesichtern Ausschau. Sie begegneten hauptsächlich Zehntklässlern und Elftklässlern, aber sie entdeckte niemanden aus ihrer zwölften Klasse. Überrascht registrierte sie die Reaktion der Mädchen, an denen sie vorbeigingen. Jede Einzelne starrte Caleb buchstäblich an. Keine einzige Schülerin versuchte, ihr Interesse zu verbergen; sie waren nicht in der Lage, den Blick abzuwenden. Es war unglaublich. Sie kam sich vor, als würde sie in Begleitung von Justin Bieber durch die Schule spazieren. Caitlin drehte sich um und sah, dass alle Mädchen stehen geblieben waren und immer noch starrten. Einige flüsterten untereinander. Sie warf Caleb einen Blick zu und fragte sich, ob ihm das aufgefallen war. Falls ja, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. »Caitlin?«, sagte jemand mit verblüffter Stimme. Caitlins Blick fiel auf Luisa, eines der Mädchen, mit denen sie vor ihrem Umzug befreundet gewesen war. »Oh mein Gott!«, fügte Luisa aufgeregt hinzu und breitete die Arme aus. Bevor Caitlin reagieren konnte, umarmte Luisa sie bereits. Caitlin erwiderte die freudige Begrüßung. Wie schön, ein vertrautes Gesicht zu sehen. »Was ist passiert?«, fragte Luisa leicht hektisch. Das war typisch für sie. Ihr schwacher spanischer Akzent kam durch, da sie erst vor wenigen Jahren von Puerto Rico hergezogen war. »Ich bin ganz durcheinander! Ich dachte, du wärst weggezogen? Ich habe dir gesimst und Nachrichten über f******k geschickt, aber du hast nicht geantwortet …« »Es tut mir so leid«, antwortete Caitlin. »Ich habe mein Handy verloren, und ich hatte keine Gelegenheit, an einen Computer zu gehen, und …« Luisa hörte nicht zu. Gerade hatte sie Caleb bemerkt und starrte ihn wie hypnotisiert an. Ihr klappte förmlich die Kinnlade herunter. »Wer ist dein Freund?«, fragte sie schließlich leise. Caitlin lächelte. Sie hatte ihre Freundin noch nie so fassungslos erlebt. »Luisa, das ist Caleb«, stellte Caitlin vor. »Es ist mir ein Vergnügen«, sagte Caleb, lächelte sie an und streckte die Hand aus. Luisa konnte den Blick nicht von ihm lösen. Langsam hob sie die Hand. Sie war wie betäubt und offensichtlich nicht in der Lage zu sprechen. Dann warf sie Caitlin einen ungläubigen Blick zu – sie konnte nicht verstehen, wie diese sich so einen Typen geschnappt hatte. Sie betrachtete ihre Freundin mit anderen Augen, fast als wüsste sie nicht, wer sie war. »Ähm ...«, stammelte Luisa mit weit aufgerissenen Augen, »... ähm ... wie ... wo ... habt ihr euch denn kennengelernt?« Caitlin spielte ganz kurz mit dem Gedanken, Luisa alles zu erzählen. Dann musste sie innerlich lächeln. Es würde nicht funktionieren. »Wir sind uns ... nach einem Konzert begegnet«, sagte sie stattdessen. Das entsprach zumindest teilweise der Wahrheit. »Oh mein Gott, was für ein Konzert? In New York? Von den Black Eyed Peas!?«, rief Luisa aufgeregt. »Ich bin ja so neidisch! Die möchte ich unbedingt mal auf der Bühne sehen!« Caitlin lächelte bei dem Gedanken an Caleb auf einem Rockkonzert. Irgendwie konnte sie sich ihn dort nicht vorstellen. »Ähm ... nicht direkt«, antwortete sie. »Luisa, hör zu, tut mir leid, dass ich dich unterbrechen muss, aber ich habe nicht viel Zeit. Ich bin auf der Suche nach Sam. Hast du ihn vielleicht gesehen?« »Klar. Alle haben ihn gesehen. Er ist letzte Woche zurückgekommen. Er sah merkwürdig aus. Ich habe ihn gefragt, wo du bist und was mit ihm los ist, aber er wollte mir nichts erzählen. Wahrscheinlich pennt er draußen in dieser leeren Scheune, die er so liebt.« »Nein, da ist er nicht«, erwiderte Caitlin. »Wir kommen gerade von dort.« »Wirklich? Tut mir leid, dann weiß ich es nicht. Er ist ja erst in der zehnten Klasse, deshalb haben wir nicht viel miteinander zu tun. Hast du es schon über f******k versucht? Er ist doch ständig online.« »Ich habe mein Handy nicht …«, begann Caitlin. »Nimm meins«, fiel Luisa ihr ins Wort. Bevor Caitlin ihren Satz beenden konnte, hatte Luisa ihr schon ihr Handy in die Hand gedrückt. »Facebook ist schon offen. Logg dich ein und schick ihm eine Nachricht.« Natürlich, dachte Caitlin. Warum ist mir das nicht selbst eingefallen? Caitlin loggte sich ein, tippte Sams Namen in das Suchfeld, rief sein Profil auf und klickte auf Nachricht. Sie zögerte kurz und überlegte, was sie schreiben sollte. Dann tippte sie ein: Sam, ich bin’s. Ich bin in der Scheune. Komm dorthin. So bald wie möglich. Sie drückte auf Senden und gab Luisa das Handy zurück. Hinter ihnen entstand ein kleiner Tumult, und Caitlin drehte sich um. Eine Gruppe der beliebtesten, älteren Mädchen kam direkt auf sie zu. Sie flüsterten und starrten Caleb an. Zum ersten Mal stieg ein neues Gefühl in Caitlin auf. Eifersucht. Sie las in den Augen dieser Mädchen, die ihr zuvor nie Beachtung geschenkt hatten, dass sie ihr Caleb nur zu gerne wegschnappen würden. Diese Mädchen konnten jeden Jungen haben, den sie nur wollten. Es spielte keine Rolle, ob er eine Freundin hatte oder nicht. Man konnte bloß hoffen, dass sie kein Auge auf den eigenen Freund warfen. Und jetzt hatten sie Caleb ins Visier genommen. Caitlin hoffte und betete, dass Caleb immun gegen ihre Macht war. Und dass er Caitlin nach wie vor mochte. Aber wenn sie es sich recht überlegte, konnte sie es sich nicht vorstellen. Sie war so durchschnittlich. Warum sollte er bei ihr bleiben, wenn Mädchen wie diese ihn unbedingt für sich haben wollten? Caitlin betete, dass sie einfach vorbeigehen würden. Nur dieses eine Mal. Aber natürlich taten sie das nicht. Ihr Herz hämmerte, als die Gruppe direkt bei ihnen stehen blieb. »Hi, Caitlin«, sagte eine mit vorgetäuschter Freundlichkeit. Tiffany. Groß, glattes blondes Haar, blaue Augen und spindeldürr. Sie war von Kopf bis Fuß mit Designerklamotten ausstaffiert. »Wer ist denn dein Freund?« Caitlin wusste nicht, was sie antworten sollte. Tiffany und ihre Freundinnen hatten sie bisher immer links liegen lassen und ihr nicht einmal einen Blick gegönnt. Jetzt war Caitlin ganz überrascht, dass sie überhaupt ihren Namen kannten. Und offensichtlich wollten sie ein Gespräch beginnen. Caitlin wusste natürlich, dass das nichts mit ihr zu tun hatte. Sie wollten Caleb. So sehr, dass sie sich sogar dazu herabließen, mit ihr zu sprechen. Das verhieß nichts Gutes. Caleb musste ihr Unbehagen gespürt haben, denn er trat einen Schritt näher und legte ihr den Arm um die Schulter. Noch nie in ihrem Leben war Caitlin für etwas dankbarer gewesen als für diese Geste. Mit neu entdecktem Selbstvertrauen schaffte Caitlin es, ihnen zu antworten. »Das ist Caleb.« »Was macht ihr denn hier?«, fragte ein anderes Mädchen. Bunny. Sie war eine Kopie von Tiffany, nur mit braunem Haar. »Ich dachte, du wärst umgezogen oder so.« »Nun, ich bin zurückgekommen«, erwiderte Caitlin. »Und du, bist du neu hier?«, fragte Tiffany an Caleb gerichtet. »Bist du in der Zwölften?« »Ich bin neu hier, ja«, antwortete er unverbindlich. Tiffanys Augen leuchteten auf, weil sie seine Antwort so interpretierte, dass er ihre Schule besuchen würde. »Super«, sagte sie. »Heute Abend gebe ich eine Party, bei mir zu Hause. Es werden nur ein paar enge Freunde da sein, aber wir hätten dich sehr gerne dabei. Und ... ähm ... du kannst auch kommen«, fügte sie hinzu und sah Caitlin an. Caitlin spürte Verärgerung in sich aufsteigen. »Vielen Dank für die Einladung, meine Damen«, sagte Caleb, »aber es tut mir leid, Caitlin und ich haben heute Abend schon etwas Wichtiges vor.« Caitlins Herz schwoll vor Stolz an. Gewonnen! Zufrieden betrachtete sie ihre enttäuschten Gesichter. Die Mädchen rümpften die Nase und zogen ab. Caitlin, Caleb und Luisa blieben allein zurück. Caitlin atmete auf. »Oh mein Gott!«, meinte Luisa. »Diese Mädchen haben dich immer links liegen lassen. Und jetzt haben sie dich eingeladen!«
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