~Harlow~
VIER TAGE SPÄTER
Bis jetzt gab es keine Neuigkeiten, kein einziges Wort von meiner Schwester. Ich habe den Deodorant, den sie hinterlassen hat, aufgebraucht und gestern Abend den letzten Rest davon verwendet.
Frau Yates ist nervös, als sie mich von meinem Zimmer abholt. Heute ist der Tag, an dem Zara getestet werden soll, aber ich werde an ihrer Stelle erneut getestet. Frau Yates spricht kaum mit mir und ist angespannt, als wir zum Auktionshaus gehen. Ich schminke mich genauso wie meine Schwester es gelegentlich getan hat und bewahre den Anschein, dass ich Zara bin.
„Man weiß nie, deine Testergebnisse könnten genauso hoch sein wie die deiner Schwester“, freut sie sich, als wir die Eingangstüren erreichen.
Ach ja, sie werden hoch sein, denn die Tests wurden bereits durchgeführt, denke ich nüchtern.
„Hast du etwas von Harlow gehört?“, frage ich, Neugierde klingt in meiner Stimme mit.
Frau Yates wird noch nervöser, bleibt aber still und schüttelt hastig den Kopf.
Nachdem sie ihre Tests durchgeführt und mein Blut abgenommen haben, warte ich in der gleichen Lobby des Auktionshauses, sitze auf demselben harten, blauen Stuhl wie zuvor, nur diesmal ist Zara nicht bei mir und hält meine Hand. Diesmal bin ich völlig allein.
Aber als Frau Yates zurückkommt, übermäßig aufgeregt und fröhlich, zeigt sich Verwirrung auf meinem Gesicht. Sicherlich habe ich nicht besser abgeschnitten als zuvor. Ich versuche, gut gelaunt zu sein, so zu handeln, wie ich weiß, dass es Zara tun würde.
„Wie lautet das Urteil?“, frage ich und tue so, als wäre ich aufgeregt.
„Perfekt, siebenundachtzig Prozent, genauso wie Harlow“, verkündet sie, obwohl mir nicht entgeht, wie ihre Lippe zittert, als sie meinen Namen erwähnt.
Tränen rinnen meine Wange hinunter, und mein Herz beginnt gegen meinen Brustkorb zu schlagen.
„Frau Yates?“, flüstere ich, als Herr Black in die Lobby schlendert.
Er reißt ihr das Papier aus den Händen; seine gierigen Augen nahmen die Zahlen auf der Seite auf, bevor ein hinterlistiges Grinsen über seine Lippen breitet.
„Herrlich! Wunderbar! Unglaublich! Das Glück, Frau Yates, gleich zweimal! Oh, die Obsidianer werden sich darüber freuen. Ich werde die Auktion starten“, jubelt er und stürzt davon, bevor einer von uns ein Wort oder Einwand äußern kann.
Ich sitze nur da und starre ihm nach. Herr Blacks glänzende, schwarze Schuhe klackern auf dem sterilen Boden, während er in seinem auffälligen Anzug davon eilt. Sie sehen neu aus und ich wette, er hat sie mit dem ganzen Geld bekommen, das sie bei meiner vorherigen Auktion erzielt haben. Das Geld, für das meine Schwester ihr Leben gelassen haben könnte.
„Frau Y-Yates?“, stottere ich, während ich ihm nachblicke.
„Harlow hat es nicht geschafft, Zara. Es tut mir so leid. Sie konnte seinen Knoten nicht ertragen und er hat versucht, es zu erzwingen. Harlow hat ausgblutet“, gesteht Frau Yates und starrt dabei auf ihre Füße. Ich hoffe, sie schämt sich für sich selbst, dafür, wie sie Mädchen verkaufen, obwohl sie wissen, dass diese den Tod finden werden.
Ich schlucke Tränen zurück. Meine Augen brennen und plötzlich kann ich nicht mehr atmen. Etwas tief in mir zerbricht in tausend scharfe Stücke und durchschneidet mich wie eine Rasierklinge.
Ein tiefer, kehliges Schreien entweicht meinen Lippen, als ich auf den Boden zusammenbreche. Tage lang habe ich mich gefragt, doch nichts gehört. Ich dachte, keine Nachrichten sind gute Nachrichten.
Eine Welle des Schmerzes durchfährt mich und raubt mir die Luft zum Atmen. Ich habe sie getötet; ich habe meine Zwillingsschwester getötet. Sie ist meinetwegen gestorben.
Ich erinnere mich an kaum etwas, außer den klagenden Heulen, die ich von mir gebe, bevor ein Stich in meinem Nacken alles ausschaltet. Alles wird schwarz und ich begrüße die Dunkelheit. Alles, um den Schmerz zu stoppen, der mich zerreißt und nichts als zerbrochene Stücke zurücklässt.
Als ich wieder zu mir komme, befinde ich mich in einem Krankenzimmer einer Omega-Einrichtung. Frau Yates schwebt über mir herum. Ich versuche mich aufzusetzen, doch die Handschellen an meinem Handgelenk hindern mich an einer Bewegung.
„Siebenhundertfünfzigtausend! Wir müssen feiern“, schreit Herr Black.
Mein Kopf rollt zur Seite und instinktiv suche ich nach Zara, bevor ich mich erinnere, mit eiskalten Fäden, die meine Seele erneut durchbohren. Ich fange an zu hyperventilieren, und Frau Yates umklammert mein Gesicht mit ihren Händen.
„Es ist in Ordnung, Schatz; das Obsidian Rudel hat dieses Mal nicht gewonnen. Nightbane hat gewonnen. Siehst du?“ Sie zeigt auf den Bildschirm dort drüben auf dem Schreibtisch des Arztes, als würde mich das irgendwie beruhigen.
Denkt sie, dass ich mich um das kümmere? Meine Schwester ist tot, und sie denkt, dass ich mir deswegen Sorgen mache? Tränen laufen mir über die Wangen, und ich schüttle den Kopf.
„Ich weiß, Schatz, es tut mir leid. Ich bedauere für Harlow“, flüstert sie und wischt Tränen von meinen Wangen.
Sie hat kaum gelebt. Wir sind noch nicht einmal achtzehn, wir haben noch zwei Wochen. Ich bin viel zu früh aufgeblüht, noch unter der Obhut der Einrichtung. Noch zwei Wochen, wir hätten uns abmelden, die Schulden begleichen und unsere eigenen Rudel finden können! Zara hatte immer vor, zu bleiben, aber ich wusste, ich könnte sie überreden zu gehen. Stattdessen habe ich ihr das angetan.
Ich habe sie getötet!
Schmerzvolles Schluchzen durchdringt meinen Körper, und die Tage vergehen. Herr Black hält mich beruhigt und benommen.
Ich starre an die Decke, als ich einen Stich in meinem Hintern spüre, der meinen Blick von dem Spinnennetz in der Ecke ablenkt.
Ich blicke hinunter und sehe, wie der Arzt meine Hose über meine Hüfte zieht, als die Tür aufplatzt.
„Spritz sie nicht; sie ist nicht Zara!“ schreit Herr Black und stürmt durch die Tür.
„Was?“ Die Stimme des Arztes zittert.
Herr Black packt ihn an den Schultern und schüttelt den armen Mann, knurrt wie ein Verrückter: „Sag mir, dass du sie schon nicht gespritzt hast!“
Der verwirrte Arzt schaut hektisch zwischen dem tobenden Mann, der ihn festhält, und mir hin und her. Ich sehe Herr Black an und frage mich, ob ich ihn jemals so wütend gesehen habe.
Er knurrt, und ich versuche, aufzusitzen, aber meine Handgelenke sind immer noch ans Bett gefesselt, also wird mein Körper zurückgerissen. Sobald mein Rücken die Matratze berührt, trifft seine Hand meine Wange.
Mein Kopf dreht sich zur Seite und prallt gegen die Wand; meine Zähne knirschen aufeinander und der metallische Geschmack von Blut erfüllt meinen Mund, als ich auf meine Zunge beiße.
„Sie ist nicht Zara; sie ist verdammt Harlow. Die Autopsieberichte sind gerade zurückgekommen, es gibt eine Narbe in ihrem Gesicht“, knurrt Herr Black und geht zum Waschbecken, um ein Tuch anzufeuchten.
Er kommt zurück und ich weiche vor ihm zurück, aber er packt meine Haare und wischt mein Gesicht bösartig ab. Sobald er fertig ist und mein Gesicht frei von Make-up ist, knurrt er noch lauter.
„Du hast keine Ahnung, was du getan hast! Jetzt muss ich versuchen, dieses Chaos aufzuräumen!“ schreit er lautstark, bevor er mich erneut schlägt. Ein Schmerzensschrei entweicht mir, als ich versuche, meine Hände hochzubringen, um mein Gesicht zu schützen, doch er hört nicht auf, mich anzugreifen.
Ich ziehe meine Knie hoch, vergrabe mein Gesicht zwischen ihnen und warte darauf, dass Herr Black aufhört. Als er schließlich aufhört, schmerzt meine Kopfhaut, weil er mir die Harre ausreißt, mein Körper ist gezeichnet von Blutergüssen und meine Lippe blutet.
Der Arzt rennt aus dem Raum und entkommt Herrn Blacks Zorn. Mein Angreifer drückt auf das Interkomm und tippt zwei Nummern ein.
„Herr Black, Sie sollten mir besser sagen, dass Sie das Mädchen haben, das ich gekauft habe“, kommt eine tiefe Baritonstimme aus dem Lautsprecher.
„Wer zur Hölle ist das?“ Eine andere Stimme bringt sich in das Gespräch ein, aber diese ist noch tiefer und viel wütender.
Die Männer streiten, bis Herr Black endlich sein Schweigen bricht. „Meine Herren, es hat sich ein Missverständnis ereignet.“
„Wo ist mein Omega? Diese Schlampe ist noch nicht einmal erblüht. Wie zum Teufel ist es überhaupt möglich, dass ein derartiger Fehler passiert?“ brüllt der erste Mann.