EINS
VORWÄRTS
Buffalo, Wyoming
18. September 1976, 2:00 Uhr
Patrick
Wenn es eine Sache gab, die er bei der Arbeit als Medizinstudent in der Notaufnahme im Parkland Memorial Hospital in Dallas gelernt hatte, dann, dass nach Mitternacht nichts Gutes passierte. In der verschlafenen Stadt Buffalo, Wyoming, bekam er vielleicht keine Prostituierten mit gebrochenen Kiefern, Teenager mit Überdosen, Gangmitglieder mit Blei zwischen den Augen oder Sexabenteurer, die sich sträubten, Gerbils zu erklären, die in deren Gesäße gestopft waren, aber dennoch, wenn das Telefon um zwei Uhr morgens klingelte, wusste Patrick, dass es schlimm wäre.
Er rollte sich herüber und stieß seine Frau an, die übertrieben unter Schichten aus Decken vergraben war, welche er selbst in der Nacht weggetreten hatte. »Susanne, ich muss raus.«
»Sei vorsichtig.« Ihr Murmeln war auf Autopilot – dieselben Worte, die sie immer sagte – und er war sicher, dass sie nicht aus dem REM-Schlaf ausgebrochen war.
»Susanne. Susanne.«
»Was ist denn?« Sie setzte sich ruckartig auf, hatte große Augen, wilde Haare und sah im mageren Morgenlicht, das durch das Fenster hereinströmte, argwöhnisch aus. Aber trotzdem so verdammt schön. Sein Herz machte einen Salto. Dieselbe Frau, in die er verliebt war, seit er ein fünfzehnjähriger Spitzenschüler an der A&M Consolidated High School in College Station, Texas, war.
Er berührte ihre Wange. »Alles ist okay. Ich muss ins Krankenhaus. Kannst du sicherstellen, dass alle mit Packen fertig sind, falls ich spät zurückkomme?«
Sie sackte wieder auf ihr Kissen. »Sicher.«
»Danke.«
Er zog sich im Beinahe-Dunkel die Kleidung an, die er in der vorigen Nacht draußen gelassen hatte – er war immerhin der Arzt in Bereitschaft. Bevor er ging, drückte er seine Lippen auf Susannes Schläfe. Ein zufriedenes »hmm«-Geräusch unterbrach ihr leises Schnarchen. Dann ging er zügig aus dem Wohnbereich im oberen Stockwerk ins untere Stockwerk – welches in die Seite eines Hügels gebaut und hauptsächlich ein Keller war – und durch die Vordertür hinaus zu seinem auf der kreisförmigen Zufahrt geparkten Auto. Ohne Garage war es derselbe Marsch, den er ganzjährig absolvierte.
Er bewegte sich schleichend, benutzte die Bengalfuchs-Gangtechnik, die er als Kind bei den Pfadfindern gelernt hatte: Kauere dich tief mit den Händen auf den Knien zusammen, heb den Fuß hoch an, stell die Außenseite des Fußes ab, rolle zur Innenseite und setz die Ferse ab, Zeh und Gewicht nach unten. Wiederholen. Falls ihn jemanden sehen würde, würde er sich dämlich dabei vorkommen, aber er war allein und es war eine gute Übung für seinen bevorstehenden Jagdausflug. Er ging gerade am Zimmer seiner Tochter Trish vorbei und er wollte sie ganz sicher nicht aufwecken. Herr, rette mich vor launischen Teenagern. Perry war mit erst zwölf nicht so schlimm, aber sein Tag würde kommen. Es wäre schlimm genug, wenn Patrick seine Familie um Punkt neun Uhr aufscheuchte, um sie in den Truck und den Berg hochzutreiben.
Er schloss die Tür seines weißen Porsche 914 so leise er konnte. Letzte Nacht hatte er in Vorbereitung auf ein leises Davonkommen geparkt, hatte das Auto bergab ausgerichtet und die Feststellbremse angezogen. Jetzt löste er die Bremse und ließ den Sportwagen Fahrt aufnehmen, bis er beinahe am Ende der Zufahrt war. Während er den Achterbahn-Abstieg machte, kurbelte er die Fenster herunter. Das einzige Geräusch waren Räder auf Schotterstraße. Dann schmiss er die Kupplung ein und der Porsche erwachte röhrend zum Leben.
Die Fahrt zum Krankenhaus benötigte gewöhnlich nur fünf Minuten, aber es waren immer fünf Minuten voll Schrecken mit weißen Knöcheln. Selbstmordgefährdete Rehe und tiefliegende Roadster waren eine tödliche Kombination und die Rehe kamen bei Abenddämmerung mit voller Gewalt heraus, terrorisierten die Straßen beinahe bis zum Tagesanbruch. Susanne hatte ihn dafür, den Porsche zu kaufen, ganz schön zusammengestaucht. Es gab nur zwei Fahrer in ihrer Familie, erinnerte sie ihn, und sie hatten bereits zwei Autos: ihren bronzefarbenen Kombi und seinen alten Truck. Es war wahrscheinlich noch nicht an der Zeit, ihr zu erzählen, dass er sein Auge auf ein Piper Super Cub Flugzeug geworfen hatte, jetzt da er seinen Pilotenschein besaß. Aber er liebte den Porsche. Und verdammt, wenn ein Mann mit neunzehn das einzige Mädchen heiratet, mit dem er je ausgegangen war, ein Kind mit zwanzig hatte und in mehreren Jobs arbeitete, während er Medizin studiert, nur um sich die Wölfe vom Leib zu halten, na ja, verdiente dieser Mann einen Porsche, sobald er sich diesen leisten konnte. Er war nicht so extravagant – er hatte das billigste Modell gekauft, das sie hatten. Aber wie bei den schickeren Modellen stand dennoch PORSCHE darauf, und das schwarze Hardtop ließ sich abnehmen, um daraus ein Cabrio zu machen. Er war stolz auf seine Sparsamkeit gewesen, bis er die Ersparnisse prompt für Sonderteile und Mechaniker ausgegeben hatte, die nur amerikanische Autos und große Trucks kannten. Als würde er seine Gedanken lesen, stotterte der Motor, als er an einer Ampel anhielt.
»Das war’s. Dieser Scheißhaufen kommt auf den Markt.« Er murmelte die Worte vor sich hin.
Als er zur Seite blickte, sah er einen weiteren Fahrer mit müden Augen, der ihn von der nächsten Spur aus anstarrte. Es war ein Teenager in einem Truck mit geschlossenen Fenstern.
»Was ist los, Kumpel, hast du noch nie jemanden mit sich selbst reden sehen?« Er nickte. »Zumindest weiß ich immer, dass ich eine intelligente Antwort bekomme.«
Die Ampel wurde grün. Patrick ließ den Motor aufheulen. Der Porsche raste vorwärts, aber der Truck schoss vor ihm davon. Der kleine Sportwagen war mehr Bellen als Beißen. Laut, aber mit ungefähr der gleichen Beschleunigung, die er in seinem alten VW Käfer hatte.
Auf der malerischen Western Main Street mit ihren trüben Straßenlaternen fuhr Patrick unter Wimpeln der Zweihundertjahrfeier – Buffalo hatte sich das Ereignis zu Herzen genommen und sie das ganze Jahr über begangen – und ein paar Minuten später bog er in den Parkplatz ein, der für den Bereitschaftsarzt außerhalb der Notaufnahme reserviert war. Drinnen summte und blinkte ein Neonlicht, das dem kargen Raum ein Twilight-Zone-Gefühl verlieh.
Er eilte zum Röntgentechniker, dessen Anruf ihn geweckt hatte. An den meisten Orten hätte eine diensthabende Krankenschwester den Anruf getätigt. Die meisten Orte hatten Wes nicht. »Was haben wir, Wes?«
Der Techniker war einen Kopf größer als Patrick und wog fünfzig Pfund weniger. Sein blauer Kittel schaffte es nicht ganz bis zu seinen Knöcheln. »Nun, Doc, wir haben einen möglichen Beinbruch.«
Wes sagte es sachlich, aber Patrick erhaschte ein Funkeln in seinen Augen. Was könnte an einem gebrochenen Bein um zwei Uhr morgens komisch sein? »Wo ist der Patient?«
»Auf dem Parkplatz natürlich.«
Patrick war auf das Innere der Notaufnahme zugegangen, aber er blieb stehen und drehte sich zu Wes um. »Werden wir ihn nicht reinbringen?«
»Sie. Und nein, ich glaube, das wäre keine gute Idee.«
»Was ist das Problem?«
»Kein Problem.«
»Was entgeht mir hier?« Normalerweise musste er keine Antworten aus Wes ziehen. Vielleicht war der Röntgentechniker schläfrig. Träge. Wie Patrick.
»Ich bin mir nicht sicher, Doc. Willst du, dass ich mitkomme, um sie anzusehen?«
Plötzlich war sich Patrick sicher, dass Wes fast lachte. »Verdammt richtig, das tue ich.«
Die beiden Männer gingen zusammen hinaus und trafen auf einen jungen Mann in staubigen Bluejeans, einem abgetragenen Westernhemd und abgewetzten Stiefeln. Er stand am Rand des Parkplatzes und riss seinen Hut runter, als er sie sah.
»Vielen Dank für Ihr Kommen.« Die Hand, die nach Patricks Hand griff, war schwielig und rau wie Sandpapier, ihr Druck knochenzermalmend. »Ich bin Tater Nelson.«
»Doktor Flint. Ich habe gehört, wir haben eine mögliche Beinfraktur.«
»Ja, Sir.«
»Wie lautet der Name der Patientin?«
»Mildred.«
»Mildred. Okay.« Er folgte Tater auf den Parkplatz, wo sie an einem Pferdeanhänger für zwei Pferde anhielten. Tater schwang die hintere Tür auf.
»Sie haben sie hier drin?«
»Ich wollte nicht, dass sie auf dem Parkplatz scheut und sich noch schlimmer verletzt.«
Patrick spähte in den Anhänger. Ein Huf schlug aus, fünfzehn Zentimeter vor ihm. Er sprang einen halben Meter zurück, ging kein Risiko ein. »Mildred ist ein Pferd.« Er würde den Röntgentechniker umbringen. Wes hätte ihn warnen sollen.
Tater nickte enthusiastisch. »Jawohl. Sie ist ein höllisches Saddle Bronc. Können Sie ihr helfen?«
Patrick drehte sich zu Wes um, der sich eine Hand vor den Mund hielt, als würde er schlechte Zähne verdecken. Aber es war ein Lächeln, das er versteckte. »Ich weiß nicht. Wes, können wir ihr helfen?«
»Das hoffe ich sehr, Doc, da Sie heute Abend den Tierarzt vertreten.«
Patricks Augenbrauen hoben sich, aber seine Stimme war flach. »Vertretung für den Tierarzt.« Joe Crumpton, der Tierarzt, hatte keine Vorkehrungen getroffen, dass er ihn vertrat.
»Ja, Sir. Doktor John vertritt ihn immer.«
»Und umgekehrt?«
»Na, das wäre nicht richtig. Ein Tierarzt, der sich um Menschen kümmert? Die Leute würden es nicht dulden.«
»Aber es ist in Ordnung, dass sich ein Arzt um Tiere kümmert.«
Beide Männer nickten. Patrick war sich nicht so sicher. Er war der Veterinärmedizin nicht näher gekommen, als dass er Der Doktor und das liebe Vieh gelesen hatte.
»Tater, geben Sie Wes und mir eine Minute. Wir werden bald zurück sein und uns um Mildred kümmern.«
»Alles klaro.«
Als sie außer Hörweite waren, sagte Patrick: »Okay, Besserwisser, was mache ich mit einem Bronc mit gebrochenem Bein?«
»Was hast du mit einem Bronc-Reiter mit gebrochenen Beinen gemacht?«
»Du meinst das Kind aus Kaycee?«
»Dieses Kind aus Kaycee – Doc, du bringst mich um. Dieses Kind ist der Weltmeister beim Reiten von Wildpferden ohne Sattel. Chris Ledoux.«
»Er sagte nichts darüber, als er reinkam. Er sagte mir nur, dass er nächste Woche für einen weiteren Gips zurückkommen würde, weil er den, den ich ihm angelegt habe, für die«, Patrick machte eine Anführungszeichengebärde, »Arbeit abnehmen würde.«
»So ist Chris. Aber was hast du getan, bevor du ihm den Gips angelegt hast?«
Patrick schaute ihn ausdruckslos an. »Ist das eine Fangfrage?«
»Du hast es geröntgt, Doc. Also wirst du natürlich auch Mildreds Bein röntgen.«
Patrick seufzte und rieb sich die dünner werdende Stelle in seinem Haar, da er nicht anders konnte, egal wie oft Susanne ihm sagte, er solle damit aufhören. »Ich dachte, wir hätten festgelegt, dass Mildred nicht reinkommt.«
»Das tragbare Röntgengerät. Natürlich.«
»Und wenn es gebrochen ist?«
»Machen wir einen Gipsverband.« Wes hat das »natürlich« dieses Mal weggelassen, aber Patrick hörte es trotzdem.
»Werden wir, hm?«
»Ja, werden wir.«
»Ich habe noch nie ein Pferdebein eingegipst.« Und er bezweifelte, dass ein Behandlungsfehler dies umfasste.
»Ein Kinderspiel für einen alten Knochensäger wie dich.«
Immer wenn Wes dazu wechselte, Patrick »Knochensäger« anstatt »Doc« zu nennen, bedeutete das, dass er einen Gang runterschaltete. Er hatte Patrick Anfang des Sommers zu seinem Geburtstag ein 15 cm langes Taschenmesser geschenkt, in dessen Griff KNOCHENSÄGER eingeätzt waren, sowie eine Karte, die ihn anwies, »das Minnie-Maus-Anfängermesser wegzuwerfen und etwas Nützliches zu tragen.« Jetzt ging Patrick nirgendwo mehr ohne es hin. Nachts legte er es auf seinen Nachttisch, neben seine Brieftasche und Uhr. Das große Messer in die Tasche zu stecken war in Wyoming nur ein Teil des Ankleidens.
Patrick betätschelte seine Tasche und das Messer, dann schnaubte er. Kinderspiel. Richtig. Er fühlte sich von Sekunde zu Sekunde dümmer und weniger fähig. Er war nie ein Reiter gewesen, bis er vor zwei Jahren nach Wyoming gezogen ist. Aber er hatte genug gelernt, um ein in die Enge getriebenes Tier mit harten Hufen, großen Zähnen und einem starken Kiefer zu respektieren.
Als er sich an den Tritt erinnerte, den Mildred in seine Richtung geschickt hatte, fragte Patrick: »Haben wir eine Nasenbremse?« Er legte immer eine Nasenbremse an das Maul seines Pferdes Reno an, damit er den Hufschmied nicht beißen konnte. Es funktionierte ziemlich gut.
»Nö.« Wes grinste breit. »Der Trick wird sein, sich schnell zu bewegen und sich aus der Schusslinie zu halten.«
»Großartig.« Aber jetzt lächelte auch Patrick. Da er in Texas aufgewachsen war, dachte er, dass er den Westen kannte, aber Wyoming überwestete Texas um einiges. Ein Mann musste in der Lage sein, über sich selbst zu lachen, ansonsten wurde das Leben ziemlich schnell wirklich unlustig.
»Oder manche Leute heben gleichzeitig den gegenüberliegenden Fuß. Die meisten Pferde bleiben mit zwei Füßen weg vom Boden ziemlich ruhig.«
»Dann kannst du das hintere Ende haben. Ich wähle die Vorderseite.«
Wes lachte.
Zurück in der Notaufnahme setzten die beiden Männer ihre gutmütigen Sticheleien fort, während sie Zubehör und Ausrüstung zusammensammelten. Dann hörte Patrick einen Tumult im Empfangsbereich. Laute Stimmen, ein Klappern und ein Geräusch, als würde Fleisch auf Fleisch treffen.
Eine Frau rief mit aufgeregter Stimme: »Stopp.«
Patrick war aus der Tür des überfüllten Vorratsraums – und schlug dabei nur eine Reihe von Tablettenfläschchen aus dem Regal –, einen Schritt vor Wes, der ein tragbares Röntgengerät mit Rädern hinter sich herschleppte. Beim Empfang stürmten sie auf einen Mann mit der kleinen, muskulösen Statur eines Ringers in einer Uniform der Game-and-Fish-Behörde zu. Er hielt eine Frau mit dem Gesicht nach unten, einen Arm hinter ihr, sein Knie gegen ihren Rücken. Ihr Haar bedeckte die Seite ihres Gesichts, dämpfte jedoch ihre Stimme nicht. Die Frau fluchte, als ob sie es ernst meinte, fachmännisch und sehr abwechslungsreich. Das Leuchtstofflicht knisterte und blinkte, blitzte über die grauweißen Wände und Böden und die Stühle mit silbernen Armlehnen. Ein dünner Mann in einem Overall und eine rundliche Frau in einem lavendelgeblümten Hauskleid und Pantoffeln kauerten in der Ecke. Auf der gegenüberliegenden Seite der Lobby stand Kim, die diensthabende Schwester, zwischen Patrick und einem drahtigen jungen Mann in Wanderstiefeln, der sein rotes, pickliges Gesicht umklammerte.