Kapitel 1

2144 Words
1 GRACE „Sie stehen auf der falschen Seite des Gesetzes, Sheriff.“ Vaters Stimme drang bis zu der Stelle, wo ich mich ungefähr zehn Meter über ihnen auf dem Felsvorsprung versteckte. Seine Stimme war rau und tief, voll böser Absichten, als sie von den Felsen zurückgeworfen wurde. Seine Kleider waren alt und stellenweise zerrissen. Er war dreckig und aufgrund der heißen Sonne rannen Rinnsale aus Schweiß durch den Staub an seinem Hals. „Falsche Seite einer Pistole“, erwiderte Travis, der neben ihm stand und lachte. Dann spuckte er einen großen Schwall Kautabak auf den Dreck zu seinen Füßen. Ich musste nicht in seiner Nähe sein, um zu wissen, dass er bis zum Himmel stank. Selbst wenn der Bach hinter dem Haus Wasser geführt hätte, anstatt zu dieser Jahreszeit praktisch ausgetrocknet zu sein, würde das keine Rolle spielen. Dieser Mann weigerte sich schlicht und ergreifend, sich zu baden. Vater lachte selbstbewusst, weil er und mein Bruder, obgleich sie von einer zwei Mann Gruppe verfolgt worden waren, diejenigen waren, die ihre Waffen schwenkten. Es war, als würden sie auf der richtigen Seite des Gesetzes stehen und nicht Teil der berüchtigten Grove Gang sein, die gerade erst eine Bank in Simms ausgeraubt hatte. Ich schlängelte mich näher an den Rand des Vorsprungs. Das hohe Gras schützte mich vor den Blicken der anderen. Unter mir befand sich die Biegung des Bachlaufs, wo sich Vater und Travis in dem kleinen Wäldchen aus Pappeln, die das Ufer säumten, versteckt und darauf gewartet hatten, dass der Sheriff sie einholte. Dann waren sie aus dem Hinterhalt gesprungen. Die zwei Gesetzeshüter waren dazu gezwungen gewesen, abzusitzen und jetzt tranken ihre Pferde aus dem Wasser, völlig ahnungslos, dass das Leben ihrer Reiter in Gefahr war. „Sollen wir sie töten, Travis, oder vielleicht erschieß’n und für die Bussarde lieg’n lass’n?“ Vater würde es tun. Er war ein gemeiner, grausamer Mann, der einen Mann anschießen und einem langsamen, qualvollen Tod überlassen würde, bei dem er verblutete und allein mitten im Nirgendwo starb. Das wäre allerdings eine Schande. Die Männer, die mit erhobenen Händen dastanden und ihre Waffen auf den Boden vor ihren Füßen geworfen hatten, waren wirklich großartige Exemplare ihrer Gattung, die es wert waren zu leben. Die es wert waren, dass ich mir Zeit nahm, um sie genauer zu mustern, und das nicht, nachdem Vater ihre Bäuche mit Kugeln durchsiebt hatte. Von meinem Blickpunkt aus konnte ich den Blechstern auf der breiten Brust des Sheriffs mühelos sehen. Sein Hut schützte seine Augen vor der Sonne, weshalb ich nicht erkennen konnte, welche Farbe sie hatten. Aber er besaß dunkle Haare, die lockig unter dem Hut hervorquollen. Sein Mund war zu einem dünnen Strich und sein kantiger Kiefer fest zusammengepresst. Er war nicht glücklich. Obwohl sie von seinem engen Hemd und schmalen Hosen verborgen wurden, konnte ich erkennen, dass jeder Muskel seines Körpers angespannt war. Seine Hände hingen an seinen Seiten, seine langen Finger zuckten und krümmten sich. Es war, als wäre er bis in die Haarspitzen angespannt und würde nur auf den Moment warten, an dem er zuschlagen könnte. Würde er nicht mit einer Pistole in Schach gehalten werden, würden seine Größe und Gewicht ihn zu einem beeindruckenden Gegner machen. Ich war nicht klein, sondern sogar recht groß für eine Frau, aber ich schätzte, dass ich gerade mal bis zu seiner Nase reichen würde, allerhöchstens. Mein Vater und Bruder waren von kurzer Statur und schlank, was ihre Waffen zu ihren einzigen Druckmitteln in diesem Showdown machte. Während ich den Sheriff betrachtete, regte sich irgendetwas tief in mir. Wachte auf. Sorgte dafür, dass ich einen Mann mit anderen Augen betrachtete, mit den Augen einer Frau, die an einem Mann interessiert war. Die sich zu einem hingezogen fühlte. Warum er? Warum jetzt? Vor diesem Moment hatte ich nie auch nur den Anflug von Verlangen verspürt. Mein Herz hatte nie einen Schlag ausgesetzt, mein Atem war mir noch nie nur wegen einem kurzen Blick gestockt. Obgleich ich definitiv eine Frau war – meine fest abgebundenen Brüste bewiesen das – hatte ich mich nie wie eine verhalten. Nicht, da ich als die einzige Frau der Familie aufgewachsen war. Ich hatte mir nie vorgestellt, dass ich mich jemals wie eine verhalten würde… hübsche Kleider, Korsette, zierliche Sonnenhüte tragen würde, geschweige denn einen Mann wollen würde. Jeder, dem ich bisher begegnet war, war fies, störrisch und hässlich gewesen. War dieses plötzliche eifrige Interesse der Grund dafür, dass ich den Mann, der neben ihm stand, gleichermaßen attraktiv fand? Ich hatte noch nie zuvor einen Mann mit roten Haaren erblickt. Er trug keinen Hut, weshalb sich die dunklen rostroten Locken kräuselten und ihm auf verwegene Weise in die Stirn fielen. Selbst aus der Entfernung, die zwischen uns bestand, konnte ich seine grünen Augen nicht übersehen. Sie hatten die gleiche Farbe wie das Gras, auf dem ich momentan lag. Er machte keinen verängstigten oder panischen Eindruck. Er wirkte… stinkwütend. Seine Wut auf meinen Vater und Bruder war offenkundig. Ich kroch ein Stückchen näher an den Rand, das weiche Gras unter mir war wie ein Kissen, und zog meine Pistole neben mich. Gaffte. Vielleicht blieb ich in einer solch brenzligen Situation so ruhig und musterte das gut aussehende Duo, weil ich an Vaters Drohungen und Bösartigkeit gewöhnt war. Grundgütiger. Sie waren männlich. Intensiv. Beeindruckend, obwohl ich sie nur entlang des Laufs einer Pistole anstarrte. Vater und Travis fühlten sich wie Männer, wenn sie mit ihren Pistolen herumfuchtelten. Sie brauchten Waffen, damit sie Macht hatten. Die anderen zwei… sie strahlten sie auf natürliche Art aus. Zu wissen, dass sie hinter einem Teil der Grove Gang her und erpicht darauf waren, diese der Gerechtigkeit zu überführen, vergrößerte ihre Attraktivität nur noch. Sie waren nicht wie meine Familie. Sie waren besser. Mehr. Und das war der Grund, dass ich sie noch faszinierender fand. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich mit den Händen über einen Mann streicheln. Zwei Männer. Ich wollte ihre harten Körper fühlen, ihre Kiefer mit meiner Hand umfangen und das Kratzen ihrer Bartstoppeln spüren. Ich wollte mich klein und weiblich fühlen. Ich wollte fühlen. Bei ihnen, das wusste ich, würde ich das. Doch sie würden nicht so passiv bleiben, wie sie das jetzt waren. Sie würden sich nehmen, was sie von mir wollten. Diese Vorstellung war schrecklich falsch, da Vater genau das machte. Oh, nicht auf die gleiche Art, aber er nahm. Und nahm. Vater – und Travis ebenfalls – gestalteten mein Leben absolut unerträglich. Ich kochte und putzte wie eine Dienerin. Sklavin traf es besser, da ich für meine Bemühungen nie bezahlt wurde. Wenn Vater sich dem Alkohol zuwandte, versteckte mich, da ich schnell herausgefunden hatte, dass er gerne jeglichen Zorn an mir ausließ. Travis beschützte mich nie, sondern sagte mir nur, dass ich es verdient hätte. Dass ich nur eine nutzlose Frau wäre. Ihre Kontrolle über mich sorgte dafür, dass ich ständig zwischen der richtigen und falschen Seite des Gesetzes hin und her hüpfte. Ich hatte kein einziges der Verbrechen begangen, für die mein Familienname berüchtigt war, aber ich war definitiv schuldig durch Komplizenschaft. Ich hätte jederzeit zum Sheriff gehen und sie anschwärzen können. Ich hätte dem Sheriff ganz genau sagen können, wo sie zu finden waren, wann ihr nächster Überfall stattfinden würde. Doch das hatte ich nicht getan, nicht ein Mal, weil ich um mein Leben gefürchtet hatte. Vater war kein Mann, der Umarmungen verteilte. Nein, er war ein Mann, der Schläge verteilte. Und dann hatte er herausgefunden, wie eine bloße Frau von Wert sein konnte. Die einzige Weise, auf die eine Frau seiner Meinung nach von Wert sein konnte. Das Arschloch. Deswegen war ich jetzt hier. Die Gesetzeshüter waren nicht die Einzigen, die nach Vergeltung sannen. „Geben Sie auf, Grove“, verlangte der Sheriff. Seine Stimme war so scharf wie eine Messerklinge. Vater und Travis lachten, da sie sich in diesem Moment eindeutig für diejenigen hielten, die die Kontrolle hatten, die die Macht innehatten, und dass es an ihnen lag, die Leben der zwei Männer auszulöschen, wenn ihnen der Sinn danach stand. „Sie sind nicht in der Position, irgendwelche Drohungen auszusprechen, Sheriff“, verkündete Travis. „Wir sind diejenigen, die Pistolen in der Hand halten.“ Sie waren aber nicht die Einzigen. Geduckt brachte ich meine Waffe vor mir in Stellung und zielte. Im Umgang mit meinem Gewehr war ich geübter, aber der Colt, den ich Barton Finch abgenommen hatte, würde auch seinen Zweck erfüllen. Rückblickend hätte ich ihn damit erschießen sollen. Ein dummer Fehler meinerseits, dass ich ihn am Leben gelassen hatte nach dem, was er beabsichtigt hatte. Ich war so wütend auf Vater gewesen, dass ich einfach davongestürmt war. Ihn und Travis aufgespürt hatte. Ich hatte lange Zeit davon geträumt, diejenigen umzubringen, die von meiner Familie noch übrig waren. Nachts hatte ich im Bett gelegen und mir vorgestellt, wie ich es tun würde. Hatte mich danach gesehnt, endlich frei von ihnen zu sein. Vater hatte meinen Brüdern beigebracht, wie man schoss, und mir den Gefallen getan, mir zu erlauben, neben ihnen zu üben. Vermutlich hatte er sich jedoch selbst in seinen kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass ich jemals die Pistole auf ihn richten würde. Und abdrücken würde. Ich hatte einen solchen Hass auf sie, dass es förmlich in mir brodelte. In meinen Adern mochte zwar das gleiche Blut fließen und ich lebte in dem gleichen heruntergekommenen Haus, aber ich war kein bisschen wie sie. Meine finsteren Gedanken waren allein auf sie gerichtet, niemanden sonst. Ich wollte niemandem sonst ein Leid zufügen. Ich würde nicht zulassen, dass sie zwei unschuldige Männer töteten. Männer, die nur ihren Job machten und versuchten, den Frieden zu wahren. Die versuchten, der Gerechtigkeit Genüge zu tun. „Zeit, Ihrem Schöpfer zu begegnen, Sheriff.“ Vater spannte den Hahn seiner Pistole. Genauso wie ich. Und ich schoss zuerst. Der laute Knall ließ den Sheriff zusammenzucken, doch es war Vater, der zu Boden ging. „Das ist dafür, dass du mich Barton Finch gegeben hast“, flüsterte ich, während ich Vater beobachtete, der sich auf dem Boden hin und her warf und seine Hand auf das Einschussloch in seinem Schenkel presste. Blut quoll unter seinen Fingern hervor. Er schrie schmerzerfüllt auf, fluchte und blickte suchend in die Richtung, aus der der Schuss gekommen war. Ich nutzte den Moment, in dem Travis auf ihn hinabstarrte, verblüfft und verwirrt, was gerade geschehen war, um noch einmal den Hahn meiner Pistole zu spannen. Es war nicht schwer, auf ihn zu zielen; Travis war ein unbewegliches Ziel, viel größer als eine der leeren Whiskeyflaschen, an die ich gewöhnt war. Ich schoss. Er fiel dort nieder, wo er stand. „Und das, Travis, ist dafür, dass du ein Arschloch bist.“ Der Sheriff und der andere Mann gingen instinktiv in die Hocke in dem Versuch, sich kleiner zu machen, liefen aber dennoch zu Vater und Travis, denen sie die Waffen abnahmen, damit sie keine Bedrohung mehr darstellten. Ich hatte sie nicht getötet, aber es bestand jetzt auch keine Chance mehr, dass Vater oder Travis die anderen Männer verletzen würden. Ihr Leben zu beenden wäre zu gut für sie, zu einfach. Ich hatte sie genau so angeschossen, wie sie es mit dem Sheriff und dem anderen Mann gemacht hätten. Doch anders als meine Familie hatte ich mich vergewissert, nur Wunden zuzufügen, die überlebt werden konnten, wenn man sich zeitnah um sie kümmerte. Wir waren einige Meilen von Simms entfernt. Der Sheriff könnte ihre blutenden Körper zurück in die Stadt schleifen, damit sich der Arzt um sie kümmerte und man sie anschließend hängen konnte. Oder er könnte sie auch einfach hier verrotten lassen. Es war seine Entscheidung. Egal, welche er treffen würde, ich war damit einverstanden. Nachdem sie die Waffen hinten in ihre Hosen gesteckt hatten, hoben der Sheriff und der andere Mann ihre eigenen Pistolen auf und wirbelten herum, um in meine Richtung zu zielen. Ihre Blicke glitten einmal den Rand des Felsvorsprungs entlang auf der Suche nach dem Schützen. Nach mir. Vielleicht war ich ja so grausam wie mein Vater, weil ich ihn und Travis liegen und leiden lassen würde, aber nach dem, was er mir angetan hatte? Nachdem er mich heute Morgen Barton Finch gegeben hatte, hatte ich keine Gnade mehr in mir. Ich war einer Vergewaltigung entkommen. Gerade so. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, dass ich meine Rache so schnell bekommen würde. Jetzt hatte ich sie. Ich stand auf und richtete meinen Hut. Anschließend blickte ich ein letztes Mal hinab auf die Szene, ein Lächeln im Gesicht, als ich Vater und Travis leiden und sich hin und her werfen sah. f**k, ich hätte Barton Finch erledigen sollen, als ich die Gelegenheit dazu gehabt hatte. Dann wären jetzt alle Mitglieder der Grove Gang entweder tot oder würden bald hängen. Als mich die zwei anderen Männer sahen, starrte ich sie einen kurzen Moment an und fragte mich, wie es wohl wäre, zu ihnen zu gehören, obwohl ich wusste, dass es nie geschehen würde. Zwei Männer wollten nicht eine Frau und ich verhielt mich obendrein kaum wie eine. Ich besaß nicht einmal ein Kleid. Meine Haare waren lang und wild, immer zu einem Zopf geflochten und unter meinen Hut gesteckt, damit sie mir nicht im Weg waren. Wenn das nicht abschreckend genug war, dann gab es noch immer eine Sache, die sogar schlimmer war. Ich war eine Grove.
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