2. Kapitel
Unbekanntes Volk der Steppe Teil 3
An Bord zurückgekehrt, verteilten sich die Wissenschaftler auf ihre Labore, um die Proben auszuwerten. Auch die Kommunikationsfachfrau machte sich an die Arbeit, sie hatte Teile der Gespräche aufgenommen und wollte versuchen, die Wörter zu entschlüsseln.
„So weit, so gut“, brummte Frau Kapitän, als nur noch sie und Balthasar im Transporter-Raum standen. „Abmarsch zu Doc. und zwar dalli!“ Damit meinte sie die Oberärztin Bianca. Er nickte brav und trollte sich. Carol überlegte, was sie nun tun sollte. Soll ich auf meine Kabine gehen? Doch schon wurde ihr die Entscheidung abgenommen, denn Laura kam hereingestürzt.
„Kapitän! Kapitän!“, rief sie ganz aufgeregt. „Ein Gespräch für dich! Der Vorsitzende des Rates des Bundes der geeinten Planetensysteme und Völker möchte dich sprechen! Gerne privat!“
Carol verzog das Gesicht. Dieser Herr war nicht nur ein hohes Tier und hatte viel zu sagen und zu entscheiden, nein, zu allem Überfluss war er auch noch ihr Vater.
„Wir sitzen alle in einem Schiff. Privat gibt es nicht“, entschied sie, „was er mir in seiner Funktion als Vorsitzender zu sagen hat, das kann auch die Mannschaft erfahren.“
Laura nickte, sie wusste, dass Carol und ihr Vater sich nicht gut verstanden, auch wenn sie den Grund dafür bisher nicht erfahren hatte. Unverzüglich machten sich die beiden Frauen auf den Weg und kurz darauf saßen sie an ihren Plätzen im Cockpit. Laura sah Carol fragend an, diese nickte. Also drückte Laura ein paar Knöpfe und auf einem Bildschirm erschien ein Gentleman in einem noblen Büro. Er hatte blaue Augen, grüne Haare und einen gepflegten Spitzbart. Seinerseits konnte er Carol sehen und dass sie sich nicht auf ihrer Kabine, sondern im Cockpit befand.
„Eigentlich wollte ich ein privates Gespräch“, begann er.
Carol runzelte die Stirn. „Rufst du mich als Vater an oder als Auftraggeber? Schließlich war die Reise der Lenticularis deine Idee.“
Ihr Vater erwiderte nichts darauf stattdessen fragte er: „Können wir auf deiner Kabine weitersprechen? Es ist etwas Privates.“
Aber Carol war nicht darauf erpicht, ein Gespräch unter vier Augen mit ihrem verhassten Vater zu führen. Sie wollte sich nicht schon wieder irgendwelche Predigten von ihm anhören, denn sie hatte endgültig genug. Ihr Vater hatte längst seinen Familien-Bonus verspielt.
„Ich bin mir sicher, dass es nicht so privat ist, dass meine Mannschaft es nicht hören darf.“
„Also gut. Ganz wie du meinst. Ich wollte dich lediglich informieren. Es betrifft dich persönlich und wird dich sicher brennend interessieren.“ Dabei sah er sehr verkniffen aus, fast als würde eine Wut in ihm kochen, die er nicht herauslassen konnte. Carol gefiel das irgendwie. Offenbar war ihr Vater sehr verärgert, gekränkt oder verletzt. Als hätte man ihn seiner Ehre, seiner Überlegenheit, seiner Vormündigkeit beraubt. So hatte sie ihn noch nie gesehen, er schien vor Wut gleich zu platzen. Sie badete regelrecht in diesem Anblick. Ihre Neugier war geschürt. Ist er vom Vorstand abgesetzt worden?
Herr Thunderstorm räusperte sich. „Nun ja. Es ist folgendes geschehen: Er ist weg.“
Carol stutzte. „Wie meinen?“
„Weg!“, knurrte ihr Vater wie ein eifersüchtiger Ehemann, dem die Frau davongelaufen war. Doch das war unmöglich, er war nicht leiert. Vor Jahren war seine Frau, Carols Mutter, verstorben. Danach hatte es keine Dame mehr mit ihm ausgehalten … jedenfalls nicht lange. Dafür war er zu herrschsüchtig.
Carol sah verwundert aus und die Crew verstand nur Bahnhof, blieb aber stumm. Einen Moment lang herrschte Schweigen, dann breitete sich ein Grinsen, wie das des totalen Sieges, über Carols Gesicht aus. „Weg?“, wiederholte sie, als würde sie es kaum fassen können.
„Ja“, schnaufte ihr Vater mit einer Mine, als habe er gleich auf eine ganze Armada von Salzzitronen gebissen, „weg. Gestern in der Nacht hat er sich davongestohlen. Ich bemerkte es erst am nächsten Morgen, als er nicht an seinem Schreibtisch saß. Ich sah nach und musste feststellen, dass er fort ist, mit all seiner Habe und nicht nur das, diese kleine Kröte hat auch meinen Raumflitzer gestohlen! Das neueste Modell, fast so schnell wie dein Raumschiff und mit den besten Waffen zu meiner Sicherheit ausgerüstet! Damit wollte ich zum Kongress fliegen!“
Carol sah ihn einen Moment fast mitleidsvoll an, dann brach sie in schallendes Gelächter aus. Wäre sie nicht seine Tochter, hätte dies wohl ihren Job gekostet.
Herr Thunderstorm schnaubte und Carol beruhigte sich wieder, das Grinsen aber blieb, „Sieh einmal an, hat er es endlich geschafft sich von deiner Knute zu befreien. Nun ist er raus aus dem goldenen Käfig. Jetzt hast du keine Kontrolle mehr über ihn und wirst dir einen anderen Bürohengst suchen müssen, der deine Akten sortiert, deine Villa putzt oder kocht für Kost und Logis. Pech gehabt, Daddy. Du weißt gar nicht, wie sehr ich mich für ihn freue. Ich wusste, dass er es eines Tages ganz allein schafft.“
Ihr Vater verzog das Gesicht. „Ach ja? Wenn das so ist, dann sage ich dir nur eines. Du kennst ihn und du weißt, wie er ist und eines flüstere ich dir, das Einzige, was dieser Dummkopf da draußen finden wird, ist der Tod. Mehr nicht, er hat sich selbst den Kopfschuss angesetzt.“
Carol verzog grimmig das Gesicht. „Er ist kein kleines Kind mehr und erwachsen geworden, auch wenn du es nicht wahrhaben willst. Er wird nicht sterben, denn er ist viel stärker, als du glaubst.“ Sie machte eine Handbewegung und Laura verstand, sie kappte die Verbindung. Der Vorsitzende hatte noch etwas sagen wollen, doch Carol wollte es gar nicht wissen, die Angelegenheit war für sie beendet.
Fragend sah Laura zu ihr, alle anderen wagten es nicht, etwas zu bemerken. Nur Laura konnte es sich erlauben, sie war des Kapitäns beste Freundin.
„Von wem oder was habt ihr gesprochen? Ich verstehe nicht ganz…“
Carol sah sie durchdringend an. „Warte es ab. Ich bin mir sicher, irgendwann wirst du ihn kennen lernen. Dieser Junge ist nicht auf den Kopf gefallen, so wie Vater denkt.“
Mit diesen rätselhaften Worten erhob sie sich, ging in ihre Kabine, gefolgt von Min, um sich für das Abendessen fein zu machen. Min leistete ihr Gesellschaft, während ihr Frauchen ihren violetten Lidschatten nachzog, beguckte sich die Fuka ihre weiße Gesichtsmaske und ihre zierliche Stupsnase im Spiegel.
Später im Speisesaal tuschelte die ganze Crew hinter vorgehaltener Hand über das seltsame Gespräch zwischen dem Kapitän und dem Vorsitzenden des Rates. Die Neuigkeit hatte wie ein Lauffeuer die Runde gemacht. Als allerdings der Kapitän eintraf, sprachen sie schleunigst über etwas anderes.
Carol setzte sich an ihren Stammtisch. Dort saßen bereits Laura, Albert und Karl, der Unmengen von Speisen vor sich aufgestapelt hatte, als hätte er Angst, später nichts mehr zu bekommen. Unter anderem türmte sich auf einem Teller ein ganzer Berg von unterschiedlich belegten Flammkuchen, die er erst rollte und sich unter dem Johlen von Laura in Rekordzeit in den Rachen schob.
Albert sah ungerührt von dem Spektakel zu Carol. „Vergiss nicht. Mein Angebot gilt weiter. Wann immer du jemandem zum Reden brauchst, besuche mich.“
Fräulein Thunderstorm nickte, ging aber nicht weiter darauf ein. Sie tat alles, um von dem Gespräch abzulenken. Also bat sie Albert, ihr zu sagen, was er für den nächsten Auftrag vorausahnte. Auf einem nicht allzu weit entfernten Planeten war das Komitee mit dem dortigen Königshaus verabredet. Die Visite war schon lange angekündigt und Carol wollte in Erfahrung bringen, ob dieses Volk noch immer so erpicht darauf war, in den Bund einzutreten, wie noch vor einiger Zeit. Zu ihrem Glück hatte Albert bereits eine Vision ereilt.
„Das Volk der gelben Fuuhs steht hinter seinem Herrscher“, erklärte er, „das habe ich zumindest klar gesehen und es gibt keinerlei Anzeichen, dass dieser seine Meinung geändert hat. Ich glaube, auch diese Verhandlung wird erfolgreich sein.“
„Fuuhs?“, schmatze Karl mit vollem Mund. „Komischer Name!“
Carol seufzte: „Hast du noch mehr gesehen?“
„Nichts, das zu diesem Thema gehört.“
Nun horchte Carol auf, während Karl sich wie Bolle amüsierte und an seinem Flammkuchenstapel arbeitete. Es wurden schon heimlich Wetten darauf abgeschlossen, ob er es schaffte – oder vorher platzte.
„Was hast du gesehen?“
Doch Albert schwieg. Carol runzelte die Stirn und Karl posaunte:
„He! Albert! Kannst du nicht auch mir etwas voraussagen?“
Albert überlegte, „Du wirst auch in Zukunft deinen guten Appetit nicht verlieren.“
Karl grinste wie ein Honigkuchenpferd. „Was für eine Neuigkeit!“ Daraufhin musste er sich gleich noch einen Nachschlag für seinen Dessertmagen besorgen, also watschelte er zielstrebig los. Zwischen den anderen Crewmitgliedern wirkte er wie ein verlorener Zwerg mit dem Appetit eines Titanen.
Laura aß inzwischen auch eine Kleinigkeit, während sie ungeduldig zur Tür blickte.
„Wo bleibt dieser grüne Hornochse nur?“, fragte sie sich.
Jeder am Tisch wusste sofort, von wem sie sprach. So nett redete sie immer von Balthasar. Die beiden waren sich zum ersten Mal auf dem Schiff begegnet. Theoretisch hätten sie sich auch früher schon treffen können, denn die Planeten, von denen sie stammten, befanden sich im gleichen Sonnensystem und nicht nur das, die Spezies, denen sie angehörten, waren auch noch verwandt wie Windhunde und Neufundländer. Äußerlich ähnelten sie sich aber nur bedingt. Die beiden Völker hatten einst auf demselben Planeten gelebt und waren aus denselben Vorfahren hervorgegangen. Irgendwann war das Volk der Dorsanen auf einen anderen Planeten ausgewandert. Nicht, weil sie sich mit Lauras Volk nicht vertrugen, sondern aus Platzgründen. Die Dorsanen und die Zilas verband dennoch eine Völkerfreundschaft, Laura und Balthasar waren der lebende Beweis dafür.
Ungeduldig fuhr sich Laura durch die langen blonden Haare, von denen sie ein paar dünne Strähnen grün gefärbt hatte. Für den Abend hatte sie sich extra ein hübsches Kleid angezogen, ihre obligatorische Strickmütze passte nur bedingt dazu. Endlich ging die Tür zum Speisesaal auf und Balthasar trat herein, gefolgt von der lächelnden Ärztin Bianca. Laura blieb der Mund offenstehen.
„Was hat dieser Trottel denn nun schon wieder angestellt?“, fragte sie schockiert.
Balthasar hatte nämlich überall Pflaster, Verbände und ein Fingerknochen war gebrochen und daher eingegipst. Mit knurrendem Magen setzte er sich zu Laura, sie war noch immer fassungslos. „Wo hast du dich herumgetrieben? Du siehst schrecklich aus!“
„Danke“, murmelte Balthasar mit Musauge und erzählte ihr die Geschichte mit dem großen bösen Wolf – und seinen vier Kumpanen.
Karl kam inzwischen mit seinem Nachschlag wieder. Bianca war nicht zimperlich, nahm ihm die Teller weg, stellte einen dem Kapitän vor die Nase, einen sich und einen vor Balthasar. Dann schickte sie Karl erneut los. Murrend verschwand der und bediente sich abermals am Buffet. Nun bekam auch Albert seine Portion, den letzten Teller aber verteidigte Karl mit aller Macht, beinahe hätte er noch angefangen zu bellen.
„Sitz! Platz! Aus! Pfui!“, zischte Carol und Karl knurrte neckisch. Noch einmal wollte er nicht zum Buffet latschen oder zu der Theke, an der man warme Gerichte servierte. „Wir sind hier nicht bei den wilden Hundsnasen!“
Beleidigt raffe Karl seine blauviolette Alltagskutte, nun aßen erst einmal alle schweigend. Die Mehrheit holte sich noch einen Nachschlag und Karlchen plünderte die Dessertauswahl. Die Köche sahen ihm kopfschüttelnd nach, ein Smutje tippte sich an die Schläfe, „Du meine Güte! Wie kann man nur so viel essen, obwohl man so klein ist?“ Die Köche wussten nur eines mit Bestimmtheit – irgendwann fraß dieser Kerl ihnen noch die Haare vom Kopf!
„Albert“, nuschelte Carol, nachdem sie nicht einmal die halbe Portion gegessen hatte und den Rest Karl zuschob, „du hast noch mehr gesehen. Sag mir die Wahrheit.“
„Es ist nicht gut, immer alles vorher zu wissen, du wirst es sehen, wenn es so weit ist. Nur ein Tipp: Halte stets gut die Augen offen. Das Unerwartete trifft man oft, wo man es am wenigsten vermutet.“ Carol wusste, dass sie nicht mehr aus ihm herausbekommen würde, also versuchte sie es erst gar nicht.
Nach dem Dinner überlegten alle gemeinsam, wie man den Feierabend gestalten sollte. Karl machte den besten Vorschlag. Heute war Kinotag. Also spazierten sie zum Kinoraum, viel los war dort allerdings nicht. Die anderen Crewmitglieder schienen auf den Kabinen zu sein, im Schwimmbad, im Fitnessraum, in der Sauna oder anderswo.
Carol gefiel die Vorstellung einer Privatvorführung. An der Tür reichte ein Roboter jeden eine kleine Tüte mit Popcorn. Carol hatte keinen Appetit und drückte ihre Tüte Karlchen in die Hand. Die ersten zehn Minuten des 4-D-Films wurden übertönt von lautem Geknusper, was aber nicht sonderlich störte. Laura hatte sich schon nach fünf Minuten an Balthasars Schulter angelehnt und war eingenickt, Balthasar selbst hörte dem Film mit halbem Ohr zu. Er kannte ihn schon. Bianka knabberte ihr Popcorn und der Kapitän saß daneben, mit Min auf dem Schoß und kraulte diese hinter dem Ohr. Sie schliefen auch bald ein, genau wie Balthasar. Nur Bianka und Karlchen hielten durch, das lag wahrscheinlich an dem Zucker des süßen Popcorns, der machte die beiden munter. Der Film selbst war sterbenslangweilig, da nutzte es wenig, dass man sich beim 4-D-Kino praktisch mitten im Film befand. Bianca war von der Liebesgeschichte als Einzige ergriffen und Karl schwärmte später noch lange von dem Hochzeitsbuffet, das man hatte sehen können – es war zum Greifen nahe gewesen. Carol gähnte, als man sie weckte, weil der Film vorbei war. Viel hatte sie nicht verpasst und so verabschiedete sie sich von den anderen und ging in ihre Kabine. Min folgte ihr. Morgen würde wieder ein anstrengender Tag vor ihnen liegen, vor allem für das Komitee.