KAPITEL II

1663 Words
KAPITEL II DER ARBEITSUNFALL Ende Juli. Auf der Baustelle war es heiß. Zu heiß. Glitzernde Schweißtropfen rannen den Arbeitern über die sonnengebräunten Rücken, über die Stirn in die brennenden Augen. Die Mittagspause war gerade zu Ende gegangen, ein Sandwich und ein Bier im Schatten vorgefertigten Betonrohre, die einen Hauch von Frische übertrugen. Die Luft stand still, auch wenn überall Arbeiter beschäftigt waren, das gelegentliche Knacken des Presslufthammers brach eine fast unnatürliche Stille. Franco Amore war technischer Berater für eine Firma im Bereich der Fenstermontage, und sein Leben floss in absoluter Ruhe dahin, ohne bedeutungsvolle Hochs und Tiefs. Er hatte eine junge Frau und viele Zukunftspläne, und er liebte es, mit den beiden Kindern zu spielen. Er glaubte an das Gute und an die Liebe, an die Macht der Träume und der Fantasie. Für ihn waren sie sehr wichtig, er war überzeugt, dass einzig die Liebe einen Menschen wirklich frei macht, ihm erlaubt, sich selbst zu sein und seine Leidenschaften auszuleben. Und er hatte vor allem eine Leidenschaft: das Joggen. Er liebte es, barfuß im Sand und im Gras zu laufen, denn der Kontakt mit dem weichen Boden gab ihm das Gefühl, Teil dieser manchmal unverständlichen Welt, die sich um ihn dreht, zu sein. Der Morgenduft nach salziger Luft oder feuchtem Gras waren für ihn genauso berauschend wie ein gutes Glas Wein in guter Gesellschaft. Wie jeden Tag stand Franco auf dem Gerüst und überprüfte, ob die Arbeit nach den gegebenen Anweisungen verlief, aber an diesem Nachmittag lag etwas Seltsames in der Luft: scheinbar hat die glühende Sonne die schmutzigen Zementlatten zu sehr ausgetrocknet und die unschuldigen, rostigen Rohre des Gerüstes, die mit polierten Messingbolzen zusammengehalten wurden, waren heißer als üblich. In nur wenigen Tagen werde ich endlich am Meer sein. Ich fühle mich so seltsam, anders als sonst, wahrscheinlich wegen dieser erbarmungslosen Hitze, aber ich muss es durchstehen, überlegte er sich, um Kraft zu schöpfen, doch kaum hatte er diesen Gedanken gefasst, wurde ihm schwindlig. Ein Fehltritt und er stürzte vom Gerüst. «Habt ihr alles eingepackt?» fragte Franco den älteren Sohn, während er ihm beim laden des Wagens behilflich war. «Keine Angst» mischte sich seine Frau Silvia ein, «wir haben alles mindestens ein Dutzend mal kontrolliert. Es ist alles in Ordnung, es kann losgehen» «Warum trödelt ihr denn noch? Ich möchte nicht, dass ihr im Dunkeln noch unterwegs seid!» tadelte Franco sie. Sie schaute weg und seufzte. «Wir möchten dich hier nicht alleine zurücklassen, du wirst dich zu Tode langweilen» meinte sie leicht besorgt, die Kinder nickten zustimmend. «Ach wo, ich werde schon etwas erfinden, da könnt ihr euch sicher sein! Ich möchte diese Tage nutzen, um mich endlich auszuruhen, in letzter Zeit war die Arbeit wirklich sehr anstrengend» antwortete er, bemerkte allerdings, dass er sie mit seiner Antwort keineswegs überzeugt hatte. Dann grabschte er ein Fischernetz aus dem Kofferraum und mimte den Gang eines alten Mannes mit Stock. «Ich werde es schon irgendwie schaffen, auch wenn ich noch krank bin, bin ich noch lange nicht reif fürs Altersheim» und endlich mussten die Kinder lachen. «Nun kommt schon, steigt ins Auto und fahrt los!» «Pass auf dich auf und streng dich bloß nicht zu sehr an, denk daran, was der Arzt dir gesagt hat» wiederholte Sissi zum hundertsten Mal. «Mach dir keine Sorgen. Sobald ich die Untersuchungsergebnisse habe, nehme ich den ersten Zug und fahre euch nach.» «Kommst du wirklich?» fragte Giorgio, der jüngere Sohn. «Klar! Vergnügt euch und seid brav mit eurer Mutter, aber vor allem, macht euch keine Sorgen um mich», gab Franco zur Antwort. Dann wandte er sich erneut seiner Frau zu. «Das gleich gilt auch für dich, pass bloß auf, dass du mir am Meer nicht zu viele Eroberungen machst. Fahre vorsichtig und rufe mich an, sobald du ankommst.» Ein Kuss durchs Autofenster, ein Augenzwinkern und weg. Nachdem er ihnen bis zur Kurve nachgeschaut hatte, kehrte Franco ins Haus zurück. Nun also, zu essen und zu trinken ist vorhanden, Bücher und Zeitungen auch. Der Kühlschrank ist voll und die Batterien der Fernsehfernbedienung sind neu.. das reicht für eine Weile. Ab und zu tut es ganz gut, ein wenig allein zu sein, wer weiß, wann ich je wieder Gelegenheit dazu habe, sagte sich Franco überzeugt, wobei er sich bemühte, den positiven Aspekt an der Situation zu finden. Aber trotz all seiner guten Absichten wusste er nicht mehr, was es bedeutete, einen ganzen Tag zu verbringen, ohne mit jemandem ein Wort wechseln zu können. Und obwohl er es sich nicht eigestehen wollte, erschreckte es ihn ein wenig. Genau wie er befürchtet hatte, begann schon nach nur zwei Tagen die Langweile an ihm zu nagen. Er hatte es satt, Zeitschriften zu lesen und vom Fernsehen hatte er auch längst genug. Er war ein aktiver Mann und war es nicht gewohnt, zu Hause zu hocken, insbesondere wenn ihn jemand oder etwas dazu gezwungen hatte. Mehr als einmal war er versucht, sich in Sportkleidung zu werfen und joggen zu gehen, aber die Ärzte hatten ihm dringend davon abgeraten, und so verzichtete er darauf, wenn auch widerwillig. Er versuchte mehrere Freunde anzurufen, erfolglos, denn im Hochsommer hat sich die Stadt in eine große Wüste verwandelt. Die Einsamkeit wurde langsam aber sicher schwer und erdrückend. Nachdem er einen weiteren Tag dösend vor dem Fernseher verbracht hatte, ging er eines Abends in den Keller und stellte ihn auf den Kopf, in der Hoffnung irgendetwas Brauchbares für den Zeitvertreib zu finden. Plötzlich bemerkte er unter einem Tuch aus violettem Samt eine Schreibmaschine, halb versteckt in einer niedrigen Ecke eines Regals hinter einem Haufen nutzloser Dinge. Sie war voller Staub und sie war so alt, dass die Buschstaben auf den Tasten kaum noch zu erkennen waren. So alt wie die ist, die muss wohl wertvoll sein. Wer weiß, wie sie in diesen Keller gelangt ist, vielleicht war sie ja schon da, als wir das Haus gekauft haben ... ob sie wohl noch funktioniert? Glücklich, endlich etwas Interessantes entdeckt zu haben, mit dem er sich beschäftigen konnte, begann er die Maschine am nächsten Tag auseinanderzunehmen und verbrachte den ganzen Tag mit Reinigen, Polieren und Einölen. Nachdem er sie wieder montiert hatte, betrachtete und bewunderte er das Ergebnis seiner Arbeit. Sie ist wirklich schön, sie hat den Geruch antiker Dinge dachte er zufrieden. Er stellte sich einen Schriftsteller an einem Schreibtisch sitzend und ein Haus auf den Klippen über dem Meer vor, oder vielleicht einen einsamen Leuchtturm auf einem Felsen mitten im Meer, Kormorane und Kerzenlicht, das Geräusch der Brandung. Wer weiß, welche fantastischen Geschichten mit diesem Ding geschrieben worden sind. Jetzt, da sie wieder wie neu ist, brauche ich sie nur zu testen, zum Glück habe ich auch die Bänder mit der Druckerschwärze in gutem Zustand gefunden. Er legte ein weißes Blatt Papier ein und vergewisserte sich, ob alle Tasten funktionstüchtig waren. Befriedigt zündete er sich eine Zigarette an und nahm eine Dose Bier aus dem Kühlschrank, dann legte er sich in den Liegestuhl auf der Terrasse. Ich habe wirklich gute Arbeit geleistet, aber leider ist der Spaß schon vorbei. Ich werde mich schnell nach einem anderen Zeitvertreib umschauen müssen, sonst werde ich hier noch verschimmeln überlegte er beinahe besorgt, während er die kühle Abendluft genoss. Durch die Gitterstäbe des rostigen Geländers beobachtete er die Kinder, die unten in den Gärten herumrannten und nach Glühwürmchen schnappten. Er ließ den Blick über die Häuser, die dunklen Fenster, die flüchtigen Schatten der Fledermäuse schweifen. Schließlich starrte er in den Sternenhimmel, während das Zirpen der Grillen, begleitet vom Duft frisch blühender Rosen, bis zu ihm emporstieg. Was soll ich nur machen? Ich schlafe schlecht und wenig, die Tage werden immer endloser, ich werde morgen darüber nachdenken, jetzt ist es Zeit zu schlafen. In seinen Gedanken versunken kehrte er in die Wohnung zurück, um sich in sein Schlafzimmer zurückzuziehen, als er aber im Wohnzimmer an der Schreibmaschine vorbei kam, die er auf dem Schreibtisch zur Schau gestellt hatte, blieb er stehen. «Verdammt, was zum Teufel geht hier vor?» schreit der Feuerwehrmann in sein Funkgerät, während er auf seine Kollegen herabschaut. Die Leiter war plötzlich stehengeblieben und schwankte heftig, wäre er nicht angeschnallt gewesen, hätte ihn der Gegenruck heruntergeworfen. «Wir haben ein Problem.. der Sicherheitsgurt dreht sich im Leerlauf, weil sich ein Flaschenzug gelöst hat, ich brauche ein paar Minuten, um ihn wieder festzuziehen und die Muttern anzuschrauben» antwortet ihm eine verwirrte Stimme aus dem krächzenden Funkgerät. «Ein paar Minuten? Ich habe keine paar Minuten, verdammt! Wenn ich diesen Mann nicht sofort erreiche, wird er sich herunterstürzen. Der hat den Blick eines Verrückten und schreit, um mich wegzujagen. Es scheint ihm völlig egal zu sein, da herunterzufallen. Beeile dich und haltet das Sprungtuch bereit!» «Das Sprungtuch ist nicht da! Du hast es gestern zur Wartung geschickt, hast du das vergessen?» antwortet die Stimme im Funkgerät. «Und keiner hat daran gedacht, das Ersatzsprungtuch zu laden?» fragte der Kommandant ungläubig und spähte an die Stelle, wo das Sprungtuch normalerweise verstaut war. «Offensichtlich nicht, du weißt ja, wie das in der Ferienzeit ist, da herrscht Chaos» murmelte die Stimme im Funkgerät verlegen, worauf der Feuerwehrmann abermals fluchen musste. Er wendet sich wieder dem Mann zu, der langsam aber sicher an den Stangen des Geländers abrutscht, mit seinen schweißfeuchten Händen kann er sich nur schwer daran festklammern. «Ehy» ruft er ihn, Franco dreht sich um und schaut in geistesabwesend an. «Ehy, mein Freund! Halte durch. Hast du verstanden? Nicht aufgeben. Bald bin ich bei dir, du brauchst nur noch ein wenig auszuharren. Nur noch ein wenig länger!» wiederholte er, aber Franco hört ihn überhaupt nicht. Er antwortet nur mit einem vagen und unverständlichen Lächeln, dann starrt er wieder auf die Schreibmaschine und den Stapel maschinengeschriebener Blätter daneben, den überquellenden Aschenbecher und den Stuhl, der mit der Lehne zum Schreibtisch daneben steht. Alles begann an jenem Abend, als ich mich an diesen verdammten Schreibtisch setzte dachte er erneut, während er die Hände unbewusst kräftig am rutschigen Geländer festkrallte, um nicht zu fallen. Klar, es gibt keine andere Erklärung: die Maschine ist verflucht…und jetzt ist es spät … die Strafe …
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