Kapitel 2

1854 Words
2 Der Campus kann umwerfend aussehen, wenn die Sonne untergeht. Das ist eines der seltenen Male, dass die Farbe Rot auf dem Universitätsgelände auftaucht. Normalerweise ist Grün der dominierende Ton in dieser Umgebung – das Grün des Rasens, das Grün der Bäume und das Grün des Efeus, der die Gebäude bedeckt. Wenn das Efeu seinen Willen durchsetzen könnte, wäre alles grün, aber einige widerstandsfähigere Teile des Universitätsgebäudes sind immer noch silberfarben oder aus Glas. Ich gehe an dem dreieckigen Prisma vorbei, das die Schlafzimmer der mittleren Jahrgänge beherbergt, und sehe, dass die Kinder draußen sind; ihr Unterricht endet viel früher als unserer. »Mark ist auf der nordöstlichen Seite des Campus«, erklärt mir Phoe. »Danke«, flüstere ich zurück und drehe mich zu dem quaderförmigen Gebäude um, in dem die Vorlesungen abgehalten werden. »Kannst du jetzt bitte ruhig sein und mir zehn Minuten lang das Gefühl geben, nicht verrückt zu sein?« Phoe antwortet demonstrativ nicht. Wenn sie denkt, dass sie mich mit ihrem Schweigen bestrafen kann, nachdem ich sie gebeten habe, ruhig zu sein, dann kennt sie mich aber schlecht – besonders dafür, dass sie meine eigene Wahnvorstellung ist. Während ich gehe, versuche ich mich darauf zu konzentrieren, wie sehr ich die Stille genieße. Das liegt zu einem Teil daran, dass ich es wirklich tue, hauptsächlich aber daran, dass ich Phoe ärgern möchte. Die Stille ist nicht von langer Dauer. Als ich mich dem grünen Erholungsfeld nähere, höre ich die aufgeregten Stimmen von Jugendlichen, die Frisbee spielen. Als ich näherkomme, erkenne ich, dass die meisten von ihnen dreißig Jahre oder älter sind und nur wenige so wie ich in ihren Zwanzigern. In einiger Entfernung sehe ich eine Gruppe von Teenagern, die tief in ihre Meditation versunken sind. Ich betrachte neidisch ihre gelassenen Gesichter. Meine eigenen Bestrebungen, zu meditieren, sind in letzter Zeit recht erfolglos. Jedes Mal, wenn ich versuche, mich zu entspannen, schwirren mir alle möglichen Dinge durch den Kopf und ich kann meinen Mittelpunkt nicht finden. Mein Magen knurrt, und reißt mich damit aus meinen Gedanken. Ich strecke meine Handfläche aus, und im nächsten Augenblick erscheint ein warmer Riegel auf ihr. Hungrig beiße ich ab, und meine Geschmacksnerven explodieren. Jeder Riegel ist eine einzigartige Kombination aus salzig, sauer, süß, bitter und umami, und dieser spezielle Riegel ist besonders gut. Ich genieße den Geschmack. Essen ist eines der wenigen Dinge, die ich trotz meines Geisteszustands genießen kann – zumindest noch. »Essen hat definitiv etwas Lustvolles«, meint Phoe, die offensichtlich vergessen hat, dass sie mir böse ist, »aber das ist auch fast das einzig Positive daran.« Ich esse weiter und versuche, an nichts zu denken. Ich habe das Gefühl, dass Phoe noch mehr sagen möchte. Sie mag es, mich zu schockieren, so wie als sie mir erzählt hat, dass das Essen von kleinen Maschinen je nach meiner Stimmung zusammengefügt wird. »Maschinen in Nanogröße«, verbessert sie mich. »Und ja, das Essen wird zusammengefügt, genauso wie die meisten greifbaren Objekte in Oasis.« »Also, was ist denn nicht zusammengefügt?«, frage ich, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich ihr glaube. »Na ja, ich denke, dass die Gebäude es nicht sind, aber ich bin mir nicht sicher«, antwortet Phoe. »Mit Sicherheit ist das ganze Zeug der erweiterten Realität, wie dein Screen und die Hälfte der hübsch aussehenden Bäume auf dem Campus, nicht zusammengefügt, da man es nicht anfassen kann. Und die Lebewesen sind auch nicht zusammengefügt. Wobei ich, wäre ich pedantisch, jetzt anmerken könnte, dass diese lediglich von einer anderen Art Nanomaschinen betrieben werden.« Ihre Stimme hört sich jetzt aufgeregt an, so wie Liams, wenn er einen Streich plant. Ich ignoriere ihr Geschwätz und danke demonstrativ den Vorfahren für das Essen. »Hast du das gemacht, um mich zu ärgern?«, will Phoe wissen. »Hast du gerade diesen Dummköpfen, die Angst vor Technologie haben, dafür gedankt, diese unnötige Wahl für dich getroffen zu haben? Ich habe dir doch schon gesagt, dass dein Körper derart verändert werden könnte, dass deine inneren Nanobots Essen und Verdauung komplett überflüssig machen würden.« »Aber das würde mein sowieso schon langweiliges Leben noch langweiliger machen.« Ich lecke die Reste des Riegels von meinen Fingern. »Darüber können wir später sprechen«, meint Phoe und lässt das Thema zum Glück fallen. »Mark ist im Steingarten – und du bist gerade daran vorbeigegangen.« »Danke«, denke ich zu ihr und ändere meinen Weg. Als ich den Steingarten betrete, sehe ich am anderen Ende neben dem silbernen Dodekaeder jemanden auf dem Rasen sitzen. Ich kann nicht genau sagen, wer es ist, da derjenige mir seinen Rücken zugedreht hat, aber es könnte Mark sein. Ich gehe leise zu ihm, da ich den Jugendlichen nicht stören möchte, falls er sich gerade in einer meditativen Trance befindet. Das scheint allerdings nicht der Fall zu sein, da er mich trotz meiner leisen Schritte hört und sich umdreht. Sein Gesicht hat Ähnlichkeiten mit I-Aah, einem Esel aus einem der alten Cartoons. »Hi«, begrüße ich ihn und versuche, mir meinen Ärger über Phoe nicht anmerken zu lassen. Es ist Mark, und er befindet sich genau dort, wo sie es vorausgesagt hatte. Und ich habe in der Tat keine Erklärung dafür, wie ein imaginärer Freund das wissen könnte. Eigentlich habe ich generell für viele Dinge, die Phoe tun kann, keine gute Erklärung, wie zum Beispiel dafür, dass ich nicht mehr Teil der Einheit bin. »Theo«, sagt Mark und sieht leicht überrascht aus. »Was machst du hier? Ich wollte gerade nach dir und Liam suchen.« »Ich habe es dir ja gesagt«, flüstert Phoe in meinem Kopf. »Warum?«, frage ich Mark. Und zu Phoe sage ich lautlos, aber nicht, ohne meine Lippen zu bewegen: »Und du bist ruhig. Und ja, ich antworte dir auf diese Art, weil ich dir dadurch leichter zeigen kann, dass ich verärgert bin. Ich weiß nicht, ob ich ärgerlich denken kann.« »Glaub mir, das kannst du«, erwidert Phoe und gibt sich nicht die Mühe, leise zu sprechen. »Deine Gedanken können sehr unangenehm sein.« Mark kann sie natürlich nicht hören, aber ich bemerke, dass er zögert, bevor er mir antwortet. Er schaut sich verstohlen um, und als er sich davon überzeugt hat, dass wir allein sind, flüstert er: »Irwen üssenmen edenren.« »Das bedeutet: ›Wir müssen reden‹«, denke ich zu Phoe. »Ich weiß, was es bedeutet. Ich war diejenige, die für dich aus den alten Archiven den Artikel über Schweine-Latein hervorgekramt hat«, fügt sie weniger aufgebracht und leiser hinzu. »Lass uns reden, während wir gehen«, antworte ich Mark in Schweine-Latein. »Wir sind schon spät dran für die Vorlesung.« »Nien Rdnungoen«, erwidert er und erhebt sich vom Rasen. Als er aufgestanden ist, fällt mir auf, wie sehr er seinen Rücken krümmt, so als sei sein Kopf zu schwer für seinen Körper. »Es heißt ›inen Ordnungen‹«, verbessere ich ihn, als wir beginnen, auf das tetraederförmige Gebäude zuzugehen, in dem sich der Kindergarten befindet. »In Ordnung«, sagt Mark unverschlüsselt, während er neben mir schlurft. Ich will gerade etwas Sarkastisches sagen, als er mich dadurch überrascht, dass er etwas in Geheimsprache sagt: »Ich bin gerade zu nervös, um das richtig hinzubekommen.« Ich schaue ihn verständnislos an, aber er fährt fort: »Nein, nicht nur nervös.« Seine Stimme verliert mehr und mehr an Lebhaftigkeit. Er bleibt stehen und schaut mich düster an. »Ich bin deprimiert, Theo.« Ich bleibe entsetzt stehen. »Du bist was?«, frage ich und vergesse mein Schweine-Latein. »Ja, das verbotene Wort.« Er krümmt seine Finger und entspannt sie wieder. »Ich bin verdammt nochmal deprimiert.« Ich schaue auf sein Gesicht, um zu sehen, ob er Witze macht, auch wenn das nicht gerade ein geeignetes Thema dafür ist – aber das scheint nicht der Fall zu sein. Sein Gesicht ist ernst, genauso wie sein Geständnis. »Mark …« Ich schlucke. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.« Ich bin froh, dass er in der Geheimsprache gesprochen hat. Trotzdem schaue ich mich um, um sicherzugehen, dass wir immer noch allein sind. Es gibt zwei Probleme mit dem, was er gerade gesagt hat. Das erste ist eher ein kleineres: er hat das Wort »verdammt« laut ausgesprochen. Das kann einen Tag Stille für ihn und einigen Ärger für mich bedeuten, falls ich ihn nicht wegen seiner vulgären Ausdrucksweise verpetze (was ich selbstverständlich niemals tun würde). Was unendlich schlimmer ist, ist, dass er gesagt hat, er sei »deprimiert« – und ich rede nicht einmal davon, dass er es auch wirklich gemeint hat. Dieses Wort steht für ein so unvorstellbares Konzept, dass ich nicht weiß, wie die Bestrafung dafür aussähe. Es ist keines dieser überflüssigen Verbote wie: »Iss deine Freunde nicht auf.« Diese Regel existiert wahrscheinlich auch, aber da in der ganzen Geschichte Oasis’ niemand jemals einen anderen gegessen hat, weiß ich nicht, was die Erwachsenen in jenem Fall tun würden. »Wie auch immer die Konsequenzen aussehen, auf jeden Fall werden sie schwerwiegend sein«, denkt Phoe. »Für beides: Kannibalismus und Unglücklichsein.« »Dann haben wir beide ein Problem«, bewege ich meinen Mund, »weil ich auch nicht glücklich bin.« »Du bist aber nicht deprimiert«, erwidert sie. »Und jetzt schnell, er wartet immer noch darauf, dass du etwas Hilfreicheres von dir gibst als: ›Ich weiß nicht, was ich sagen soll‹. Also bitte sei so nett und sage etwas wie: ›Wie kann ich dir helfen?‹« Dann fügt sie besorgt hinzu: »So etwas wie seinen neuronalen Scan habe ich noch nie gesehen.« »Iewen annken irden elfenhen?«, frage ich Mark, genau wie Phoe es mir geraten hat. Er hebt seine Hände an, um damit sein Gesicht zu bedecken, aber ich erhasche einen Blick auf seine nassen Augen. Er hält sein Gesicht fest, so als könne es schmelzen, wenn er es losließe, und ich starre ihn genauso regungslos an wie den ersten und einzigen Horrorstreifen, den mir Phoe jemals gezeigt hat. Da mich mein Einfallsreichtum im Stich lässt, mache ich eine kleine Bewegung mit meiner Hand, um vor mir einen privaten Bildschirm in der Luft erscheinen zu lassen. Phoe nimmt das als Aufforderung, Marks neuronalen Scan darauf zu projizieren. Ich schaue mir die Abbildung einen Moment lang an und denke zu Phoe: »Ich habe so etwas auch noch nie gesehen. Er ist völlig durcheinander.« »Ich denke, der Grund dafür, dass du noch nie so etwas gesehen hast, ist der, dass du bis jetzt noch nie jemanden getroffen hast, der wirklich deprimiert ist.« »Also ist er wirklich deprimiert?« Ich bewege meine Lippen und kann mich gerade noch davon abhalten, laut zu sprechen. »Was soll ich jetzt tun, Phoe?« »Alte Schriften schlagen vor, dem anderen die Hand auf die Schulter zu legen. Tu das und sage nichts«, meint Phoe. »Das sollte ihn beruhigen, denke ich.« Ich folge ihrem Vorschlag. Zuerst bebt seine Schulter eigenartig unter meiner Handfläche, aber dann lassen seine Hände langsam sein Gesicht los. Seine Mimik ist mir nicht ganz fremd – ich habe sie schon bei den kleinen Kindern gesehen, die noch nicht gelernt haben, sich zivilisiert zu verhalten und richtig glücklich auszusehen. Mark atmet tief ein und aus, bevor er mit zitternder Stimme sagt: »Ich habe Grace gesagt, was ich für sie empfinde, und sie hat mich einen verrückten Widerling genannt.« Geschockt lasse ich seine Schulter los und trete zurück. »Mist«, sagt Phoe und spricht damit genau das aus, was ich denke. »Das ist übel.«
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