„Das ist aber über alle Maßen geschmacklos!“
Jennys Anhängerinnen gaben dies nicht zu; nicht einmal unter ihren eigenen waren viele der Meinung Lolas. Die Tochter eines Reichstagsabgeordneten sagte:
„Es war so deutsch.“
„Es war geschmacklos!“ stieß Lola hervor. „Wenn es deutsch war, dann war es eben eine deutsche Geschmacklosigkeit!“
Darauf ward es still; und wie Lola sich bei den Ihren nach Beistand umsah, wichen die Blicke ihr aus, und die Schultern drehten sich hin und her, bis sie aus Lolas Nähe waren. Drüben versetzte eine spitz:
„Du bist eben eine Brasilianerin!“
„Wenn sie das noch wäre,“ entgegnete die Tochter des Abgeordneten. „Aber sie ist nichts: sie ist —“
Mit gekrümmten Lippen, die das Wort unter Selbstüberwindung hervorbrachten:
„International!“
Der Ekel im Gesicht der Sprechenden steckte alle übrigen Mienen an; und als habe man neben sich eine Schande, wandte man sich schweigend zu etwas Anderem. Ein Dienstmädchen trat ein:
„Fräulein Lola, ein Brief für Sie!“
Von Pai! Lola stürzte damit hinaus, schloß sich ein. Sie zitterte; und im jähen Gefühl, in einer äußersten Minute ihres Schicksals zu stehen, murmelte sie: „Mein Gott! Mein Gott!“
Dann erfuhr sie:
„Meine liebe Tochter! Deine Nachrichten habe ich erhalten und ihnen zu meinem Bedauern entnommen, daß die dortigen Verhältnisse Dir nicht mehr so zuzusagen scheinen, wie ich gewünscht und erwartet hätte. Es ist jederzeit für uns von Nutzen, unserer Umgebung Wohlwollen entgegenzubringen; um so mehr aber erscheint dies geboten, wenn wir, menschlicher Berechnung nach, einen großen Teil unseres Lebens am fraglichen Platze verbringen werden. Übrigens denke ich mich in einiger Zeit persönlich nach Dir umzusehen und verspreche ich mir von diesem, nicht durch meine Schuld so lange verschobenen Wiedersehen eine bedeutende Genugtuung. Somit halte ich ein Herkommen deinerseits zurzeit nicht für angezeigt. Du darfst versichert sein, daß wir nicht mehr allzu lange getrennt bleiben werden, und daß, wenn ich einst in der Lage sein werde, meinen Wohnsitz ganz nach dort zu verlegen, auch Deine Mutter mit hinüberkommen wird. Deine Mutter grüßt Dich, kann Dir jedoch das gewünschte Bild nicht schicken, da sie sich neuerdings auf keiner Photographie mehr getroffen findet.“
„Über das, mein liebes Kind, was wir im Leben sein werden, entscheidet das Blut, welches wir bei unserer Geburt mitbekommen. Unter einem nicht blutsverwandten Volk werden wir uns niemals vollkommen wohl und heimisch fühlen. In Dir, meine Tochter, fließt, wie ich hoffe und glaube, ein vorwiegend deutsches Blut, und als deutsches Mädchen gedenke ich Dich dereinst wiederzufinden. Es wird Deine Aufgabe sein, Dich dort mehr und mehr heimisch zu machen.“
„Nimm diese Worte von Deinem Vater mit Liebe auf. Es ist und kann ja nur mein einziger Wunsch sein, Dich glücklich und zufrieden durchs Leben schreiten zu sehen.“
Lola war fertig und nahm doch das Blatt nicht von den Augen. Kein Bild von Mai: nicht einmal das! Nicht nach Hause, kein Bild, kein gutes Wort. Denn diese alle hörten sich hart und verständnislos an. Sich heimisch machen! Hier, wo sie noch soeben beschimpft und geächtet war! Pai wußte nichts; niemand wollte etwas wissen von Lola. Alles aus, alles aus.
„Was ist dir?“ fragte, als es zum Essen geläutet hatte, teilnahmsvoll Erneste. „Du hast doch keine schlechten Nachrichten von den Deinen?“
„O nein, es geht ihnen gut; aber mir selbst ist nicht wohl.“
Sie bekam die Erlaubnis, sich sogleich niederzulegen, und war froh, als der Arzt ein wenig Fieber feststellte. Im Bett bleiben, niemand sehen, nur nicht den Blicken der Fremden ausgesetzt sein. Lola fühlte gar keinen Mut, sich zu behaupten. Wie sie, drei Tage später, sich wieder zeigte, genoß sie die Vorrechte der Genesenden, durfte schweigen und Launen nachgeben. Sie saß bleich und schwach da, und anstatt einer Lehrerin zu antworten, musterte sie sie, als erblickte sie sie zum erstenmal. Was für ein Gesicht war doch dies; wie viel Unschönes enthielt es! Diese immer geärgerten Augen, die gelben Schläfen, die kleinlichen Falten, die den Mund zerkniffen! Vor Lolas starrem Blick ward es älter, immer älter und endlich zur Mumie. Erschreckt riß sie sich los. Wenig später aber sah sie sich im Gesicht einer rezitierenden Mitschülerin fest, dessen Leere sich Lola plötzlich auftat wie ein Abgrund.
Das ward zur Sucht. Sie las aus einem der vielen Gesichter, die ihr jetzt abstoßend schienen, alle in der Familie möglichen Abweichungen des Typus heraus, und ward bedrängt von Fratzen. Die Dummheit oder Gewöhnlichkeit gewisser Züge überwältigte sie täglich wieder, wuchs ihr entgegen, wie eine Sonne, in die man fällt. Lola atmete dann kürzer und meinte zu verblöden.
Sie bekam einen quälend feinen Sinn für das Alberne eines Tonfalls und das Untergeordnete einer Gebärde. Sie frohlockte und litt bei jeder Geschmacklosigkeit, die jemand beging. Sie legte eine Liste der Armseligkeiten an, die um sie her geschahen und geredet wurden, und las darin mit bitteren Rachegefühlen. So waren ihre Feindinnen! Denn Lola war überzeugt, daß alle sie haßten, und sie erwiderte es ihnen. Aus jeder Gruppe von Mädchen glaubte sie ihren Namen zu hören; sie trat herzu: „sprecht weiter, bitte“; und ihre Stimme, die sie aus ihrer Einsamkeit unter die Feinde schickte, wollte höhnisch sein und war unsicher. Eines Abends beim Teemachen explodierte die Spiritusmaschine und überschüttete Lola mit blauen Flämmchen. Während sie noch mit einer Serviette ihr Kleid abtupfte, rief sie schon:
„Das warst du, Berta! Du wußtest wohl, daß ich heute an der Reihe war, Tee zu machen: eigens deswegen hast du vorher aufgegossen und hast den Docht falsch eingeschraubt!“
„Um des Himmels willen, Lola, ich habe dich doch nicht verbrennen wollen!“
„Wer hat mir neulich die glühend heiße Schüssel in die Hand gegeben?“
„Ich wußte es doch nicht! Auf der andern Seite war sie kalt!“
Das gutmütige Mädchen weinte fast. Erneste bemerkte kummervoll:
„Du bist mißtrauisch, Lola: das ist keine schöne Eigenschaft.“
Lola war mißtrauisch, weil sie sich verraten fühlte. Sie war empfindlich, weil sie allein und immer auf der Wacht war. Andere hatten Stützen: das Ansehen eines Vaters, einen Namen, jemand der sie besuchte. Eine kleine plumpe Person mit Eulenaugen und Brillen davor, ging, so oft sie sich irgendwie blamiert hatte, umher und wiederholte: „Ich habe das Wörtchen von. Du hast es nicht, ich aber habe es.“ Lola suchte vergeblich nach einer Rache dafür. Da aber begegnete ihr in der Zeitung, daß der Reichstagsabgeordnete, der Vater ihrer ärgsten Feindin, Bankerott gemacht habe. Das Herz klopfte ihr bis an den Hals vor Freude. War’s eine Schande, „international“ zu sein, war’s hoffentlich auch eine, Bankerott zu machen! Mit dem Zeitungsblatt lief Lola von einer zur andern, gefolgt von der Tochter des Abgeordneten, die jammerte: „Es ist nicht wahr“ und endlich zu Erneste floh: sie möge Lola Einhalt tun. Aber Lola war unerbittlich. Dafür konnte sie’s, als unerwartet Jennys rote, spießige Mutter bei Tisch saß und das Wort führte, vor Erbitterung und Gram nicht bis zu Ende aushalten, mußte sich in ihr Zimmer retten und einen Weinkrampf durchmachen. „Nie wird Mai kommen! Die häßlichen, gewöhnlichen Menschen sind wenigstens gut mit ihren Kindern!“
Erneste sah den Krisen Lolas unschlüssig zu. Sie, die Lola liebte, beschämte es, daß sie sie nicht verstand. Manchmal ward sie ungeduldig und wollte mit Erzieherinnenderbheit dazwischenfahren. Aber ihre altjungferliche Achtung vor den Dingen des Herzens hielt sie zurück. „Es muß etwas sein... Sie wird damit fertig werden.“ Eine Frage drückte Erneste; sie fürchtete sich, sie zu stellen. Jetzt sprach sie zu Lola vor anderen in freudig ermunterndem Ton; waren sie aber allein, ward Ernestes Stimme, was sie auch sagen mochte, mitfühlend und beruhigend. Lola entzog sich ihrer Teilnahme, stellte sich früh und abends schlafend und verließ, kaum daß Erneste sie vertraulich zu stimmen suchte, das Zimmer. Endlich wagte Erneste, ohne Vorbereitung, ihre Frage:
„Möchtest du noch zum Theater?“
„Zum Theater?“ machte Lola, die Brauen gefaltet; und mit gehobenen Schultern:
„Daran habe ich gar nicht mehr gedacht.“
Auch dort waren die Menschen schwerlich anders, und Lola wußte sich so wenig zur Bühne gehörig wie sonst irgend wohin. Aber Erneste hatte den Atem angehalten; nun traten ihr Tränen der Erleichterung in die Augen.
„Gott sei Dank, Kind! Mein liebes Kind, Gott sei Dank!“
Sie reckte sich an Lola hinauf und küßte sie auf den Mund. Eine ihrer Hände ließ sie segnend über Lolas Kopf schweben.
„Das andere wird alles gut werden,“ verhieß sie innig. Lola, in Wut, weil sie gleich weinen mußte, sah kalt zu ihr hinunter. Erneste trat von ihr weg.
„Du sollst auch eine Belohnung haben,“ — ganz lustig, nur nicht mehr sentimental. „Wohin möchtest du diesen Sommer lieber: ins Gebirge oder an die See?“
„Ich weiß wirklich nicht.“
„Du wirst dich schon besinnen.“
Aber Lola setzte ihren Ehrgeiz darauf, keine Vorliebe zu verraten; Erneste mußte schließlich selbst wählen; und zu Beginn der Ferien, als die andern alle daheim waren, fuhren Erneste und Lola ins Gebirge.
„Wir müssen viel zusammen spazieren gehen,“ hatte Erneste gesagt; aber dann zeigte sich’s, daß sie vom Steigen ihre Herzbeschwerden bekam. Lola ließ sie auf einer Bank zurück und eilte weiter, den Passionsweg mit den Bildstöcken hinauf, an der geweihten Quelle und der Einsiedelei vorüber und in den Wald, wo er recht tief, recht wild und menschenfern war, wo im Tannendickicht die kaum ausgetretenen Graspfade und über Schluchten der morsche Steg zu einsamen, schmerzlich stillen Zielen führten. Denn Lola war so glücklos, daß der Anblick eines Menschen sie unsinnig erbitterte.
Sie fühlte sich häßlich: unablässig peinigte sie die Empfindung ihrer zu hohen Stirn, ihres bleichsüchtigen Mundes, ihrer langen Glieder, die in den Gelenken nicht recht heimisch schienen. Ungeschickt und in ihrer Haut unbehaglich, mußte sie sich immerfort betasten, immer wieder feststellen, daß an ihrem in falschen Verhältnissen aufgeschossenen Körper kein Rock und keine Bluse richtig sitze. Sie fühlte ihre Häßlichkeit noch gehoben durch die Begleitung Ernestes, in ihrem Kapotthut, ihren schwarzen Zwirnhandschuhen, ihrem alten Mantel, der schief von ihrer zu hohen Schulter hing. Waren sie beide nicht ein lächerliches Paar? Lola sträubte sich gegen die Verwechslung mit Erneste, und dabei mußte sie gestehen, man könne sie äußerlich ganz gut zur gleichen Klasse rechnen: sie, die nicht von Erneste nur, nein, von allen so weit Getrennte! Begegnete sie Leuten, sah sie entweder scheu weg, oder sie musterte sie frech, wie eine für immer Draußenstehende, die sich ihrer Ungezogenheit nie zu schämen haben wird. Dennoch hätte sie bei Tisch, wo Erneste sie mit ihren Nachbarn zu reden nötigte, in den ersten jungen Menschen sich fast verliebt. Ihr Stolz verhinderte es: weil sie sich häßlich wußte; und die Erinnerung, daß kein Geschöpf liebenswert sei, keins sie angehe und jede Gemeinschaft nur wieder Gram bringe. In der Einsamkeit ward ihrer freier; sie konnte in ein Buch aufgehen, ihr qualvolles Ich darin aufgehen lassen. Um so schlimmer war’s, wenn die Feinde sie auch hier erreichten. Einmal — sie glaubte an einer Stelle zu sein, wohin nie ein Mensch den Fuß gesetzt habe — erhob sich plötzlich der Lärm zahlreicher Stimmen, die auf Sächsisch voneinander Abschied nahmen. Die Gesellschaft verteilte sich auf zwei Wege, die fünfzig Schritte weiter unten wieder zusammenstießen; bei den unverhofft nochmals Vereinigten ging eine freudige Begrüßung an; und Lola, der das vorkam wie eine ihr zum Hohn aufgeführte Komödie, rang die Hände im Schoß. Darauf blieb es still: bis ein Knacken im Gebüsch und ein kleiner wilder Schrei sie erschreckten. Sie warf einen Stein nach dem Tier. Gleich darauf stürzte sie ins Gras und schluchzte heftig und unstillbar auf ihre erschlafften Arme nieder. Ihre Tränen flossen dem, was sie getan hatte und allem, was sein mußte: flossen ihr selbst.
Wenn es andern zu heiß war, oder beim Nahen eines Gewitters, stieg Lola in den Wald. Bei sich hatte sie Lamartines Meditationen. „Die Freundschaft verrät dich, das Mitleid läßt dich im Stich, und allein schreitest du den Pfad der Gräber abwärts,“ las sie auf dem Weg mit den Bildstöcken; — und trat sie dann am Ende der fahl bläulichen Steige an den Rand der Bergwand und sah hinaus in ein grenzenloses Land, dessen Wellen schwarze Gehölze, grelle Wiesen, rostrote Kornfelder in tiefhangende Wetterwolken hineintrugen — im unheimlichen Flackerlicht solcher Stunde durfte Lola verzweifelt frohlocken: „Ich durcheile mit dem Blick alle Punkte der ungeheuren Weite und sage: Nirgends erwartet mich Glück.“ Mochte doch in jenem getürmten Grau die Sonne für immer untergehen; Lola wußte im Ernst: „Ich wünsche mir nichts von allem was sie bescheint; vom ungeheuren All verlange ich nichts!“