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JENNYMein Ex hatte mir einen Koffer voller zerschnittener Klamotten hinterlassen, ein mit einem Schlüssel zerkratztes Auto und einen gebrochenen Arm. Und tschüss.
Mir war nicht einmal klar gewesen, dass er meine gesamte Kleidung zerstört hatte, bis ich mich im Gästezimmer meines Bruders hinsetzte. Ewan schaute mich nur an, nahm mich fest in seine Arme und bot mir an, ich könne so lange bleiben, wie ich wolle. Mein Bruder ist einfach der Beste.
Dieser verdammte Jason hatte ganze Arbeit geleistet. Ich fand nur noch ein einziges Top, das er nicht in Stücke gerissen hatte. Aber zumindest war mir mein eigenes Konto geblieben. Wir hatten zwar ein gemeinsames, von dem die Miete, Essen und Nebenkosten bezahlt wurden, aber meine Ersparnisse waren in Sicherheit und standen mir nun zur Verfügung, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen hatte.
»Essen ist fertig!«, rief Ewan von unten. Mein Magen knurrte sofort hungrig. Gestern Abend hatte ich zum letzten Mal etwas gegessen, vor dem Streit, der in der Notaufnahme endete. Im Krankenhaus hatten sie mir nichts zu essen gegeben, falls eine Operation nötig wäre, aber zum Glück war es ein glatter Bruch, für den ein Gipsverband ausreichte. Als ich mit dem Taxi nach Hause kam, fand ich neben meinem Mini einen Koffer vor. SCHLAMPE stand auf beide Türen gesprüht. Typisch für den kleinkarierten Jason. Morgen würde ich der Polizei alles erzählen, wenn ich ihn anzeigte. Wenn er Krieg wollte – bitteschön, den konnte er haben.
Ich mühte mich langsam die mit Teppichfliesen ausgelegten Stufen hinab und stöhnte wegen der Schmerzen in meinem Oberschenkel. Konnte mich gar nicht erinnern, wie es zu diesem riesigen blauen Fleck gekommen war. Vielleicht war ich während des Handgemenges gegen die Arbeitsplatte in der Küche gestoßen. War jetzt auch egal. Ich biss die Zähne zusammen und versuchte, den Schmerz zu ignorieren.
Der Anblick der riesigen Auflaufform mit Lasagne zauberte mir ein Lächeln ins Gesicht. Ewan wusste einfach immer, wie er mich aufmuntern konnte. Er war gelernter Koch und kreierte jeden Tag in einem der exklusivsten Restaurants der Stadt seine ausgefallenen Gerichte; aber wenn ich zu Besuch kam, setzte er mir immer etwas Einfaches, Leckeres vor. Und als zusätzlichen Luxus durfte ich die Lasagne jetzt auch nur mit der Gabel essen, einhändig wie ich war.
»Riecht fantastisch. Kommt Anna auch?«
»Nein, sie hat heute Nachtschicht und kommt erst gegen vier Uhr. Wir sind zu zweit, Schwesterherz.«
Mit einem breiten Grinsen schnitt er die Lasagne in zwei Teile. Eigentlich hätte sie für eine sechsköpfige Familie reichen müssen, aber ich wusste, dass in der Glasform nichts übrig bleiben würde, wenn wir uns erst darüber hermachten. Er setzte mir einen Teller vor, der so voll war, dass der Käse schon über den Rand lief und auf den Tisch tropfte. Ich wischte ihn auf und zog an dem wunderbaren Käsefaden, um ihn dann wie Spaghetti einzusaugen.
Ewan lachte. »Also deine Tischmanieren haben sich noch nicht verbessert. Mama wäre enttäuscht.«
»Die würde das genauso machen, und das weißt du auch.« Unsere Mutter war ein Hippie und hatte einen einfachen Farmer geheiratet, weshalb wir weit weg auf dem Land aufgewachsen waren, nicht in der betriebsamen Großstadt, in der wir jetzt wohnten. Manchmal hatte ich daran gedacht, wieder in die Highlands zu ziehen, aber da gab es keine Arbeit, jedenfalls nicht die Art von Jobs, die ich mir vorstellte. Irgendwann einmal würde ich vielleicht aus Glasgow wegziehen in eine kleinere Stadt, aber momentan gefiel es mir hier. Gut, mal abgesehen von diesem Scheißkerl, meinem Ex. Schon erstaunlich, wie schnell ich ihn nicht mehr als Freund und Partner, sondern nur noch als Ex betrachtete. Wahrscheinlich war diese Entwicklung vorgezeichnet, und ich hatte nur noch einen Grund gebraucht, mich von ihm zu trennen. Ein gebrochener Arm schien mir ausreichender Anlass zu sein.
»Willst du darüber reden?«, fragte Ewan nach ein paar Minuten einvernehmlicher Stille.
»Nee, nicht wirklich. Ich muss das morgen sowieso alles der Polizei erzählen, das reicht mir.«
»Gut, aber du weißt, du kannst mit mir über alles reden. Tag und Nacht. Und du kannst bleiben, solange du willst. Das Zimmer hat leer gestanden, seit Annas Mutter ins Betreute Wohnen umgezogen ist, wir haben also genug Platz. Und ich koche gern für dich.«
Ich lachte. »Man könnte meinen, du hättest sonst keine Gelegenheit zum Kochen.«
»Ist doch was anderes, wenn man für Leute kocht, die man gern hat.«
»Stimmt.«
Für mich hat Essen nie eine so große Rolle gespielt wie für meinen Bruder. Ich esse gern, klar, aber das Kochen überlasse ich lieber anderen. Jason war darin auch recht gut, aber er musste mir ständig unter die Nase reiben, was für ein totaler Versager ich als Hausfrau war. Da spielte es auch keine Rolle, dass ich mehr Geld nach Hause brachte als er. Im Gegenteil, das hat die Sache für ihn noch verschlimmert.
»Was macht die Arbeit?«, fragte Ewan. »Gibt‘s da was Neues?«
»Ja, gibt es. Morgen treffe ich mich mit der Besitzerin einer Dating Agentur. Die heißen »Hot Tatties«. Sie wollen eine groß angelegte Werbekampagne starten, um mehr Kunden zu bekommen. Mein Vorschlag hat ihnen anscheinend zugesagt, und sie haben nicht mit der Wimper gezuckt, als ich ihnen den Preis für mein Spitzen-Paket genannt habe. Ich werde da wohl ein paar Monate beschäftigt sein.«
»Eine Dating Agentur. Na gut, so kommst du wahrscheinlich am ehesten über diesen Scheißkerl hinweg.«
Ich warf ihm einen vielsagenden Blick zu. »Nein, danke, ich hab meine Lektion gelernt. Ich gerate bei Männern nun mal immer an die falschen und werde jetzt bis ans Ende meiner Tage allein leben.«
Ewan schnaubte. »Du willst also zur Nonne werden?«
»Ich hab ja nicht behauptet, dass ich keinen s*x mehr haben wollte.«
Er hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Ich will nichts hören von meiner kleinen Schwester und s*x. Igitt, wie eklig.«
»Ähm, eigentlich solltest du mittlerweile wissen, wie das mit Geschlechtsverkehr so läuft. Du weißt doch noch, dass ich damals diese Zeitschriften unter deinem Bett gefunden habe?!«
Die Röte stieg ihm ins Gesicht, bis seine Wangen fast die Farbe seiner Haare angenommen hatten – dasselbe Rot, das auch mich zierte, obwohl seine Haare kürzer und weniger lockig waren. »Hör sofort auf, oder ich werfe dich raus.«
Trotz seines spielerischen Tonfalls traf er damit bei mir einen Nerv. Die Sache war noch zu frisch, die Wunde offen.
»Tut mir leid«, fügte er sofort hinzu. »Ich hab nicht weiter nachgedacht. Ich werde dich nie, nie vor die Tür setzen. Und du weißt genau, wie gern Anna dich hat. Bin mir sogar ziemlich sicher, dass sie dich genommen hätte, wenn sie mich nicht vorher geheiratet hätte.«
Ich lachte. »Ich habe festgestellt, dass ich mir aus Frauen nichts mache, sorry.«
»Festgestellt? Wie denn das?«
»Hast du denn nicht herumexperimentiert, als du an der Uni warst?«
Er errötete noch mehr. »Nein, hab ich nicht. Das waren doch andere Zeiten.«
Ich verdrehte die Augen. »Du bist sieben Jahre älter als ich. Musst also nicht so tun, als ob uns Generationen trennen. Du willst mir echt erzählen, dass du nie besoffen warst und mit einem Kerl rumgemacht hast?«
»Verdammt nochmal, nein. Und falls doch, kann ich mich nicht daran erinnern. Überhaupt erinnere ich mich an nicht sehr viel aus der Zeit an der Uni. Da hatte ich schließlich die meiste Zeit einen Kater.«
»Und ich dachte doch tatsächlich, du hättest eifrig studiert, wie Mama mir das immer erzählt hat, wenn sie dich als leuchtendes Vorbild dargestellt hat. Vielleicht sollte ich sie mal aufklären…«
»Wag’s ja nicht. Sonst müsste ich ihr am Ende noch eines deiner kleinen Geheimnisse erzählen. Aber welches nehme ich da nur? Es gibt so viele…«
Ich schnipste ein Stückchen geschmolzenen Käse in seine Richtung, fragte mich aber gleichzeitig, was das wohl für Geheimnisse sein könnten, die er da preisgeben wollte. Ich war schließlich kein besonders rätselhaftes Wesen. Meistens trug ich mein Herz auf der Zunge und hatte schon gelernt, dass für mich Pokerspielen die schnellste Art war, Geld zu verlieren. Denn ein Pokerface aufzusetzen und meine Gefühle zu verbergen, gelang mir nur in den seltensten Fällen. Zumindest blieb ich auf diese Weise meist bei der Wahrheit. Jason war der Einzige gewesen, den ich erfolgreich belügen konnte, was wahrscheinlich daran lag, dass er nicht viel Notiz von mir nahm. Wann hatten wir denn das letzte Mal eine richtige Unterhaltung gehabt, die nicht gleich in einen Streit ausartete?! Fiel mir nicht ein.
»Du denkst gerade wieder an ihn«, stellte Ewan fest und bestätigte damit meine Überzeugung, nichts vor ihm verbergen zu können. »Das hat der doch gar nicht verdient. Wie wär`s denn, wenn wir die Flasche Highland Park köpfen, die mein Boss mir geschenkt hat?«
»Deine Chefin schenkt dir Whisky?«
»Wenn ich ihr einen Deal über eine halbe Million verschaffe, ja, dann tut sie das«. Er grinste stolz. »Sie hat auch angedeutet, dass ich gegen Jahresende mit einer Beförderung rechnen kann. Mit dem Geld könnten wir das Kinderzimmer renovieren.«
Ich holte tief Luft. »Das Kinderzimmer? Ist Anna…«
»Noch nicht, aber wir arbeiten daran. Jeden Tag.« Er zwinkerte mir zu.
»Da bin ich doch froh, dass euer Schlafzimmer nicht direkt neben meinem liegt. Ich werde ungern Zeuge, wie mein Bruder seine Nachkommenschaft produziert.«
»Bei Annas derzeitigem Schichtplan brauchst du dir in der Hinsicht keine Sorgen zu machen. Du wirst längst bei der Arbeit sein, wenn sie aufwacht. Ich arbeite derzeit viel von zu Hause aus«. Ewan lachte. »Nach ein bisschen Bumsen bin ich so viel produktiver.«
Er holte eine große Flasche von dem Regalbrett, auf dem er seine Getränkevorräte lagerte. Unser Vater liebte Whisky, weshalb wir als Kinder schon durch sämtliche Destillerien Schottlands geschleppt wurden. Nachdem wir die alle durchhatten, verlagerten sich unsere Ferienziele nach Irland. Im Moment sparte er gerade für eine Reise nach Japan, um dort eine Brennerei zu besuchen, von der er irgendwo gelesen hatte.
Ich schwenkte die goldene Flüssigkeit in meinem Glas und konnte nur mit Mühe der Versuchung widerstehen, sämtliche Schritte einer richtigen Whisky-Verkostung zu durchlaufen. Mein Vater hatte mich zu einem Kenner auf einem Gebiet gemacht, das ich gar nicht kennen wollte. Als ich von zu Hause fortzog, um zur Uni zu gehen, warnte er mich nicht etwa vor lüsternen Jungs oder so etwas. Nein, ich sollte nur ja nie Whisky mit Cola mischen, das sei eine Sünde. Ich musste lachen bei der Erinnerung daran. Vielleicht sollte ich mir ein paar Tage frei nehmen und meine Eltern besuchen. Das Ende einer Beziehung war dafür sicher eine gute Ausrede. Ich wollte nicht zugeben, dass ich ihre Gesellschaft vermisste, ein paar Umarmungen, vielleicht sogar den einen oder anderen Ratschlag. Schließlich war ich eine gestandene Frau.
Als Ewan mein Glas zum vierten Mal füllte, hatte ich fast schon vergessen, dass ich einen gebrochenen Arm hatte, verschiedene Prellungen und momentan obdachlos war. Ich hatte mich seit Monaten nicht mehr so glücklich und zufrieden gefühlt.
»Du solltest jetzt ins Bett gehen«, sagte mein Bruder, als ich die Hand wieder nach der Flasche ausstreckte. Seine Stimme klang leicht verwaschen. »Du solltest beim Vorstellungsgespräch morgen nicht mit einem Kater zu kämpfen haben.« Er warf einen Blick auf die Küchenuhr. »Heute, um genau zu sein. Wie schnell doch die Zeit vergeht, wenn’s einem gut geht.«
»Du bist einfach viel zu vernünftig«, gab ich klagend zurück.
»Das bin ich dir als dein großer Bruder schuldig. Also, los jetzt. Ich brauche auch noch ein paar Stunden Schlaf. Ich will ja Anna morgen früh nicht enttäuschen. Das Baby entsteht schließlich nicht von alleine.«
Ich lachte lauter, als die Komik dieser Bemerkung es eigentlich verdient gehabt hätte. Und zuckte gleich darauf innerlich zusammen. Und fragte mich, ob ich je eine so lang andauernde, liebevolle Beziehung zu jemandem haben würde wie Ewan sie mit seiner Frau hatte.
Unwahrscheinlich.