Brian.
Brian war müde. Und geil. Was ihn zu einem äußerst schwer zu handhabenden Alpha machte. Alle seine Angestellten waren schon seit Stunden weg, und dennoch saß er noch an seinem Schreibtisch und arbeitete die Jahresabschlussberichte durch. Eigentlich hätte er diese Arbeit jemand anderem überlassen können, aber er hatte schon immer das Problem, persönlich sicherstellen zu müssen, dass alles richtig erledigt wurde. Sein Geschäftspartner Liam machte ihn ständig darauf aufmerksam. Ja, 16-Stunden-Tage, 7 Tage die Woche zu arbeiten, war weder gesund noch nachhaltig, aber er war ein bisschen ein Workaholic. Er griff nach seinem Kaffee, nahm einen Schluck und verzog das Gesicht wegen der eiskalten Temperatur. Er sah auf die Uhr – es war schon fast 22 Uhr – und seufzte. Es war Samstagabend und er hätte in einer Bar sein sollen, um einen Beta zu finden, der ihm helfen würde, etwas von seinem Stress abzubauen.
Aber ehrlich gesagt hasste Brian das ganze Getue, in eine Bar zu gehen und jemanden anzumachen, ihn zu überreden, mit nach Hause zu kommen. Zehn von zehn Mal, wenn er jemanden zu seiner Wohnung mitnahm, wurde aus einem One-Night-Stand eine Art umgekehrtes Werben, sobald sie herausfanden, dass er Geld hatte. Er seufzte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, rieb sich die müden Augen und überlegte, ob er für den Tag einfach aufgeben und nach Hause gehen sollte. Er sah den halb fertigen Stapel Berichte auf seinem Schreibtisch an und fühlte, wie seine Augen vom stundenlangen Fokussieren auf die winzigen Zahlen brannten. Was ihn schließlich überzeugte, aufzuhören, war nicht die Müdigkeit, sondern die Tatsache, dass er bei weiterem Arbeiten in diesem Zustand anfangen würde, Fehler in seinen Zahlen zu machen. Neben seinem Workaholic-Drang war Brian auch Perfektionist und konnte es sich nicht leisten, diese Berichte zu vermasseln. Er klopfte mit den Knöcheln auf den Schreibtisch, stand auf, ließ seine ordentlich gestapelten Papiere liegen und griff unterwegs nach seinem Mantel. Er ging durch das dunkle Büro, das ihm nur zu vertraut war. Brian verließ die Arbeit selten, wenn noch die Sonne schien, und noch seltener kam er, nachdem sie aufgegangen war. Er wusste, dass er sich zu sehr in den Alltag des Unternehmens vergrub. Er hatte die Firma gegründet, weil er leidenschaftlich für Technologie und Innovationen in der Informatik war. Er vermisste die Zusammenarbeit mit den Ingenieuren und das Programmieren neuer Produkte. Heutzutage fühlte er sich eher wie ein glorifizierter Buchhalter mit einem großen schicken Büro. Der Aufzug klingelte und öffnete sich. Er stieg ein, drückte den Knopf für die Garage und lehnte sich an die Rückwand, während er nach unten fuhr. Jetzt, wo seine Gedanken nicht mehr so auf die Arbeit fokussiert waren, war das heiße Verlangen unter seiner Haut der Hauptfokus. Brian musste dringend s*x haben, aber allein die Vorstellung, heute Abend in eine Bar zu gehen, machte ihn tief erschöpft. Er hatte schon darüber nachgedacht, einen Freund oder eine Freundin zu suchen, nur um jemanden zum Ficken zu haben, wenn er es brauchte, aber er wusste, dass er weder Zeit noch Motivation hatte, eine Beziehung anzufangen. Das würde nur schlecht enden. Er stieg aus dem Aufzug, ging zu seinem schwarzen Audi, stieg ein und stöhnte bei dem Gedanken, wieder allein nach Hause zu fahren.
Masturbation hatte schon lange ihren Reiz verloren. Sein innerer Alpha sehnte sich nach einem Beta, der ihn befriedigen konnte, und war von seinen halbherzigen Selbstbefriedigungen nicht beeindruckt. Das war etwa so effektiv wie ein Eimer Wasser auf ein Waldbrand zu kippen. Nicht sehr. Schließlich überredete er sich, zu einem nahegelegenen Club zu gehen, um einen Beta zu suchen, mit dem er seinen sexuellen Frust abbauen konnte.
Wenn er nur gewusst hätte, dass diese Entscheidung, an diesem Abend in den Nachtclub zu gehen, sein Leben für immer verändern würde.
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Ray.
Der Name, der auf meinem Bildschirm aufleuchtet, lässt mich erstarren, meine Hände stoppen in der Luft über der Tastatur. Zögernd greife ich nach meinem Handy, wische mit dem Daumen über den Bildschirm und halte es ans Ohr. „Hallo, Tania.“ „Ray Ray.“ Die weibliche Stimme ist unerwartet, unsicher, aber verzweifelt. „Tania“, sage ich ruhig. „Was ist los? Ist alles in Ordnung? Geht es dir gut?“ Ich kann nicht verhindern, dass meine Stimme zittert. „Es ist der Vermieter“, haucht sie. „Er hat unsere Sachen rausgepackt. Du musst nach Hause kommen.“ Erstarrt vor Schreck ringe ich nach einer Antwort. Ich hätte wissen müssen, dass es kein freundlicher Anruf sein würde, wenn ihre Nummer auf dem Display erscheint. „Ray Ray“, sagt sie mahnend. „Hast du mich gehört? Wir können nicht länger wegbleiben. Du musst nach Hause kommen. Ich habe ihn angefleht, aber er hört nicht.“ „Ich komme jetzt, aber geht es dir wirklich gut?“ bringe ich stockend heraus. „Ist er dort?“ „Nein.“
Das Wort ist bestimmt, und mein Körper sackt bei ihrer Gewissheit in sich zusammen. „Es tut mir leid“, sagt sie mitfühlend. „Ich wollte dich nicht erschrecken. Er hat mich rausgeschickt und es ist schlimm, aber ich stehe im Regen ohne Schutz, Ray Ray.“ Bilder meiner zwölfjährigen kleinen Schwester schießen mir durch den Kopf, Übelkeit und Herzschmerz überkommen mich bei der Erinnerung daran. Unterernährt und ängstlich, still und angespannt. Ein Mädchen, dem unser familiäres System versagt hat. Das Mädchen, das schwer zu überzeugen war, dass es geliebt wird und dass ihr Leben lebenswert ist. Jetzt bin ich überzeugt, dass ich diesen Job bekommen muss, bevor alles zusammenbricht.
„Ich habe den Job bekommen“, klatschte ich, während Ricky mich anstarrte, als hätte ich vier Köpfe. Er konnte nicht verstehen, wie glücklich ich war, da er nicht in meiner Lage war, also bat ich ihn, mich nach Hause zu bringen, damit ich eine weitere Runde Betteln beim Vermieter starten konnte. Nachdem Ricky gegangen war und ich meiner zwölfjährigen Schwester erfolgreich etwas zu essen gegeben hatte, richtete ich meinen Laptop auf meinem gewohnten Tisch ein, nachdem sie eingeschlafen war, und klickte auf die Geschichtssektion. Als ich Ricky fragte, ob er die Unterlagen mit mir teilen würde, lachte er mich aus. Er konnte nicht verstehen, warum ich freiwillig lernen wollte, obwohl ich nichts davon hatte, und ich seine Hilfe ablehnte. Anscheinend war es ihm unverständlich, dass ich Wissen erlangte. Ihm gebührt allerdings auch Anerkennung: Er zuckte mit den Schultern, gab mir seine Zugangsdaten und sagte, es sei meine Zeit zum Verschwenden. So verbrachte ich also meine Tage. Allein in meinem kleinen Zuhause saß ich und arbeitete mich still durch den Lehrplan für Kochkunst. Es war nicht dasselbe. Natürlich nicht. Niemand korrigierte meine Aufsätze. Ich konnte die Bibliothek nicht nutzen, also waren meine Ressourcen begrenzt. Ich öffnete mein Notizbuch und wiederholte meine Notizen, um mich von meinem knurrenden Magen abzulenken.
Manche Leute würden sagen, es sei lächerlich, einen Laptop zu haben, wenn ich mir kaum Essen leisten konnte, aber die könnten mich mal. Es war das einzige Vergnügen, das ich mir erlaubte, weil ich ohne ihn den Verstand verlieren würde. An die Uni zu gehen war außerhalb meiner Reichweite, aber das hieß nicht, dass ich den Stoff nicht trotzdem lernen konnte. Das würde zu keinem Abschluss führen, aber was sonst sollte ich mit meiner Zeit anfangen? Ich hatte keine Freunde, nur eine Familie, für die ich sorgen musste, keine Hobbys. Lernen war das Einzige, was mir derzeit Freude bereitete, also würde ich es mit voller Kraft durchziehen. Mit Rickys Zugangsdaten loggte ich mich in den Server der Universität ein und klickte auf die Geschichtssektion.