KAPITEL EINS

1937 Words
KAPITEL EINS Wegen der Art und Weise, wie ihr Leben begonnen hatte – mit einer toten Mutter, einem inhaftierten Vater und Großeltern, die ihr immer im Nacken saßen – bevorzugte es Chloe Fine oft, Dinge alleine zu machen. Viele Leute bezeichneten sie als extrem introvertiert und was sie anging, war das völlig in Ordnung. Es war diese Persönlichkeit, die sie dazu getrieben hatte, in der Schule außergewöhnlich gute Schulnoten zu bekommen und die ihr geholfen hatte, ihr Studium und das Training an der FBI-Akademie zu bewältigen. Aber es war auch diese gleiche Persönlichkeit, die sie dazu veranlasst hatte, in ihre neue Wohnung einzuziehen, ohne dass sie eine einzige Person hatte, die ihr dabei half. Sicher, sie hätte eine Umzugsfirma anheuern können, aber ihre Großeltern hatten sie den Wert des Geldes gelehrt. Und da sie starke Arme, einen starken Rücken und einen sturen Kopf besaß, entschied sie sich, alleine umzuziehen. Schließlich hatte sie nur zwei schwere Möbelstücke. Alles andere sollte eine Kleinigkeit sein. Wie sich herausstellte, war dies nicht der Fall, als es ihr schließlich gelang, ihre Kommode die Treppe hinauf zu hieven – mithilfe einer Sackkarre, mehrerer Zurrgurte und einer glücklicherweise breiten Treppe, die zu ihrer Wohnung in den zweiten Stock führte. Ja, sie hatte es geschafft, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie dabei ein oder zwei Muskeln in ihrem Rücken gezerrt hatte. Sie hatte die Kommode bis zum Schluss gelassen, da ihr bewusst war, dass dies der schwierigste Teil des Umzugs sein würde. Sie hatte absichtlich alle Kisten nur leicht gepackt, da sie wusste, dass es ein Ein-Frauen-Job werden würde. Vermutlich hätte sie Danielle anrufen können und sie hätte geholfen, aber Chloe war nie der Typ gewesen, der die Familie um Gefälligkeiten bat. Chloe wich ein paar Kisten mit Büchern und Heften aus und ließ sich in den Sessel fallen, den sie schon seit ihrem zweiten Jahr im Studium hatte. Der Gedanke, Danielle hier bei sich zu haben, um alle ihre Sachen zu sortieren und die Wohnung einzurichten, war verlockend. Die Dinge zwischen ihnen beiden waren nicht mehr ganz so angespannt, seit Chloe die Wahrheit darüber herausgefunden hatte, was zwischen ihren Eltern passiert war, als sie junge Mädchen waren, aber da war definitiv noch etwas anderes. Sie waren sich der Last ihres Vaters, die auf ihren Schultern ruhte, beide sehr bewusst – die Wahrheit über das, was er getan hatte und die Geheimnisse, die er verborgen hatte. Chloe hatte das Gefühl, dass sie beide mit diesen Geheimnissen auf ihre eigene Art und Weise umgingen und sie wusste auf eine fast hellseherische Art, wie sie nur nahe Geschwister teilen konnten, dass sich ihre Meinungen dazu sehr unterschieden. Was sie Danielle gegenüber nie zugeben würde, war, wie sehr sie ihren Vater vermisste. Danielle hatte es ihm immer übelgenommen, nachdem er ins Gefängnis gesteckt worden war. Aber Chloe war diejenige gewesen, die diese Vaterfigur in ihrem Leben vermisst hatte. Sie war immer diejenige gewesen, die gewagt hatte zu hoffen, dass die Polizei vielleicht etwas falsch gemacht hatte – dass ihr Vater auf gar keinen Fall ihre Mutter getötet hatte. Und es war diese Hoffnung und dieser Glaube gewesen, der zu dem kleinen Abenteuer führte, das sie gemeinsam unternommen hatten und welches in der Festnahme von Ruthanne Carwile und einem völlig neuen Blickwinkel auf den Fall Aiden Fine resultierte. Das, was für Chloe irgendwie nach hinten losgegangen war, war jedoch die Tatsache, dass sie ihn durch die Aufdeckung dieser kleinen Geheimnisse nur noch mehr zu vermissen begann. Und sie wusste, dass Danielle das schrecklich und auf eine Art vielleicht sogar masochistisch finden würde. Trotzdem wollte sie Danielle anrufen, um ihren kleinen und doch hart erarbeiteten Sieg des Umzugs in ihr neues zu Hause zu feiern. Es handelte sich nur um ein kleines Zwei-Zimmer-Apartment im Stadtteil Mount Pleasant in Washington, DC – klein, kaum erschwinglich, aber genau das, wonach sie gesucht hatte. Es war ungefähr zwei Monate her, seit sie das letzte Mal Zeit miteinander verbracht hatten – was seltsam war, wenn man bedachte, was sie bei ihrem letzten Zusammentreffen gemeinsam durchgemacht hatten. Sie hatten ein paar Mal miteinander telefoniert und obwohl es angenehm war, war es doch sehr oberflächlich gewesen. Und Oberflächlichkeit lag Chloe nicht besonders. Scheiß drauf, dachte sie und griff nach ihrem Handy. Was sollte schon passieren? Als sie nach Danielles Nummer suchte, wurde ihr die Realität der Situation bewusst. Sicher, es waren nur zwei Monate gewesen, seit alles passiert war, aber sie waren jetzt andere Menschen. Danielle hatte begonnen, ihr Leben in den Griff zu kriegen. Sie hatte einen Job, der potenziell gut bezahlt werden könnte – eine Rolle als Barkeeperin und stellvertretende Managerin in einer gehobenen Bar in Reston, Virginia. Chloe selbst war noch immer dabei, sich daran zu gewöhnen, von kürzlich verlobt zu alleinstehend überzugehen und sie schien außerdem völlig vergessen zu haben, wie man einen potenziellen Partner fand. Du kannst so etwas nicht erzwingen, dachte sie. Besonders nicht mit Danielle. Mit klopfendem Herzen wählte sie die Nummer. Sie erwartete ehrlich, dass der Anruf zur Mailbox geleitet werden würde. Als das Telefon dann nach dem zweiten Klingelton von einer quietschfidel klingenden Danielle beantwortet wurde, brauchte Chloe einen Moment, um zu reagieren. „Hallo Danielle.“ „Chloe, wie geht es dir?“, fragte sie. Es war so seltsam Danielles Stimme mit einem Hauch von Fröhlichkeit zu hören. „Ziemlich gut. Ich bin heute in die Wohnung eingezogen. Ich habe gedacht, es wäre schön mit dir zu feiern. Wenn du mich besuchst, könnten wir eine Flasche Wein trinken und wirklich ungesunde Sachen essen. Aber dann ist mir wieder eingefallen, dass du ja einen neuen Job hast.“ „Ja, Arbeit macht das Leben süß“, sagte Danielle mit einem Lachen. „Magst du den Job?“ „Chloe, ich liebe ihn. Ich meine, sicher, es sind erst drei Wochen, aber es fühlt sich so an, als wäre ich dafür geboren. Ich weiß, es ist bloß Barkeepern, aber …“ „Nun, du bist aber auch stellvertretende Managerin, oder?“ „Ja. Ein Titel, der mir noch immer Angst macht.“ „Es freut mich, dass es dir gefällt.“ „Und wie geht es dir? Wie ist die Wohnung? Wie war der Umzug?“ Sie wollte nicht, dass Danielle wusste, dass sie alles alleine transportiert hatte, also antwortete sie ihr nur vage – was sie hasste. „Ganz gut. Ich muss noch alles auspacken, aber bin froh, dass ich jetzt in der Wohnung bin, weißt du?“ „Ich werde dich aber definitiv bald auf ein Glas Wein und das fettige Essen besuchen kommen. Wie läuft es sonst so?“ „Ehrlich?“ Danielle war für einen Moment still, bevor sie antwortete: „Oh-oh.“ „Ich habe über Dad nachgedacht. Darüber ihn zu besuchen.“ „Und warum in Gottes Namen würdest du das tun?“ „Ich wünschte, ich hätte eine gute Antwort für dich“, sagte Chloe. „Nach allem was passiert ist, habe ich das Gefühl, dass ich es muss. Ich muss alles verstehen.“ „Meine Güte, Chloe. Lass es ruhen. Sollte dich dein neuer Job nicht genug damit auslasten, andere Verbrechen aufzuklären? Man … und ich dachte immer, ich wäre diejenige, die ihr ganzes Leben in der Vergangenheit verbringt.“ „Warum ärgert es dich so sehr?“, fragte Chloe. „Dass ich ihn sehen will …“ „Weil ich denke, wir haben ihm beide schon genug unserer Lebenszeit gewidmet. Und ich weiß, wenn du ihn besuchst, wird mein Name aus einem eurer Münder kommen und ich würde es bevorzugen, wenn dies nicht passiert. Ich bin fertig mit ihm, Chloe. Ich wünschte, du wärst es auch.“ Ja, das wünschte ich auch, dachte Chloe, behielt den Kommentar aber für sich. „Chloe, ich liebe dich, aber wenn du planst, dich für den Rest unserer Unterhaltung über ihn auszutauschen, werde ich mich jetzt verabschieden.“ „Wann arbeitest du wieder?“, fragte Chloe. „Diese Woche jeden Abend außer Samstag.“ „Vielleicht komme ich am Freitagnachmittag vorbei. Und ich erwarte, dass du mir das Getränk servierst, das du für deine Spezialität hältst.“ „Dann plane lieber nicht mit dem Auto nach Hause zu fahren“, sagte Danielle. „Ist notiert.“ „Und bei dir? Wann beginnt dein neuer Job?“ „Morgen früh.“ „Mitten in der Woche?“, fragte Danielle. „Es ist eine Art Orientierung. Hauptsächlich Meetings und solche Sachen für die ersten paar Tage.“ „Ich freue mich für dich“, sagte Danielle. „Ich weiß, wie sehr du dir dies gewünscht hast.“ Es war schön, dass Danielle etwas Nettes über ihre Arbeit sagte. Nicht nur das, sondern überhaupt so zu tun, als würde es sie interessieren. Für einen Moment herrschte eine tiefe Stille zwischen ihnen, die Danielle barmherzig beendete, indem sie etwas eher Untypisches sagte: „Pass auf dich auf, Chloe. Bei der Arbeit … mit Dad … und allem anderen.“ „Das werde ich“, sagte Chloe, die der Kommentar etwas überraschte. Danielle beendete das Gespräch und Chloe sah sich im Wohnbereich ihres neuen Apartments um. Es war schwierig bei all der Unordnung, die Gesamtheit der Wohnung zu sehen, aber sie fühlte sich an diesem Ort bereits zu Hause. Es gab nichts Besseres, als ein merkwürdiges Gespräch mit Danielle, damit sich ein Ort wie zu Hause anfühlte, dachte sie dann. Langsam streckte sie ihren Rücken aus, erhob sich aus dem Sessel und bewegte sich zur nächsten Kiste. Sie begann sie auszupacken und bekam langsam ein Gefühl dafür, wie ihr Leben aussehen würde, wenn sie es nicht schaffen würde, Beziehungen aufrechtzuerhalten. Sei es mit ihrer Schwester, ihrem Vater oder ihrem Ex-Verlobten, sie hatte nicht die beste Erfolgsbilanz, wenn es darum ging, Menschen nahe bei sich zu behalten. Beim Gedanken an ihren Ex-Verlobten stieß sie auf mehrere gerahmte Bilder, die unten in der ersten Kiste lagen. Es gab insgesamt drei Bilder; Fotos von ihr und Steven. Zwei waren aus früheren Tagen, als sie nur miteinander ausgegangen waren. Aber das dritte war ein Foto von ihnen, nachdem er ihr einen Antrag gemacht hatte … nachdem sie Ja gesagt hatte und fast begonnen hatte zu weinen. Sie nahm die Bilder aus der Kiste und stellte sie auf die Küchentheke. Sie kramte herum und fand ihren Mülleimer auf der anderen Seite des Zimmers neben ihrer Matratze. Dann holte sie die Bilder und ließ sie in den Mülleimer fallen. Das Geräusch des zerbrechenden Glases in den Bilderrahmen war ein bisschen zu entzückend. Ganz einfach, dachte sie. Ich kann es kaum erwarten, dieses Debakel hinter mir zu lassen. Warum kannst du dich nicht genauso leicht von dem Unsinn mit deinem Vater lösen? Sie hatte darauf keine Antwort. Und die Sache, die sie am meisten erschreckte, war, dass sie glaubte, die Antwort könnte sich in einem Gespräch mit ihm zeigen. Bei diesem Gedanken schien die Wohnung leerer zu sein als zuvor und Chloe fühlte sich plötzlich sehr einsam. Der bloße Gedanke daran brachte sie dazu, zum Kühlschrank zu gehen und den Sechserpack Bier zu öffnen, den sie früher am Morgen gekauft hatte. Sie öffnete die erste Flasche und war ein wenig alarmiert darüber, wie gut ihr der erste Schluck schmeckte. Sie tat ihr Bestes, um sich an diesem Nachmittag bis in die Nacht hinein zu beschäftigen, nicht mit Auspacken, sondern, indem sie langsam durch die Kisten ging und versuchte zu entscheiden, ob sie jeden einzelnen Gegenstand wirklich brauchte. Die Trophäe, die sie beim Debattier-Club in der High-School gewonnen hatte, fand ihren Weg in den Mülleimer. Die Fiona Apple CD, die sie gehört hatte, als sie in ihrem zweiten Jahr an der High-School ihre Jungfräulichkeit verlor, behielt sie. Alle Bilder ihres Vaters wanderten in den Müll. Zuerst tat es ihr weh, dies zu tun, aber als sie an ihrer vierten Flasche Bier war, ging es leichter. Sie schaffte es, sich durch zwei Kisten zu arbeiten … Und sie hätte wahrscheinlich noch mindestens eine weitere Kiste geschafft, wenn sie nicht zum Kühlschrank gegangen wäre und festgestellt hätte, dass sie irgendwie den ganzen Sechserpack ausgetrunken hatte. Sie schaute auf die Uhr am Herd und schnappte nach Luft, als sie die Uhrzeit sah. Es war 0:45 Uhr in der Nacht. So viel zum Thema vor meinem ersten Arbeitstag ausreichend Schlaf zu bekommen, dachte sie. Was ihr jedoch noch mehr Sorgen bereitete, als der möglicherweise müde Morgen an ihrem ersten Tag beim FBI, war die Tatsache, dass sie einen ganzen Sechserpack getrunken hatte. Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, fiel sie erschöpft ins Bett. Der Raum um sie herum drehte sich ein wenig, als sie realisierte, dass sie sich an diesem Abend wirklich sehr darum bemüht hatte, alle Erinnerungen an ihren Vater zu löschen.
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