In der ängstlichen Menge blieb Aria als Einzige völlig ruhig und schweigsam. Alle anderen um sie herum zitterten vor Angst und bemühten sich, den Blicken der riesigen Drachen auszuweichen. Die sechs Bestien um sie herum waren offensichtlich von der großen Gruppe fasziniert und zwei von ihnen knurrten bereits wild.
Es war immer ein mit Spannung erwartetes Spektakel im Palast, wenn Menschen den Drachen geopfert wurden. Die Zuschauer warteten mit Begeisterung auf das grausame Schauspiel dieser sechs Drachen, die die Menschen zerreißen und abschlachten würden. Niemand von ihnen bekam auch nur eine einzige Waffe, um sich zu verteidigen. Denn die Bestien wurden genauso als heilig angesehen wie ihre Herren. Sie waren hier, um auf die schrecklichste Art und Weise zu sterben, ausschließlich zur Unterhaltung der besten Untertanen des Drachenreichs.
Sie alle wussten es. Einige hatten versucht, ihrem Schicksal zu entkommen, aber waren auf der Stelle getötet worden. Die anderen waren entsetzt, aber sie hatten keine Wahl. Wie sollten sie in so einer Situation überleben? Die Arena war vollständig abgeschlossen und die unterste Treppe befand sich noch etwa neun Meter über ihnen. Jederzeit würden sechs geflügelte Ungeheuer hinter ihnen her sein, wobei eines allein ausreichen würde, um sie alle auszulöschen.
Jemand im Palast kündigte das bevorstehende Spektakel an, lobte die kaiserlichen Prinzen und ihre Bestien und hielt von Zeit zu Zeit inne, damit die Zuschauer applaudieren und jubeln konnten.
Aria konnte jedoch kein Wort verstehen. Zu viele Menschen um sie herum weinten oder beteten verzweifelt. Die meisten hatten ihre Augen auf die Drachen gerichtet und fragten sich, ob sie eine Chance zur Flucht hatten. Einige Mädchen blickten sogar in Richtung der Prinzen, in der Hoffnung, dass einer der Prinzen so angetan von ihnen wäre, dass er sie retten würde.
Im krassen Gegensatz zu der Verzweiflung um sie herum blickte Aria ruhig in den weiten Himmel. Es war ein sonniger, wolkenloser Morgen, aber es war ungewöhnlich kalt. Sie trug nur ein altes zerrissenes Kleid und Ketten, die zeigten, dass sie eine Sklavin war. Aber das kümmerte sie nicht wirklich. Würde sie nicht sowieso bald sterben? Wer kümmerte sich jetzt noch um Komfort und hübsche Kleidung? Der Tod stand weniger als drei Meter von ihr entfernt und beobachtete sie mit sechs hungrigen Augenpaaren. Aria hoffte nur, dass das Gemetzel schnell ein Ende nehmen würde.
Die Jahre der Sklaverei hatten in ihrem Herzen keinen Hoffnungsschimmer hinterlassen. Der Minister war ein grausamer und gewalttätiger Mann gewesen. Aber auch bevor sie ihn kennengelernt hatte, hatte sie sehr viel Grausamkeit erlebt und stark gelitten. Aria war ihr halbes Leben lang eine Sklavin gewesen und hatte mehr Grausamkeit, Not und Tod erlebt als jedes andere Mädchen in ihrem Alter je gesehen hatte. Aber trotzdem verursachten die engen Handschellen um ihre Handgelenke Schmerzen in ihr. Sie beneidete die Toten, die frei von allen Qualen und Leid waren. Glücklicherweise würde sie sich ihnen bald anschließen können.
Ihr Blick fiel auf eine der Bestien. Der große Drache, der nicht angekettet war, war der ruhigste von allen. Da Aria keine Angst hatte, kam sie nicht umhin zu denken, dass der Drache wirklich eine wunderschöne Kreatur war. Die Schuppen auf dem Körper dieses Drachens waren völlig schwarz und glänzten wie Diamanten und seine Augen waren tiefrot. Im Gegensatz zu seinen unruhigen Artgenossen stand dieses Biest still und schaute gelassen umher. Es kümmerte sich nicht um die ängstlichen Menschen in der Nähe oder die ausgelassenen Zuschauer. Der majestätische Drache schien ihren Blick zu spüren, denn er drehte seinen riesigen Kopf zur Gruppe und seine Augen wanderten umher, bis sie ihre fanden.
Sie beide blickten sich ruhig an und waren fasziniert voneinander. Sie, ein schwacher Mensch, und er, eine mächtige Bestie, die dazu bestimmt war, ihr das Leben zu nehmen. Dieser Austausch erregte die Aufmerksamkeit der anderen. Der drittälteste Prinz erhob sich von seinem Platz und suchte einen Moment lang nach dem, was sein Drache nervös beobachtete. Nach einigen Minuten entdeckte er schließlich die schlanke Gestalt in der Menge und betrachtete sie ebenfalls neugierig. Die junge Frau wirkte sehr zerbrechlich, blass und dünn. Sie trug ein zerschlissenes Kleid, ihr langes Haar war zerzaust und um ihren Hals und ihre Handgelenke waren Ketten gelegt worden.
Seine Finger begannen langsam über den Griff seines Schwertes zu streicheln. Irgendetwas an dieser Frau war so anziehend, dass er seinen Blick nicht von ihr abwenden konnte. Obwohl er nicht sagen konnte, was es genau war. Auf jeden Fall wäre es töricht, sich auf sie einzulassen. Diese Sklavin würde sterben. Also wandte er den Blick ab und dachte nicht weiter an die Frau.
Bald endete die Rede und der Ansager verließ die Arena. Als die Wachen gingen, begannen einige der Sklaven vor Angst zu schreien. Die Käfige für die Drachen wurden geöffnet, doch drei von ihnen blieben verschlossen. Die Hölle brach in der Arena los und die Menge tobte.
Das Massaker hatte begonnen. Die Sklaven rannten los, um den Bestien auszuweichen. Aber einer nach dem anderen wurde von ihren riesigen Klauen zu Boden gedrückt oder von ihren massiven Reißzähnen in Stücke gerissen. Die Drachen kümmerten sich nicht einmal darum, die Menschen zu fressen. Sie spielten einfach mit ihren Leichen, jagten die Lebenden und kämpften um die toten Körper. Blut spritzte herum und Schreie hallten durch die Luft, als fünf der gigantischen Bestien ihre Beute massakrierten. Das Gemetzel dauerte noch einige Minuten, bevor jemand bemerkte, dass etwas nicht stimmte. Einer der Drachen verhielt sich anders als seine Artgenossen.
Das dunkelste Biest ging ganz ruhig auf eine einsame Sklavin zu. Die Frau verhielt sich ebenfalls seltsam. Im Gegensatz zu den anderen Sklaven schrie sie nicht, rannte nicht herum und zeigte keine Anzeichen von Angst. Nein, die junge Frau stand einfach regungslos auf dem Sandboden und hatte die Augen starr auf den sich langsam nähernden großen Drachen gerichtet. Doch das Biest zeigte keine Feindseligkeit ihr gegenüber und schien es nicht eilig zu haben, sie anzugreifen.
Da nur noch wenige Sklaven am Leben waren, beruhigten sich die anderen Drachen oder stritten untereinander. Daher richtete sich die Aufmerksamkeit der meisten Zuschauer auf das seltsame Duo. Einige Leute auf dem Feld begannen zu tuscheln. Wie konnte diese Sklavin noch am Leben sein? Warum hatte der Drache sie nicht angegriffen und getötet wie die anderen Sklaven? Alle in der Arena hielten den Atem an und warteten darauf, was der schwarze Drache tun würde.
Auch die sechs Prinzen verfolgten die Szene mit Interesse. Ihre Reaktionen auf dieses beispiellose Ereignis waren unterschiedlich. Der fünfälteste Prinz fragte sich, wie diese Sklavin dem Zorn der Bestien hatte entkommen können. Der zweitälteste Prinz schien einfach genervt. „Warum töten die Drachen sie nicht? Hört auf herumzuspielen und tötet diese Sklavin! Lass deinen Drachen sie töten!“, sagte er zum drittältesten Prinzen.
Aber dieser ignorierte ihn. Seine Augen waren auf sein Biest gerichtet. Er starrte ihn intensiv an und wartete ab, was sein Drache tun würde.
Der Grund, warum die anderen die Sklavin nicht angriffen, war offensichtlich. Diese Frau zeigte keine Angst, keine Anzeichen von Panik. Für die Drachen war sie also keine Beute, die sie einfach töten konnten. Vielleicht war sie eine Wache, die hier zurückgelassen worden war. Immerhin war diese Jagd nur ein Spiel für sie. Warum sollten sie also einer menschlichen Frau nachjagen, die gar nicht mitspielte? Es gab keinen Grund, sich um diese Frau zu kümmern.
Nur der schwarze Drache zeigte Interesse an der Sklavin. Als er sich der Sklavin langsam näherte, dachten fast alle Zuschauer, dass er sie endlich töten würde. Aber sie lagen alle falsch. Anstatt sie anzugreifen, streckte der Drache neugierig seinen Kopf nach vorn, um sie zu beschnuppern. Die junge Sklavin reagierte kaum darauf und beobachtete ihn einfach weiterhin.
Was passierte hier? Die Zuschauer warteten gespannt, ob diese Sklavin getötet werden würde oder nicht. Sie hatten das vorherige Massaker bereits völlig vergessen. Denn was jetzt geschah, war viel interessanter. Nach ein paar weiteren Minuten legte sich der Drache plötzlich hin und rollte sich um die Frau herum wie ein gehorsames Haustier. Die schockierte Menge begann zu tuscheln. Es war eine Welle überraschter Stimmen, die innerhalb von Sekunden lauter wurden. Alle Prinzen waren von diesem Anblick überrascht. Der zweitälteste Prinz wurde nun noch wütender. „Diese Frau ist offensichtlich eine Hexe! Lasst uns sie sofort töten!“, rief er.
„Wie interessant. Ich habe noch nie jemanden gesehen, der eine Opferung überlebt hat“, sagte der erstgeborene Prinz.
„Genug! Befehle deinem Drachen ... “
Bevor er seinen Satz beenden konnte, erstarrte er aufgrund des eiskalten Blickes des drittältesten Prinzen. Seine dunklen Augen erschreckten ihn so sehr, dass er fast an seinen eigenen Worten erstickte und schnell seinen Blick abwendete. Der jüngste Prinz lachte. „Wie dreist von dir, Adrian! Du traust dich echt, dem Kriegsgott Befehle zu erteilen …“
Er hatte absolut recht, aber seine Worte ließen den zweitältesten Prinzen vor Wut rot werden. Es war im ganzen Reich bekannt, dass von den sechs Prinzen der Drittgeborene der beste Drachenzähmer war.
Der drittälteste Prinz hieß Tristan und sein perfektes Zusammenspiel mit dem schwarzen Ungetüm hatte es ihm ermöglicht, als General im Osten viele Siege für den Kaiser zu erringen. Dadurch hatte er sich den Titel „Kriegsgott“ verdient. Es gab keinen stärkeren Mann im ganzen Drachenreich und sicherlich auch keinen Mann, der ihm Befehle erteilen konnte. Sogar der Kaiser bevorzugte ihn als seinen Lieblingssohn. Dessen war sich der zweitälteste Prinz natürlich bewusst und schwieg daraufhin. Der älteste Prinz Leander, der den kurzlebigen Streit ignorierte, beobachtete immer noch das seltsame Duo in der Arena.
„Eine Hexe, hm? Wer auch immer sie ist, es scheint, als stünde dein Drache tatsächlich unter ihrem Zauber, Tristan. Wie interessant ...“
Er drehte sich um, um die Reaktion seines Bruders zu beobachten. Aber zu seiner Überraschung war der Blick des Kriegsgottes bereits wieder auf die Arena gerichtet. Tristan dachte über die Frau nach, die seinen Drachen so leicht unterworfen hatte. Seine Finger tanzten immer noch auf seinem Schwert. Der fünftälteste Prinz, Kilian, bemerkte es auch.
„Tristan, es scheint, als wäre der Drache nicht der Einzige, der verzaubert ist. Könnte es sein, dass die Frau auch deine Aufmerksamkeit erregt hat? Von hier aus betrachtet, ist sie nicht gerade hässlich für eine Sklavin, oder?“
„Das ist das erste Mal, dass sich Tristan für eine Frau interessiert!“, sagte der jüngste Prinz, Lysander, aufgeregt.
„Stimmt, Lysander! Tristan hat die Frauen, die ihm in der Vergangenheit geschickt wurden, kaum beachtet. Er hat sie immer direkt getötet“, flüsterte Prinz Kilian.
„Was sagst du, Tristan? Sollen wir unseren Vater bitten, diese Sklavin zu verschonen?“, fragte Prinz Leander.
Prinz Tristan antwortete nicht. Stattdessen stand er auf und sein Blick blieb auf die Arena fixiert. Er war ein sehr großer Mann mit brauner Haut und breiten Schultern. Einige Zuschauer blickten zu ihm und bemerkten, dass einer der Prinzen stand. Aber ihm war das egal. Der schwarze Drache, der immer noch um die Frau gewickelt war, reagierte auf den Blick seines Herrn. Er hob plötzlich das Kinn, knurrte laut in Richtung seines Herrn und stand dann auf. Die anderen fünf Drachen reagierten ebenfalls und begannen zu knurren. Aber keiner von ihnen wagte es, sich zu nähern.
Aria, die immer noch neben dem Drachen stand, fragte sich, was hier vor sich ging. Befahl sein Herr dem Drachen gerade, sie nun endlich zu töten? Sie hatte keine Ahnung, wie sie miteinander kommunizierten, aber offensichtlich führten der Drache und sein Herr ein wortloses Gespräch. Plötzlich wandte sich der Drache ihr zu und breitete seine schwarzen Flügel aus. Im Bruchteil einer Sekunde stürzte sein großer, offener Rachen plötzlich in ihre Richtung und nahm die Ketten, mit denen sie gefesselt worden war, in seinen Mund. Aria keuchte überrascht auf. Der Drache stieg plötzlich in den Himmel auf und trug sie an den Ketten hoch in die Lüfte. Er stieg immer höher, wodurch ihr Körper sich aufgrund des Drucks auf ihren Nacken und ihre Handgelenke in eine schmerzhafte Position zwang.
Zum Glück dauerte es nur wenige Sekunden. Sie sah die Arena unter sich vorbeiziehen, während sie schnell zu einer großen steinernen Plattform gebracht wurde. Einige Leute im Publikum schrien vor Schreck, aber das Biest setzte Aria einfach dort ab und ließ sie sanft auf die Knie sinken.
Die junge Frau keuchte vor Schmerz, bevor sie merkte, wo sie war. Auf der Plattform der kaiserlichen Familie! Sie spürte immer noch den brennenden Atem des schwarzen Drachens in ihrem Nacken und hob unbewusst den Kopf. Doch dann sah sie, dass direkt vor ihr ein Mann stand.