Kapitel 1

984 Words
GIOVANNIS PERSPEKTIVE „Diese Ohrringe gehören meiner Mama! Versuchst du jetzt, ihre Sachen zu stehlen – nachdem du ihr schon den Platz weggenommen hast?“ Erics Stimme hallte durch den Flur, kaum dass ich eingetreten war. „Willst du jetzt auch noch wie sie aussehen, nur um Aufmerksamkeit zu bekommen? Nimm sie sofort ab!“ Plötzlich waren alle Augen auf mich gerichtet. Er ist der Sohn meiner Zwillingsschwester, den ich wie meinen eigenen großgezogen, seit sie gestorben ist. „Eric, hör auf“,brachte ich mühsam hervor, meine Stimme kaum fest. Da brach er in Tränen aus. „Papa, Papa, sie will den Platz meiner Mama stehlen – an ihrem Geburtstag! Willst du einfach dastehen und zusehen?“ Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Mir kamen fast die Tränen. Ich hatte erwartet, dass Mark, mein Ehemann, eingreifen würde, aber er stand nur da und sah zu. Ich wusste, dass er mich verachtete – für ihn war ich nur ein Ersatz für meine tote Schwester. Aber dass er zuließ, dass ein Zehnjähriger mich vor allen erniedrigte, das hätte ich nie gedacht. „Ich wollte nur eine Verbindung zu meiner Schwester spüren“, stammelte ich. „Lügnerin! Du Mörderin! Du hast sie auf dem“ schrie er, und sofort ging ein Raunen durch die Menge. Worte, die sich wie Messer gegen mich richteten. Als wäre ich die Schuldige. Als wäre ich die Eindringling. Die Demütigung war so groß, dass ich kaum Luft bekam. Also rannte ich davon. --- In meinem Zimmer ließ ich mich aufs Bett fallen, Tränen liefen mir übers Gesicht. Heute war auch mein Geburtstag, doch niemand feierte mich. Jedes Jahr wurde nur ihrer gedacht – selbst nach fünf Jahren im Grab. Ich konnte nicht anders, als mich zu fragen: Wer feiert die Toten mehr als die Lebenden? Eric war früher ein lieber Junge gewesen, bis meine Schwester starb, als er fünf war. Seitdem hasste er mich. Er sagte immer, ich hätte sie retten können, aber ich tat es nicht. Wie hätte ich das können, wo ich doch selbst nur mit einer Niere lebe? Er hasste mich, aber ich ertrug es, weil ich es meiner Schwester versprochen hatte. Ich hatte nur versprochen, für ihren Sohn zu sorgen. Doch meine Eltern überredeten mich, Mark zu heiraten, damit keine andere Frau jemals den Platz meiner Schwester einnehmen würde. Ich griff zum Telefon und wählte die Nummer meiner Mutter. „Mama ich bin fertig damit. Ich will die Scheidung. Ich halte es mit Mark und Eric nicht mehr aus“,sagte ich ohne Umschweife. „Giovanni… ist das dein Ernst?“ fragte sie. „Eric ist doch nur ein Kind. Er ist auch dein Sohn. Erinnerst du dich nicht? Du hast es deiner Schwester versprochen – er ist deine Verantwortung.“ „Er hat es mir klargemacht, Mama. Ich bin nicht seine Mutter. Er hasst mich. Ich dachte, irgendwann würde das vorbei sein. Ich habe zugestimmt, weil ich ihn großziehen wollte. Aber er ist jetzt zehn. Kein Baby mehr.“ „Sieh mal an, wer hier so tut, als wäre sie das Opfer“, sagte Eric plötzlich. Er stand an meiner Tür mit einem hämischen Grinsen. „Mama, wir reden später“,psagte ich und legte auf. Ich erhob mich, auch wenn ich völlig erschöpft war, und stellte mich ihm. „Eric, warum tust du mir das ständig an?“ fragte ich. „Ich hasse dich. Dein Getue widert mich an.“ Ehe ich reagieren konnte, zog er eine Wasserpistole ervor, die er versteckt hatte, und sprühte. Zu spät merkte ich, dass er Wasser mit Chili vermischt hatte – als es meine Augen traf, brannte es wie Feuer. Er lachte, während er mir beim Leiden zusah. „Ich werde dir das Leben zur Hölle machen, bis du gehst. Das hier ist das Haus meiner Mutter. Du wirst niemals ihren Platz einnehmen. Du hast zugesehen, wie sie starb, und jetzt willst du glänzen, als wäre nichts passiert.“ Sein Gesicht zeigte nichts als Hass. Nie hätte ich gedacht, dass er so werden würde. Ich hatte doch alles versucht, ihm eine Mutter zu sein. „Morgen gehe ich für immer. Dann musst du dir keine Sorgen machen“,sagte ich leise und verließ das Zimmer. Ich war erschöpft. Emotional ausgebrannt. Doch nichts bereitete mich auf das vor, was ich im Wohnzimmer sah. Mein Musikpreis lag zerbrochen auf dem Boden. Ich erstarrte. Das war das Einzige, auf das ich je stolz gewesen war. Ein Symbol all meiner Träume. Ich hatte ihn nach diesem einen großen Auftritt gewonnen – dem, den Giulia, meine Zwillingsschwester, mir ermöglicht hatte, trotz des Widerstands unseres Vaters. Mein Kiefer verkrampfte sich. „Hat dir das gefallen? Ich hab gehört, du liebst Überraschungen“,sagte Eric, seine Stimme war süß, aber giftig. Langsam drehte ich mich zu ihm um, die Wut stieg in mir auf. „Wie konntest du nur?“ fuhr ich ihn an, lauter, als ich wollte. Er zuckte zusammen. Ich sah es. Vielleicht, weil es das erste Mal war, dass ich meine Stimme gegen ihn erhob. „Du wirst das wieder in Ordnung bringen.“ Doch bevor er etwas sagen konnte, packte mich eine starke Hand und riss mich zurück. Ich wurde hart zu Boden gestoßen. Ein stechender Schmerz schoss durch meine Wirbelsäule, als ich auf die Fliesen prallte. Ich wimmerte, hielt aber den Schrei zurück. „Bist du verrückt geworden? So gehst du mit Kindern um?“ Marks Stimme war kalt, scharf wie eine Ohrfeige. Sein Blick fiel auf die Scherben des Preises. „Du machst so ein Drama wegen eines gewöhnlichen Preises?“ Gewöhnlich für ihn. Aber für mich war es eine Erinnerung. Ein Moment, an den ich mich klammerte, während um mich herum alles zerbrach. „Räum den Dreck weg“,sagte er. „Und hör auf, Ärger zu machen.“ Ich rührte mich nicht. Meine Hände zitterten, doch meine Stimme war fest: „Mark, lass uns scheiden.“
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