Kapitel 1 „Federn der Nacht”
Dunkle Federn hinterließen einen Streifen im nächtlichen Himmel, als Hyakuhei durch das tobende Gewitter flog, das er erzeugt hatte… sein Zorn formte dessen Zentrum. Blitz und Donner zeigten seine Stimmung, während der Regen das wahre Ausmaß seiner Verzweiflung verbarg. Seine größte Macht war es, durch die Autorität über die Dämonen, gegen die er kämpfte und dann in sein Wesen aufnahm, zu wachsen… aber er hatte nicht erwartet, dass der Schuss so nach hinten losgehen könnte.
Sein Ziel war ein Dämon gewesen, den er leicht überwältigen und in die Leere, zu der seine Seele geworden war, hätte aufnehmen können. Doch der Kobold hatte einen Splitter des Schützenden Herzkristalls in seinem Geist versteckt. Diese Macht hatte es dem Traumdämon erlaubt, in ihm zu überleben und nun versuchte er, sich zu rächen.
Hyakuheis schwarze Augen wurden einen Ton dunkler, als er sich fragte, ob das nicht von Anfang an die eigentliche Mission des Dämons gewesen war… ihn von innen zu zerstören. Der niedrige Traumdämon dachte, er könnte ihm… Albträume bescheren! In seiner Wut hatte Hyakuhei unabsichtlich den Kobold in seinen Körper aufgenommen, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen… nur dass er jetzt von innen gefoltert wurde.
Der Dämon besaß unkontrollierbare Macht, die Hyakuhei nicht erwartet hatte. Er besaß die Macht, die wahre Vergangenheit zu sehen, von der auch er selbst nichts wusste. Dinge, die in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort geschehen waren… alternative Realitäten. Hinter solch einer Macht hätte Hyakuhei einen der heiligen Talismane erkennen müssen.
Nun folterte der Dämon ihn mit Visionen, sobald er die Augen vor der Welt um ihn herum verschloss… Schlaf war zu einem Ort der Hinterlist geworden.
Die ungewollten Erinnerungen heizten sein Blut schmerzhaft auf und erzeugten in ihm eine Sehnsucht, die er schon lange vergessen hatte… ein Verlangen nach der braunhaarigen Priesterin, die ihm immer durch die Finger glitt. Die Begierde, die er gefühlt hatte, war nun unerträglich, eine Erinnerung an den ultimativen Betrug gerade von dort, wo er ihn nie erwartet hatte… Liebe wurde zu etwas Bösem, wenn sie einem erst einmal weggenommen wurde.
Ebenholzschwarzes Haar verdeckte sein engelsgleiches Gesicht, als er vor Wut schrie. „Wie kannst du es wagen, mir die Vergangenheit zu zeigen, wenn ich doch keine Möglichkeit habe, sie zu verändern!“ Der Klang seiner Stimme wurde von einem Donner verschluckt, der um ihn dröhnte. Das ohrenbetäubende Donnern war die Antwort auf seine Qualen, fast als wollte er ihn herausfordern weiterzumachen. Ein Blitz zuckte durch die Nacht, beleuchtete einen Moment lang sein Gesicht, sodass seine schönen Gesichtszüge erkennbar wurden.
Er war erst vor einer Stunde schweißgebadet aus seinen Träumen von ihr aufgewacht. Er hatte sie einst gehalten… sie berührt. Seine schwarzen Augen wurden schmal vor Zorn. Sie hatte zugelassen, dass er sie liebte und sie erinnerte sich nicht einmal daran. Das alleine war schon viel schlimmer als die Träume, doch sogar jetzt noch hatte sie ihre eigenen Leben, die das Schicksal wieder miteinander verwoben hatte.
Die immer wiederkehrenden Träume erreichten nie den Schluss… das Ende blieb ihm verborgen, sodass er noch mehr von dem bittersüßen, quälenden Märchen sehen und fühlen wollte. Das Schlimmste, was der Traumkobold hatte machen können, war es gewesen, ihn dazu zu bringen, sie wieder zu vermissen. Er hatte gedacht, dass er den Schmerz überwunden hatte, dass er die Kreatur, zu der er in ihrem Namen geworden war, zu schätzen gelernt hatte. Immer noch wagte er es nicht, sich ihm zu stellen, aus Angst, sich selbst in dem Schmerz seiner eigenen Seele zu verlieren.
Hyakuhei fühlte, wie sein Ärger langsam verflog, als er den gemeinen Stimmen lauschte, die in ihm flüsterten. Die unzähligen bösen Kreaturen, die in ihm eingeschlossen waren, Dämonen, die seine Befehle willig befolgten, versammelten sich um den Traumkobold… kämpften eine innere Schlacht, die nicht lange dauerte.
Der Traumdämon wurde gezwungen, sich dem Willen seines neuen Meisters zu beugen, und wenn es nur war, solange die unsichtbaren Ketten ihn halten konnten. Er wusste, der Dämon konnte ihn immer noch mit Stimmen und verführerischen Bildern quälen, aber er wusste auch, dass er die geborgte Macht nun selbst nutzen konnte, um diese Erinnerungen mit der Priesterin zu teilen.
Hyakuheis Lippen verzogen sich zu einem hämischen Lächeln, denn er wusste, er konnte nun die Macht des Traumkobolds zu seinem eigenen Vorteil nutzen. Er würde der Priesterin Träume davon schicken, was sie einst auf der anderen Seite der Zeit miteinander geteilt hatten… würde sich in ihre nächtlichen Vorstellungen einnisten und ihre Erinnerungen mit der merkwürdigen Verbindung, die sie auch in dieser Welt hatten, verknüpfen.
Seine Hand hob sich vor sein Gesicht… hielt das, was ihm helfen würde. Die Scherben des Schützenden Herzkristalls, die er gesammelt hatte, leuchteten auf, reflektierten den Blitz, der direkt über ihm zuckte. Als er zusah, wie die kleinen Kristallsplitter zum Leben erwachten, erschien ihr Bild wie ein Spiegelbild in ihnen. Sein Blick streichelte die Weichheit ihres Gesichts und ihre vollen, roten Lippen. Er würde nun zu einem Meister der Illusion werden.
„Ich werde dich wieder haben“, flüsterte er schmollend, ehe das Böse wieder in seine Stimme kroch. „Priesterin, ich werde in deinen Geist eindringen, wo du mir und den Erinnerungen an deine Vergangenheit… an unsere Vergangenheit nicht entkommen kannst!“
Die Bruchstücke des Kristalls leuchteten in seiner Hand, als ihre nun befleckte Macht die Welten und Realitäten durchquerte, um die Priesterin in ihrer eigenen Welt zu finden… wo sie schlief.
*****
Auf der anderen Seite des Herzens der Zeit lag Kyoko schlafend in ihrem schönen, warmen Bett… doch die Stille des Schlafs wurde gestört von bruchstückhaften Bildern und Geräuschen, während sie sich hin und her wälzte. Die Verwirrung verschwand, als die Geräusche und Bewegungen sich in ihrem Geist vereinigten und sie verlor sich in einem merkwürdigen Albtraum.
Kalter Schweiß brach auf ihrer Stirn aus, als der Traum fast Wirklichkeit wurde… so wirklich, dass er sie mitriss.
Kyoko konnte den entsetzten Schrei des Feindes hören, als sie bewusstlos wurde. Sie hatte alles gemacht, was sie konnte. Sie hatte Hyakuhei davon abgehalten, den Schützenden Herzkristall zu bekommen, auf die einzige Art und Weise, die ihr eingefallen war. Ihr letzter Gedanke war Traurigkeit… sie hatte den Schützenden Herzkristall zerbrochen und jetzt… konnte sie nicht mehr in ihre eigene Welt zurückgehen.
Hyakuhei sah hinunter auf das Mädchen, das seine so sorgfältig durchdachten Pläne durchkreuzt hatte. Er hatte dafür gesorgt, dass alle dachten, dass er tot war… keine Gefahr mehr darstellte, dann hatte er still in der Dunkelheit auf sie gewartet.
Er wusste, solange die Priesterin bei ihren Beschützern war, war sie zu mächtig, als dass er sich ihr nähern könnte. Also hatte er sich versteckt und seine Macht unterdrückt, sich tot gestellt, bis sie den Fehler machte, alleine zu sein. Sie würde schwach und verwundbar sein… und es ihm so ermöglichen, den Schützenden Herzkristall von ihr zu bekommen.
Es hatte alles perfekt funktioniert. Sie war alleine im Garten des Herzens der Zeit gewesen… bereit, zurück durch das Zeitportal zu gehen, weil sie dachte, dass das gefährliche Spiel nun vorbei war… das Spiel, das sie jahrelang gespielt hatten, ohne einen Sieger. Er war nur wenige Zentimeter von dem entfernt gewesen, was er mehr wollte, als alles andere.
Hyakuhei stand über der hübschen, jungfräulichen Priesterin, sein rabenschwarzes Haar floss wie Seide über seinen ganzen Körper, strich über seine Waden und flatterte leise in der Brise, die die Zerstörung des Schützenden Herzkristalls erzeugt hatte.
Er war so wunderschön wie ein finsterer Engel, aber in ihm schlugen die Herzen vieler wütender Dämonen. Er wollte die Priesterin umbringen für das, was sie gemacht hatte, aber er würde es nicht tun… konnte es nicht tun, als sein Blick über das Gesicht strich, das er liebte. Die sternschnuppenartigen leuchtenden Spuren, die beim Zerbrechen des Schützenden Herzkristalls entstanden waren, erleuchteten noch immer den Himmel wie ein Meteoritenschauer… es war zu spät.
Hyakuhei wusste, die Beschützer würden kommen, um sie zu suchen. Die Kinder seines Bruders würden wieder versuchen, sie vor ihm zu retten… und die Geschichte würde sich wiederholen. Die Himmel hatten vor Jahrtausenden ihr Schicksal besiegelt… nur um fortwährend die Möglichkeit zu bieten, dasselbe Schicksal zu verändern.
Sein engelhaftes Gesicht verzog sich zu einer gemeinen Grimasse. Die Beschützer würden ihre Priesterin diesmal nicht finden. Schnell hob er ihren schlaffen Körper hoch in seine Arme. Bisher wusste noch niemand, dass er am Leben war, und im Moment würde er diesen Umstand so belassen. Er würde sie nicht verletzen… stattdessen beschloss Hyakuhei… diesmal… würde er sie behalten.
Nachdem er seine böse Aura wieder verborgen hatte, nutzte er seine Macht und öffnete eine kleine, schwarze Leere und trat hinein, nahm Kyoko mit sich durch das Tor. Das Portal schloss sich geräuschlos hinter ihnen… verschluckte alle Hinweise auf die Wahrheit. Wenn die Beschützer kamen, um sie zu suchen, würden sie einfach denken, dass sie nach Hause gegangen war und sie im Land der Dämonen zurückgelassen hatte.
Kyoko erwachte ruckartig in ihrem Bett und fragte sich, woher der Traum gekommen war. Sie durchsuchte das Zimmer mit dem Blick ihrer verängstigten, smaragdgrünen Augen, um sicherzugehen, dass es nicht wahr gewesen war… dass Hyakuhei nicht da war. Sie konnte noch immer fühlen, wie er sie berührte, aber merkwürdiger Weise vermisste sie diese Berührung. Doch gleichzeitig wollte sie die Erinnerung daran auslöschen. Verwirrt zog sie die Decke fest um sich.
Nachdem sie der Stille des Hauses eine Weile gelauscht hatte, wusste Kyoko, dass sie nicht mehr schlafen können würde, und machte den größten Fehler ihres jungen Lebens… sie beschloss, mitten in der Nacht zurück in die Dämonenwelt zu gehen. Erst wenn sie bei den Beschützern war, würde sie sich wieder sicher fühlen.
Nur wenige Minuten später fand sie sich selbst auf der anderen Seite des Herzens der Zeit wieder und sie schaute sich auf der Lichtung um, die die Jungfernstatue umgab. Sie seufzte, als sie endlich so weit wie nur irgendwie möglich weg von dem Bett und dem Albtraum war. Dennoch konnte sie den Traum noch immer fühlen, als würde er nur darauf warten, dass sie wieder einschlief.
Er suchte sie in den hintersten Winkeln ihres Geistes heim, quälte sie mit Bildern, die zu real waren, um sie einfach zu vergessen. Kopfschüttelnd holte sie tief Luft und genoss die Vertrautheit ihrer Umgebung.
Riesige, weiße Felsbrocken ragten aus dem Boden, erinnerten an das prächtige Schloss, das einst den Garten, der als das Herz der Zeit bekannt war, beherbergt hatte. Der Wind rauschte leise durch die Äste der umliegenden Bäume, schenkte der stillen Finsternis eine sanfte Melodie.
Als sie einen Blitz in der Ferne sah, richtete Kyoko ihre smaragdgrünen Augen nach Osten. Sie zitterte, fragte sich, wie etwas so Schönes… so gefährlich sein konnte. Sogar im dunklen Nachthimmel konnte sie die Wolken erkennen, die die Sterne verdeckten. Der Blitz tanzte wie spinnenartige Finger durch die Wolken, sodass das ferne Gewitter fast beängstigend wirkte.
Kyoko blinzelte, als sie sah, wie der Blitz sich an einem Ort in den Wolken konzentrierte. Er wurde zu einer kleinen Lichtkugel, ehe er explodierte wie eine riesige Wunderkerze. Das Phänomen überraschte sie nicht... nachdem sie schon viel erschreckendere Dinge gesehen hatte als Wolken und Blitze. Was sie verwunderte, war, dass es immer wieder am gleichen Ort passierte.
„Was mache ich hier eigentlich?“, fragte sie die Statue der Priesterin, die ihr so ähnlich sah, aber wusste, sie würde keine Antwort erhalten. Die wütenden Wolken des nahenden Gewitters waren noch nicht so weit gekommen und das Mondlicht schien wie ein Scheinwerfer herunter auf den Jungfernschrein.
Kyoko trat näher, betrachtete die fein gearbeiteten Details der Statue und fragte sich zum hundertsten Mal, wie es sein konnte. Sie sahen einander so ähnlich… sie und die Statue… aber sie war vor über tausend Jahren in dieser Welt gefertigt worden… nicht in ihrer. Wieder fragte sie sich, wer sie hierhin gestellt haben könnte und wieso? Wie konnte ein Bildhauer ein Gesicht in Stein meißeln, das noch nie jemand gesehen hatte, bevor es erzeugt worden war?
Kyoko seufzte wieder und überlegte noch einmal, was sie eigentlich machte. Es war fast Mitternacht und sie hatte den Beschützern gesagt, dass sie erst am Morgen zurückkommen würde. Doch als sie in ihrem weichen Bett in ihrer relativ sicheren Welt gelegen hatte, hatte sie nicht schlafen können, weil ein sechster Sinn ihr gesagt hatte, dass etwas geschehen sollte. Ob dieses Etwas gut oder schlecht war, das wusste sie nicht… und die Träume vom Feind halfen auch nicht.