KAPITEL DREI

1544 Words
KAPITEL DREI Am nächsten Morgen erwachte Keira mit Rückenschmerzen. Sie blinzelte und sah sich desorientiert um. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie verstand, wo sie sich befand. Nicht in Milos oder ihrem eigenen Zimmer bei ihrer Mutter, sondern in ihrer ganz neuen eigenen Wohnung. Leider war das Einzige, was sich gegenwärtig darin befand, eine Matratze. Noch nicht einmal ein Bettgestell, deshalb auch die Rückenschmerzen. Keira schaffte es, sich aus dem Bett zu hieven. Die einzigen Kleidungsstücke in ihrem neuen Apartment waren die in ihrem Koffer. Glücklicherweise hatte Yolanta darauf bestanden, während der Weihnachtsferien alle ihre Sachen zu waschen, sodass sie jetzt wenigstens saubere Kleidung hatte, die sie tragen konnte. Sie wählte das arbeitstechnisch passendste Outfit aus ihrer Auswahl von Wollröcken und bequemen Jeans und ging dann hinaus auf die Straßen von New York City. Sobald ihre Füße den Gehweg berührten, überkam sie ein Gefühl von Heimat. Sogar der Geruch der Luftverschmutzung beruhigte sie, obwohl es ein völliger Kontrast zu der klaren, sauberen Bergluft war, die sie in Schweden geatmet hatte. Sie ging zu einem Kaffeewagen an der Straßenseite und reihte sich in die Schlange verschlafen aussehender Arbeiter ein, die alle auf ihre Telefone starrten. „Ich nehme einen doppelten Espresso“, sagte sie zu dem Mann, als sie endlich an der Reihe war. Dann hielt sie inne. Sie hatte wochenlang den extra starken schwedischen Kaffee getrunken. Vielleicht war es an der Zeit für eine Veränderung. „Moment, kann ich bitte doch lieber einen Karamell Latte mit Sahne haben?“ Der Mann schenkte ihr einen müden, unbeeindruckten Blick und Keira grinste. „Ich bin gerade aus dem Urlaub zurück. Ich möchte, dass mein Kaffee wie zu Hause schmeckt.“ „Gut für dich“, sagte er in einer trockenen, unbewegten Stimme. Als sie auf ihren Kaffee wartete, bewegten sich die Leute, die auf der anderen Seite des Wagens Zucker zu ihrem Kaffee hinzufügten, etwas zur Seite. Zum ersten Mal bemerkte Keira, dass es dort einen Stand mit Zeitungen und Magazinen gab und mitten drin, lag die letzte Ausgabe von Viatorum. Genau wie Nina es erklärt hatte, war das Titelbild geändert worden und es zeigte jetzt eine der originalen Aufnahmen des Models, die sie von Anfang an geplant hatten zu benutzen. Es war eine Erleichterung zu wissen, dass man ihr zugehört hatte, aber sie fühlte einen Anflug der Angst, weil sie wusste, dass sie heute ihren schwedischen Artikel abgeben würde. Sie hatte keinerlei Ahnung, wie Elliot auf das Ende reagieren würde. Nachdem Keira ihren Kaffee ausgetrunken hatte, begab sie sich in Richtung U-Bahn. Glücklicherweise war ihre neue Wohnung vom Büro aus gut erreichbar und es war keine lange Fahrt. So dicht an dicht mit so vielen Menschen zusammengepresst zu sein, sorgte sie daher nicht so sehr, als wenn sie von der Wohnung ihrer Mutter aus fahren musste. Sie schaffte es zur anderen Seite und lief die kurze Distanz zum Viatorum Hauptsitz. Gerade als sie das Bürogebäude sah, hörte Keira, wie ihr Telefon mit einer SMS-Nachricht piepste. Sie sah nach und die Nachricht war von Bryn. Kannst du heute zum Abendessen zu Mom kommen? Felix und ich möchten ein paar Neuigkeiten teilen. Keiras Mund öffnete sich, als ihre Gedanken sofort zum Thema Heirat schweiften. Ihre Schwester würde doch sicherlich nicht so schnell diesen Schritt mit Felix gehen? Sie waren doch buchstäblich gerade eben erst zusammengezogen! Keira tippte schnell ihre Antwort, die lautete, sie würde da sein. Dann steckte sie ihr Telefon weg – gemeinsam mit all den Gedanken, welches wohl Bryns Neuigkeiten sein könnten – und begab sich ins Büro. Es war bereits sehr geschäftig darin. Seitdem Lance begonnen hatte, haufenweise neue Studenten und Praktikanten einzustellen – etwas, dass Elliott nicht sonderlich gefiel – war das Büro zunehmend geschäftiger geworden. Aber weil es sich in einem großen, offenen, umgebauten Lagerhaus befand, wurde der Geräuschpegel noch zehnfach verstärkt. „Hallo Keira“, rief jemand und sie sah hinüber zu Meredith, die ihr zuwinkte. Keira hatte Merediths Versuch, ihr heimlich ihren letzten Auftrag zu stehlen noch nicht vergessen, also begrüßte sie sie etwas eisig: „Guten Morgen.“ Sie suchte zwischen den Gesichtern nach jemandem, den sie kannte und sah Nina. Aber noch bevor sie die Chance hatte zu ihrer alten Freundin hinüberzugehen, stürmte Elliot aus seinem Büro. Er trug einen leuchtend roten Anzug und seine Stirn lag in tiefen Falten. „Endlich!“, brüllte er, lief schnurstracks auf Keira zu und zog sie an ihrem Ellenbogen. Das gesamte Büro drehte die Köpfe, um zu sehen, wie Keira von Elliot in sein Büro geschoben wurde. Ihre Wangen brannten so rot wie sein Anzug. „Endlich was?“, fragte Keira aus ihrem Mundwinkel, als er sie halb durch den Türrahmen zog. „Endlich bist du hier!“, rief Elliot. Sie kamen zu seinem Büro und er knallte die Tür hinter ihnen zu. „Was ist mit der Regel, die Türen offenzulassen?“, stichelte Keira. Es war eine von vielen lockeren Regelungen, die Lance eingeführt hatte, als er das Magazin gekauft hatte. „Vertraue mir, du wirst froh sein, dass die Tür zu ist“, schimpfte Elliot. „Bin ich in irgendwelchen Schwierigkeiten?“, fragte Keira und verschränkte ihre Arme. Sie genoss es wirklich nicht, so durchs Büro geschoben zu werden und sie konnte den Ton in dem Elliot mit ihr sprach definitiv nicht leiden. Er drehte sich ihr mit verschränkten Armen zu. „Ich habe dir doch gesagt, der Abgabetermin ist endgültig. Und trotzdem gehst du zu weit. Versuchst du mir eine Lungenembolie zu verpassen?“ „Ich gehe zu weit? Was meinst du denn damit?“, antwortete Keira verwirrt. „Du hast mir bis heute Zeit gegeben. Und es sei denn, ich täusche mich hier irgendwie, ist heute heute!“ Elliots Grimasse verzog sich sogar noch mehr. „Bitte werde nicht frech, Keira. Du weißt ganz genau, dass die Drucker den Artikel spätestens um neun Uhr haben müssen. Und es ist viertel vor neun.“ Keira schnappte nach Luft. Sie hatte nicht gewusst, dass Elliot mit endgültigem Abgabetermin meinte, dass es direkt in den Druck ging! Normalerweise würden ihre Artikel mindestens durch zwei Runden Nachbearbeitung von Nina gehen, bevor sie gedruckt wurden. „Es tut mir leid“, stammelte sie. „Ich habe es missverstanden.“ Elliots Augenbrauen waren zusammengezogen. Er wollte es nicht hören. Er streckte seine Hand mit der Handfläche nach oben zu ihr aus. „Gib mir den Artikel. Der sollte besser gut sein. Denn jetzt liegt alles an dir, Keira. Hundertprozentig nur deine Worte. Hundertprozentig deine Verantwortung.“ Sie schluckte, als das Gewicht davon einsank. Könnte sie wegen dieses Artikels gefeuert werden? Könnte dieser Artikel das Magazin ruinieren? Keira wühlte schnell in ihrer Tasche und zog den Ausdruck des Artikels heraus, gemeinsam mit dem USB-Stick, auf dem sie das Original gespeichert hatte. Elliot griff nach dem Ausdruck ihres Artikels und ließ sich in seinen Stuhl sinken. Keira sah ihm nervös zu, wie er ihre Worte las. Die Zeit schien sich ins Unendliche auszudehnen. Keira blickte über ihre Schulter und sah, dass die restlichen Leute im Büros zu ihr hinüberschauten, manche von ihnen mit zurückhaltenden Blicken von ihren Schreibtischen aus, andere gafften schamloser, wie sich alles entwickelte. Ihr Magen war aufgewühlt. In seinem Bürostuhl, ein Bein steif über das andere geschlagen, die Augenbrauen zusammengezogen, blätterte Elliot nun auf die letzte Seite. Dies war der Teil, den außer Keiras Augen, bisher noch niemand gesehen hatte, der Teil, an dem sie auf ihrem Rückflug von Schweden gearbeitet hatte. Elliots Augen flogen von links nach rechts. Keiras Unbehagen wuchs mehr und mehr und Elliots Kiefer wurde immer angespannter. Endlich blickte er mit geweiteten Nasenlöchern auf. „Was zum Teufel ist das!“ Keira schreckte hoch. Sie hätte sich keine schlimmere Sache vorstellen können, die er dazu sagen könnte. „Was stimmt damit nicht?“, fragte sie und versuchte in Gedanken, irgendwelche offensichtlichen Fehler zu finden. Hatte sie aus Versehen einen falschen Ländernamen benutzt: Schweiz, vielleicht, anstelle von Schweden? „Was damit nicht stimmt?“, wiederholte Elliot und wurde noch irritierter. „Was nicht stimmt, ist, dass du eine Romantik-Autorin bist, die kein verdammtes romantisches Ende schreiben kann! Julia hat Romeo nicht verlassen! Lizzy Bennet hat Mr. Darcy nicht am Flughafen zurückgelassen! Und Catherine hat es mit Heathcliff nicht einfach im Sande verlaufen lassen!“ „Man muss fairerweise sagen, dass keines dieser speziellen Beispiele besonders gesunde romanti –“ „Das ist mir egal!“, schnappte Elliot und unterbrach sie. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber Romantik ist nicht unbedingt meine starke Seite. Aber sogar ich weiß, dass die zwei Hauptfiguren nicht einfach reif miteinander Schluss machen! Bei Shane gab es die ganze Geschichte mit dem toten Vater. Gold! Cristiano war der verschmähte Schürzenjäger! Zauberhaft! Aber Milo? Milo … was … driftet einfach davon?“ Keira musste hart schlucken. Sie konnte sich nicht wirklich selbst verteidigen. „Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Es ist die Wahrheit und ich denke, meine Leser wissen das zu schätzen. Ich konnte nicht lügen, wie die Skandinavier ihre Beziehungen angehen oder darüber, was ich gelernt habe, als ich dort war.“ Elliot schüttelte den Artikel. „Du hast buchstäblich hier geschrieben, dass das, was du mit Milo hattest, nicht mit Worten beschrieben werden kann! Keira, dein ganzer Zweck ist es, über Beziehungen zu schreiben und du nennst es noch nicht einmal beim Namen!“ Er atmete tief durch und sein Kopf versank in seinen Händen. „Die Leser werden es hassen.“ „Ich stimme dir nicht zu“, antwortet Keira mutig. „Ich habe meine Leser überall auf der Welt getroffen. Sie wollen die Wahrheit. Sie respektieren meine Ehrlichkeit.“ Aber Elliot hört nicht zu. „Wir haben keine Zeit, es umzuschreiben. Wir sind zum Scheitern verurteilt.“ „Ich kenne meine Leser“, sagte Keira noch einmal intensiver. „Du wirst mir vertrauen müssen.“ Und als sie sah, dass Elliot noch immer vor sich hin murmelte und ihr keinerlei Beachtung schenkte, haute sie mit ihrer Faust auf den Tisch. Er zuckte erschrocken zusammen. „Vertraue mir“, sagte Keira noch einmal ernst durch ihre Zähne. „Ich weiß, was ich tue.“ Elliot starrte sie eine lange Zeit still an. Endlich sagte er etwas: „Hoffentlich hast du recht.“
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