Kapitel 02

1358 Words
Wir lebten in einer kleinen Stadt weit im Norden namens Schakdorf. Die Bevölkerung war nicht sehr groß, aber sie wuchs von Tag zu Tag. Es gab zwei Schulen, eine für Kinder und eine für Erwachsene. Die nächstgelegene Hochschule oder Universität war etwa vierzig Minuten von der Stadt entfernt. Das Wetter war hier immer schrecklich: Stürme, Regen und heftige Winde Tag und Nacht. Die Sonne schenkte uns kaum Wärme. Meine Mutter parkte ihr Auto in der Nähe des Schuleingangs, und ich sprang hinaus, nachdem ich mich von ihr verabschiedet hatte. Hunderte von Schülern strömten durch die Tore und betraten die Schule. Ich war im letzten Semester meines Abschlussjahres. Nur noch ein paar Monate, dann würde ich die Schule beenden. Meine Mutter plante, mich an die nahegelegene Universität zu schicken, aber ich zweifelte daran, da sie sich immer um mich sorgte, seit ich ein Kind war. Sie war besitzergreifend, wollte mich immer in ihrer Nähe haben. Sie machte sich Tag und Nacht Sorgen um meine Sicherheit und verbot mir, nach sieben Uhr abends das Haus zu verlassen. Ich betrat die Highschool und drängte mich durch die Menge, bevor ich meinen Spind erreichte und ihn öffnete. Kaum hatte ich ihn aufgezogen, tauchte Josie aus dem Nichts auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Spind neben meinem. „Guten Morgen,“ sagte sie mit einem breiten Lächeln. Freude lag auf ihrem Gesicht. „Morgen.“ „Schlechte Nacht?“ fragte sie. „Wie immer,“ seufzte ich und zog meine Bücher aus dem Spind, bevor ich ihn zuschlug. Mit den Büchern an meine Brust gedrückt, ging ich mit Josie, meiner einzigen besten Freundin, durch die Schulgänge. Es war acht Uhr morgens, und ich hatte nicht genug Schlaf bekommen, um heute zu lernen, aber ich musste es trotzdem tun. „Was ist passiert?“ fragte sie besorgt, als wir in unseren ersten Unterricht gingen und unsere Plätze nebeneinander einnahmen. Der Geschichtslehrer kam meistens ein paar Minuten zu spät, sodass die Schüler sich in Ruhe vorbereiten konnten. „Ein weiterer Traum,“ flüsterte ich, während ich meine Bücher auf den Tisch legte und mich dann meiner Freundin zuwandte. Josie war immer da, um sich meine schrecklichen Träume und Albträume anzuhören. Seit einem Jahr hatte ich sie nun schon. Ich dachte, sie würden irgendwann aufhören, aber ich lag falsch. Mein ganzes Jahr war durch die Albträume durcheinandergeraten, ich konnte mich weder in der Schule noch zu Hause richtig konzentrieren. Die meisten Nächte verbrachte ich wach, und das ganze Jahr über hatten meine Augen gerötet und geschmerzt. Wann würde das jemals aufhören? „Oh, das ist schlimm. Was hast du diesmal gesehen? Dasselbe wie immer?“ fragte sie und stützte ihren Kopf auf eine Hand, während ihr Ellbogen auf dem Tisch ruhte. „Ja. Ich erinnere mich nur an Stimmen,“ antwortete ich und senkte meinen Blick, um etwas anderes anzusehen. Ich wollte ihr nicht erzählen, was ich gehört hatte, weil ich mich zu sehr schämte, es auszusprechen. Die Worte, die die Männer jede zweite Nacht in meinen Träumen flüsterten, waren auf eine Art und Weise beängstigend, die schwer zu beschreiben war. Wenn ich jemandem davon erzählen würde, würden sie mich auslachen, selbst meine beste Freundin. Für sie wäre es nicht furchteinflößend, aber für mich war es das. Jedes Wort, das diese Stimme aussprach, jagte mir einen kalten Schauer über den Rücken. „Was hast du gehört?“, fragte Josie, genau das, was ich am meisten fürchtete. Ich schüttelte den Kopf. „Ich erinnere mich nicht... nur an ein paar Bruchstücke“, erklärte ich und hoffte, dass ich ihr nichts von der Stimme und dem, was sie sagte, erzählen müsste. „Das ist okay. Du solltest dir von deinem Therapeuten Schlaftabletten verschreiben lassen. Vielleicht helfen sie dir, richtig und tief zu schlafen, ohne Albträume zu haben“, schlug sie besorgt vor. „Das habe ich schon einmal versucht. Die Tabletten haben mir nicht gutgetan“, antwortete ich, während meine Gedanken zu den ersten Monaten zurückwanderten, in denen ich die Therapeutin besucht hatte. Frau Harmony. Sie war eine großartige Frau, Ende vierzig, und sie half mir so gut sie konnte, aber es brachte kaum etwas. Meine Mutter gab Hunderte und Tausende Euro aus, um mich zweimal die Woche zur Therapeutin zu bringen, doch es war alles umsonst. Aber das konnte ich meiner Mutter nicht sagen. Sie glaubte, dass es eines Tages wirken würde und ich zu meinem normalen Selbst zurückkehren würde. Was die Schlaftabletten betrifft, so hatten sie überhaupt nicht geholfen. Sie verschlimmerten alles und verlängerten meine Albträume für Stunden, manchmal die ganze Nacht hindurch, und das Schlimmste daran war, dass ich nicht aufwachen konnte. Wenn ich schließlich doch aufwachte, Stunden später, war ich schweißgebadet und den Tränen nahe. Das Gespräch zwischen Josie und mir dauerte nur noch ein paar Minuten, bevor Herr Carson mit dem Geschichtsunterricht begann. Wir lernten gut vierzig Minuten lang, bis die Glocke läutete und sich alle Schüler in die Schulflure zerstreuten. Josie und ich waren beste Freundinnen, seit wir Kinder waren, obwohl unsere Eltern nicht gut miteinander auskamen. Meine Mutter verabscheute ihre Mutter, erlaubte mir aber, mit ihrer Tochter befreundet zu sein. Fünf Minuten später begann die nächste Stunde, und die Flure leerten sich in wenigen Minuten. Ich nahm meine Bücher und verschwand in die Waschräume, um meinen Geist für ein paar Minuten zu beruhigen, bevor ich zum Unterricht ging. Stille breitete sich in der Schule aus. Das Stimmengewirr und alle lauten Geräusche verstummten. Die Flure waren völlig leer, da alle Schüler ihre Klassenräume, auch Josie, betreten hatten. Ich spritzte mir warmes Wasser ins Gesicht und rieb mir langsam die Augen. Als ich den Kopf hob, starrte ich mein Spiegelbild an. Meine Augen waren gerötet, und die Augenringe darunter wurden von Tag zu Tag größer. Ich runzelte die Stirn bei meinem Anblick, drehte das Wasser ab und ging zur Tür, um den Waschraum zu verlassen. Gerade als meine Hand sich um den Türknauf legte, hallte eine Stimme in meinen Ohren wider, und mein Herz setzte einen Schlag aus. „Wer ist da?“, fragte ich. Niemand war da. „Sag mir, wo du bist, damit ich dich finden kann.“ Die Stimme kam mir bekannt vor. Sie war dieselbe, die mich in meinen Träumen seit einem ganzen Jahr verfolgte. Es war derselbe Mann. Aber ich schlief nicht. Mein Herz schlug heftig. Ich schnappte nach Luft und machte einen Schritt von der Tür zurück. Die Haare auf meiner Haut stellten sich auf, und ich bekam eine Gänsehaut. Was geschah hier? Ich drehte mich um und machte eine vollständige Runde durch den Waschraum, um die Quelle der Stimme zu finden, aber da war niemand außer mir. „Jetzt machst du dich nur über mich lustig.“ Ich atmete tief ein und presste meine Lippen zusammen, als mir die Tränen in die Augen stiegen. Die Stimme war in meinem Kopf. Sie war nicht real. Sie war nur in meinem Kopf. Ich musste hier raus, bevor es noch schlimmer wurde. Schnell öffnete ich die Tür zum Waschraum und schaute zu beiden Seiten, bevor ich durch den leeren Flur rannte und in Richtung meines Klassenzimmers eilte. Ich öffnete die Tür zum Klassenzimmer, und alle starrten mich entsetzt an. „I, ich bin entschuldige mich. Ich war im Waschraum“, sagte ich schnell zu Frau Vera, unserer Biologielehrerin. Sie lächelte und nickte, bevor sie die Tür hinter mir schloss und mich in die Klasse ließ. Ich bedankte mich stumm bei ihr und setzte mich neben Josie im Labor. „Was ist passiert?“, fragte sie, ohne eine Sekunde zu zögern. Ich wusste es nicht. Ich wusste selbst nicht, was gerade geschehen war. Eine Stimme war in meinem Kopf aufgetaucht, die Stimme eines Mannes. Derselbe Mann aus meinen Träumen war jetzt in meinem Kopf, und ich konnte ihn nicht mehr loswerden. Waren die Albträume nicht schon schlimm genug? Warum musste er jetzt auch noch in meinen Kopf eindringen? Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar und strich es aus meinem Gesicht. Ich konnte mich auf nichts anderes konzentrieren, aber seit ich im Klassenzimmer war, hatte ich seine Stimme nicht mehr gehört. Vielleicht war es vorbei. Vielleicht war er weg.
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